Neuss/Münster. Darf eine Frau aus Arnsberg vollverschleiert Auto fahren? Die erste Ausnahmegenehmigung dieser Art ist nun wahrscheinlicher geworden.

Schleier am Steuer – darf man das? Es ist wahrscheinlicher geworden nach diesem Urteil vom Freitag: Miriam Mohammad aus Neuss könnte die erste Frau in Deutschland werden, die eine Ausnahmegenehmigung für das Autofahren mit Niqab bekommt. Mit diesem Gesichtsschleier darf bislang nur eine Frau aus Kiel fahren – aber nur ein mofaähnliches Gefährt. Die Neusserin hat zwar keinen Anspruch auf die Genehmigung, stellte das Oberverwaltungsgericht Münster fest, aber die Bezirksregierung Düsseldorf muss Mohammads Antrag noch einmal prüfen. Und viele Gründe für eine erneute Ablehnung bleiben ihr nicht mehr nach diesem Urteil.

„Für mich ist es ein Stück Freiheit, zu entscheiden, wem ich mein Gesicht zeige“, sagt Miriam Mohammad. Sie ist 46 Jahre alt, geboren in Arnsberg in eine Einwandererfamilie, hat ein BWL-Studium begonnen und danach bei einer Hilfsorganisation gearbeitet. Vor neun Jahren beschloss sie, sich zu verhüllen. „Es war ein Prozess, das Kleid wurde zur Hose, die Ärmel wurden länger.“

Sie hatte Bekannte, die sich ebenfalls komplett verhüllten, einer bestimmten Schule des Islam oder einem Prediger hängt die Sunnitin nach eigener Aussage nicht an. „Die Verhüllung hat sich einfach besser angefühlt.“ Am Freitag trägt sie einen Vollschleier aus schwarzer Medina-Seide, dazu die passenden Handschuhe, ein goldfarbenes Medaillon an der Schläfe ist der einzige Schmuck. Ihre Augen liegen so weit frei, dass jeder im Saal erkennt, wenn sie lächelt.

Ein Modell mit Gummistrapsen

„Den Niqab trage ich immer, wenn ich das Haus verlasse oder wenn ich Männer sehe, die nicht zum engen Familienkreis gehören“, erklärt Mohammad. Wenn der Paketbote klingelt, liegt ein Modell mit Gummistrapsen bereit, das sie sich schnell überzieht. Tatsächlich durfte Mohammad nach ihrer Entscheidung, den Niqab zu tragen, die ersten beiden Jahre damit legal Auto fahren. Erst 2017 wurde das in Deutschland verboten. Das Verhüllungsverbot ist seitdem in Paragraf 23 geregelt, der auch das Rumfummeln am Handy verbietet – aus gleichem Grund: Sicht und Gehör sollen frei sein, es geht um die Sicherheit. Aber Ausnahmen sind möglich.

Im Jahr 2020 stellete Mohammad ihren Antrag, den die Bezirksregierung Düsseldorf ablehnte. Begründung:

  • Nur in dringlichen Fällen sei eine Ausnahme möglich.
  • Die Frau könne auch mit Bus und Bahn fahren, zumindest hatte sie nicht erklärt, warum sie ein Auto brauche.
  • Sicht und Gehör könnten beeinträchtigt sein.
  • Die nonverbale Kommunikation, die auch im Straßenverkehr stattfinde, sei mit Niqab praktisch nicht mehr möglich.
  • Im Übrigen diene das Verhüllungsverbot dazu, Verkehrsverstöße zu verfolgen.
  • Kurz: Das öffentliche Interesse an der Verkehrssicherheit stehe einer Ausnahmeerteilung entgegen.

Mohammad klagte und verlor das Eilverfahren in zwei Instanzen, ebenso den regulären Prozess vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf 2022. Dabei wurden eine Menge weiterer Argumente ausgetauscht, die vor dem Oberverwaltungsgericht Münster wieder zur Sprache kommen.

