Dortmund/Düsseldorf. Das Zeugnis der neuen Fachoberschule hat die Dortmunderin, jetzt studiert sie „Kommissarin“. Warum ihr dazu fast ein Zentimeter fehlte.

Noch nicht einmal volljährig, aber bald Polizistin: Leni Vogelgesang aus Dortmund hat es (fast) geschafft. Mit 14 beworben, mit 16 an der neuen Fachoberschule der Polizei, mit 17 Studentin zur Kommissarin. Zum 1. September gibt es den „Dienstantrittsbescheid“ und dann alsbald die Uniform. Am heutigen Mittwoch (3. Juli) haben die allerersten Absolventen des NRW-Schulversuchs ihre Zeugnisse bekommen, gleich zwei Minister gratulierten persönlich. Dabei war die Politik lange skeptisch, ob ein Fachabitur reicht, um Polizist zu sein.

Ein paar sind gerade auf Mallorca, davor haben sie eine Party gefeiert, ohne Eltern. Was Abiturienten so machen, wenn sie ihre Noten haben. Ein Durchschnitt von 2,8 steht auf Lenis Zeugnis, auf dem von Leon Drees sogar 1,5. Zwei von 29, die vom Dortmunder Konrad-Klepping-Berufskolleg aus in wenigen Wochen ins Duale Studium starten. Nur einer aus ihrem Jahrgang hat sich doch umentschieden, damit ist die Erfolgsquote „höher als an normalen Schulen“, freut sich Jahrgangsbetreuer Tim Groesdonk. Ein Studienplatz ist der Preis, den das Land ausgelobt hatte für alle, die sich für die Fachrichtung „Polizeivollzugsdienst“ entschieden.

Leni und Leon vor einem Jahr: Damals steckten sie mitten im Praktikum, jetzt haben sie den Studienplatz.
Leni und Leon vor einem Jahr: Damals steckten sie mitten im Praktikum, jetzt haben sie den Studienplatz. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Reul: „Nicht nur Gymnasiasten können gute Polizisten sein“

Geht gar nicht, hatte die Politik lange behauptet, aber die Personalnot zwang sie zum Umdenken: Seit Sommer 2022 reicht auch ein mittlerer Schulabschluss für die Polizeilaufbahn im gehobenen Dienst. Auch in Haupt-, Real- und Gesamtschülern mit Mittlerer Reife, musste Innenminister Herbert Reul damals einräumen, schlummere „Polizei-Potenzial“. „Nicht nur Gymnasiasten können gute Polizisten sein.“ Dabei kannte er Leni noch gar nicht, die von der Realschule kommt, und Leon, der von der Gesamtschule wechselte.

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Mit 16 schon Polizeischülerin – so hat Leni es geschafft

Für Leni Vogelgesang, das erzählte sie dieser Zeitung schon im Mai vor einem Jahr, war das der Weg, den sie gesucht hatte. Seit dem Kindergarten schon wollte sie Polizistin werden, es liegt in der Familie. Sie muss die baldigen „Kollegen“ an den Fingern abzählen: „Mama, Papa, meine Patentante und ihr Mann, ein Onkel...“ Die 17-Jährige kennt es nicht anders, sie spielte als Kind mit ihren abgelegten Uniformen. Die waren damals noch grün. Einen Vorteil, glaubt sie, hat sie dadurch nicht. „Meine Eltern haben zu Hause nie etwas erzählt.“

Fast hätte Leni ein Zentimeter gefehlt, um Polizistin zu werden

Leni musste sogar extra kämpfen. Bei ihrer Bewerbung war die aktive Sportlerin noch zu klein, 1,62 Meter, sie musste beim schwierigen Auswahlverfahren – Sport, Konzentrations- und Stresstest, Vortrag halten, Rechtschreibung – noch besser sein als die anderen. Zuletzt haben sie zu Hause immer wieder mit dem Zollstock gemessen, Leni trainierte schon für den „Mindestgrößentest“. Zusätzlich zu den Abi-Prüfungen hätte sie eine 70 Kilo schwere Puppe in 20 Sekunden 30 Meter weit schleppen müssen, in einer Minute dreimal um einen Tennisplatz laufen, auf einen Kasten springen, der höher ist als sie selbst... Es blieb ihr erspart. 1,63 Meter ergab die offizielle Messung, das passt genau.

Fahren noch verboten: Das Fahrtraining beginnt erst später im Studium, dabei hat zumindest Leon schon den Führerschein.
Fahren noch verboten: Das Fahrtraining beginnt erst später im Studium, dabei hat zumindest Leon schon den Führerschein. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Leon Drees ist schon lange groß genug, ein langer Kerl, Handballer, er verzichtete für die Polizeioberschule auf das Abitur. Seinen 18. Geburtstag hat er schon gefeiert, Streifenwagen fahren darf er aber immer noch nicht. Das Fahrtraining beginnt erst spät im Studium, und „Verfolgungsfahrten“, mit dem Gerücht haben seine Lehrer früh aufgeräumt, „werden sowieso nicht trainiert“. Nur Schnellfahrten. Zukunftsmusik.