„Gesteigerte Sittsamkeit“

Sie erklärte, sie trage den Niqab aus tiefer religiöser Überzeugung, „als Ausdruck ihrer gesteigerten individuellen Sittsamkeit und Scham“. Der Schleier verschaffe ihr ein höheres Sicherheitsempfinden. Bus und Bahn könne sie nicht nutzen, weil ihr Gesichtsschleier sie Anfeindungen und Misstrauen aussetze. Außerdem arbeite sie nun als Wellness-Masseurin für Frauen und müsse Hausbesuche machen. Konstruktionszeichnungen eines Niqab sollten die Rundumsicht belegen.

Die Behörde machte noch ein paar Nebenschauplätze auf:

  • Mohammad habe nicht überzeugend dargelegt, warum sie unbedingt ein Auto brauche.
  • Wenn sie sich in Bus und Bahn angefeindet fühlt durch den Niqab – wäre das nicht an allen öffentlichen Orten so? Warum wären öffentliche Verkehrsmittel dann unzumutbar?
  • Die Frau hat einen Motorradführerschein. Das würde doch ihr Problem lösen, oder nicht?
  • Ein Auto ist schon eine Art Verhüllung, die „weitgehend den Zweck des Niqab erfüllt“. Dass ein Auto Scheiben hat, ist der Bezirksregierung nicht entgangen, aber „Blicke oder gar Zugriffe fremder Männer oder sonst als nicht sittsam empfundene Annäherungen werden durch die Konstruktion des Kraftfahrzeugs als rollender Schutzraum weitgehend unterbunden“.

Die wesentlichen Begründungen sehen die Richter in Münster unter dem Vorsitz von Annette Kleinschnittger am Freitag als „Ermessensfehler“ – bis auf eine: Mohammad hatte bislang nicht gut dargelegt, warum sie ein Auto brauche. Sie oder ihr Anwalt hatten Nachweise zu ihrer Berufstätigkeit nicht eingereicht, eine Einnahme-Überschuss-Rechnung war so zusammengestoppelt, dass ein kleiner Gewinn zu einem Riesenverlust wurde.

Hausbesuche mit dem Auto

Doch schon im Prozess wird deutlich: Für Mohmmad ist die Arbeit als Masseurin tatsächlich wichtig, zumal sie sich gerade scheiden lässt. Auf ihrer Website wirbt sie nicht mit Hausbesuchen, was die Bezirksregierung ihr vorhielt. Aber wie könnte sie auch, erklärte die Richterin, wo sie doch offiziell gar nicht fahren darf.

Zur Lebenswirklichkeit gehört, dass Miriam Mohammad auch ohne Ausnahmegenehmigung weiter mit Vollschleier Auto fährt. „Ich wurde zweimal von Polizisten angehalten“, gibt sie zu. „Sie haben mich ermahnt, aber hatten Verständnis und haben mich ohne Bußgeld fahren lassen.“

Die Bezirksregierung jedenfalls muss nun vor allem prüfen, wie dringend Mohammad das Auto braucht. Die anderen Gegenargumente lässt das Gericht nicht gelten:

  • „Wir sehen nicht, wie der Niqab die nonverbale Kommunikation beeinträchtigen soll“, sagt Kleinschnittger. Wenn, dann verständige man sich mit Gesten, nicht mit Nasenrümpfen oder Mund verziehen. Der Richterin fällt ohnehin nur eine Situation ein, in der die Straßenverkehrsordnung nicht eindeutig ist. „Wenn vier Fahrer gleichzeitig an eine Rechts-vor-Links-Kreuzung kommen.“
  • „Die Annahme, dass der Niqab die Rundumsicht beeinträchtigen soll, ist ein pauschales Argument. Das kann im Einzelfall sein“, sagt Kleinschnittger. Doch sei das im Falle von Frau Mohammad Modell nicht gegeben. Tatsächlich hatten kurz zuvor drei hauptamtliche Richter, zwei ehrenamtliche und die beiden Vertreterinnen der Behörde die verschleierte Dame umringt, um den Knoten des Stirnbands an ihrem Hinterkopf aus nächster Nähe zu begutachten. „Kann da nichts verrutschen?“ – Nach Überzeugung des Gerichts nicht mehr als bei einer Mütze.
  • Das gewichtigste Argument ist sicher die erschwerte Strafverfolgung, zum Beispiel nach einem Tempoverstoß. „Ein Fahrtenbuch ist nicht gleichwertig“, hatte die Bezirksregierung beharrt. Dem stimmt die Richterin auch zu. Allerdings ließen sich hier doch kreative Ausgestaltungen finden, die ein Missbrauchsrisiko der Verschleierung minimieren: Die Beschränkung der Genehmigung auf ein Fahrzeug. Ein Widerrufsrecht, wenn jemand auffällig wird. Auch ohne Niqab entziehen sich Fahrer immer wieder durch Ausreden der Strafe. Das leicht erhöhte Risiko durch den Schleier müsse man abwägen mit dem Grundrecht der freien Religionsausübung.

Die Religionsfreiheit

Und um die geht es am Ende. Die vorherige Instanz hatte sich auch mit der Auslegung des Korans beschäftigt und Stellen zitiert wie Paragrafen (Sure 24, Vers 31 sowie Sure 33, Vers 53 und 59). Schließlich hatte auch Miriam Mohammad angeführt, dass „gläubigen Frauen ihre Blicke niederschlagen, ihre Scham hüten und ihre Reize nicht zur Schau tragen sollen“.

Sie sehe es als sexuelle Nötigung an, wenn man sie dazu zwinge, ihren Niqab am Steuer abzulegen. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hatte sich so weit eingearbeitet, dass es „viele Gelehrte“ gefunden hatte, die im Koran kein Verschleierungsgebot angelegt sahen, aber einige Theologen eben doch. Letztlich, bemerkte nun die Richterin in Münster, gehe es aber um das religiöse Empfinden von Frau Mohammad.

Miriam Mohammad mit ihrem Beistand Dennis Rathkamp vom Verein „Föderale islamische Union“.
Miriam Mohammad mit ihrem Beistand Dennis Rathkamp vom Verein „Föderale islamische Union“. © DPA Images | Guido Kirchner

Etwa 15 Klagen wie die ihre sind dem Verein „Föderale Islamische Union“ deutschlandweit bekannt, der auch Mohammad als Beistand begleitet. Man wolle den Fall bis in letzte Instanz verfolgen, um Klarheit zu bekommen, erklärt Dennis Rathkamp. „Es gibt einige weitere Interessentinnen, denen wir geraten haben, die Klagen abzuwarten.“ Aber in ganz Deutschland, schätzt Rathkamp, trügen nur einige hundert Frauen den Niqab. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar 2018 allerdings in einem ähnlichen Fall entschieden, dass muslimische Autofahrerinnen im Straßenverkehr ihren Gesichtsschleier ablegen müssen (AZ: 1 BvQ 6/18).

Ein Präzedenzfall

Eine Grundsatzentscheidung wird es also nicht sein, sollte Mohammad die Ausnahmegenehmigung bekommen. Aber ein Präzendenzfall schon, der alle Genehmigungsbehörden beschäftigen wird. Die Bezirksregierung müsse sich „viel intensiver mit dem Fall beschäftigen“, erklärte Richterin Kleinschnittger – und sie solle es nicht bei leeren Formeln belassen. Die Behördenvertreterin schrieb mit – im Prozess hatte sie sich darauf beschränkt, die ablehnenden Standpunkte zu wiederholen, ohne auf neue Argumente einzugehen. Auf die Frage, wie eine Ausnahmegenehmigung theoretisch aussehen könnte, musste sie erklären, dass man sich dazu noch keine Gedanken gemacht habe.

Miriam Mohammad fährt derweil mit dem eigenen Auto heim – vollverschleiert. „Ohne Sondergenehmigung“, sagt sie, „aber bald mit.“

Mehr zum Thema