Wie die Fachoberschule als Regelschule. Bis 2029 bleibt sie noch ein Versuch des Landes, immerhin an inzwischen 15 Standorten (darunter Bochum, Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen, Recklinghausen), andere sind zweizügig geworden. Denn die Nachfrage ist groß: Im ersten Jahr bewarben sich laut Reul knapp 2500 Jugendliche, 2023 fast 3000, in diesem Jahr schon mehr als 4000, dabei läuft die Frist noch. Rund 300 haben nun erstmals erfolgreich abgeschlossen.

Rollenspiele mit Schlagstöcken und Streifenwagen

Am liebsten mochten beide, auch Leon, das erste Schuljahr mit seinen Praktika. Wach- und Wechseldienst, Einsatztraining, Schnuppertage bei Sanitätsdienst oder Amtsgericht. „Praktikum“ stand auf ihrer Weste, aber „sie wurden als Polizisten wahrgenommen“, sagen die Ausbilder. Leon erinnert sich, wie er beinahe seine erste Leiche gesehen hätte, drei Wochen sollte sie schon in einer Wohnung liegen. Aber der Schreck war ein anderer: Der Mann öffnete putzmunter die Tür.

Sie mochten auch die Übungen mit den Profis: Rollenspiele, bei denen sie Fahrzeugkontrollen übten oder mit Schlagstöcken trainierten (eine Schusswaffe hatten sie bislang nur als Attrappe in der Hand). Oder den Tag, als sie sich im Gebüsch versteckten und in einem Streifenwagen, um eine Aufgabe zu erfüllen. „Wir haben natürlich versucht“, sagt Leon, „da mit Taktik ranzugehen.“

Erstmal Wach- und Wechseldienst: Das möchten auch Leni und Leon gern machen.
Erstmal Wach- und Wechseldienst: Das möchten auch Leni und Leon gern machen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Aber auch das zweite Jahr hat ihnen gefallen. Den Lehrern am Kolleg übrigens auch, sie hatten ja noch kein Vorbild für den neuen Unterricht. Sie ließen die Schüler in Mathe ausrechnen, wie wahrscheinlich die Aufklärung eines Falles ist, und werteten gemeinsam Kriminalitätsstatistiken aus. Sie kamen „mit echten Akten“ in die Klasse oder in Biologie mit dem Spurensicherungskoffer, sie erklärten in Deutsch, wie eine Ermittlungsakte aufgebaut ist, und in Wirtschaft, wie die Polizei ihre Beschaffung organisiert.

„Es wird nicht einfacher, Polizeibeamter zu sein“

Mit diesem Stundenplan, auf dem auch Recht und Staatslehre stehen, gehen die jungen Leute mit einem Vorteil ins Studium, glaubt Betreuer und Hauptkommissar Groesdonk. Sie springen hoffentlich auch nicht mehr ab. Wer schon zwei Jahre Kolleg hinter sich habe, sei „extrem motiviert“. Und hat intensiv nachgedacht über den Polizeiberuf. „Wenn ich zum Beispiel beleidigt werde, muss ich damit umgehen können“, sagt Leon. „Es wird nicht einfacher, Polizeibeamter zu sein“, bestätigt Sprecher Joshua Pollmeier. „Man hat mit Not und Elend zu tun, da gehört viel Mut und Respekt zu.“ Aber die von der Fachoberschule kommen, „gehen nicht unvorbereitet in den Streifendienst“.

Jahrgangsbetreuer Tim Groesdonk hat die ersten Fachabiturienten in Richtung Polizeistudium entlassen.
Jahrgangsbetreuer Tim Groesdonk hat die ersten Fachabiturienten in Richtung Polizeistudium entlassen. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Pollmeier pflegt Interessenten bei Berufsberatungen offen zu sagen, dass die Polizei dann gerufen wird, „wenn andere flüchten“. Dass es passieren kann, beschimpft zu werden, dass Früh-, Spät- und Nachtdienst anstehen. Er möchte nicht, dass jemand überrascht wird von der Wirklichkeit. Leni und Leon aber haben auch die Einblicke in der Schule nicht abhalten können. Im Gegenteil. Sie wollen weiterhin „Menschen helfen“, für Gerechtigkeit sorgen, sagt Leon, der damit gerne klein anfängt: „Verkehrsunfallflucht ist auch schon eine Straftat.“

>>INFO: HIER LANG GEHT ES ZUR POLIZEI

Mit Mittlerer Reife: Infos zur Fachoberschule Polizei gibt es unter next-level-polizei.de. Dort kann sich jeder gleich online bewerben. Oder sich an den nächstgelegenen Standort wenden: Im Ruhrgebiet sind das bislang Bochum, Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen und Recklinghausen; auch Düsseldorf, Köln und Münster sind unter 15 Berufskollegs dabei. Die zweijährige Ausbildung führt zum Fachabitur, das wiederum zum Polizeistudium berechtigt.

Mit Abitur: Infos zum Dualen Studium zur Polizeikommissarin oder zum Polizeikommissar gibt es unter genau-mein-fall.de. Studienorte der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung sind im Ruhrgebiet Gelsenkirchen, Herne, Dortmund, Duisburg und Hagen. Die dreijährige Ausbildung mit dem Abschluss Bachelor of Arts beginnt jeweils am 1. September und wird bereits vergütet. Bewerbungen ganzjährig.