Essen. Frauen sind anders krank als Männer, etwa beim Herzinfarkt. Essener Forscher wollen das verbreiten. Ein Fall zeigt, wie wichtig das ist
Andrea Marliani wird mitten in der Nacht wach. Schweißgebadet, flau im Magen, als hätte ihr jemand eine zu enge Jacke angezogen und dann aufgeheizt. Eine Lebensmittelvergiftung? Der Stress? Doch das Herz?
Immer wieder hatte die damals 56-Jährige Kardiologen und andere Ärzte aufgesucht, weil sie schnell aus der Puste kam. Nie war etwas zu finden gewesen. Mehr noch: Marliani hatte sogar das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie als Frau mittleren Alters wohl einfach unter den Symptomen der Wechseljahre, unter dem „Leeres-Nest-Syndrom“ oder schlicht der Doppelbelastung von Familie und Beruf litt. Eine Herzerkrankung als Ursache für die Kurzatmigkeit schien nicht in Frage zu kommen.
In dieser Nacht nun sitzt Marliani schweißgebadet in ihrem Wohnzimmer und überlegt. Sie greift zur Tablette, um wenigstens den Kopfschmerz loszuwerden. Langsam wird es besser. War wohl doch nichts, denkt sie, und geht wieder ins Bett. Was sie nicht weiß: Gerade hatte sie einen Herzinfarkt, den ersten von zweien.
Frauen erleben einen Herzinfarkt mit anderen Symptomen als Männer
Frauen und Männer können bei derselben Erkrankung ganz unterschiedlich reagieren. Wie Männer einen Herzinfarkt erleben, das hat man im Fernsehen schon oft gesehen: Da greift sich der Schauspieler an die plötzlich stark schmerzende Brust und wird bleich.
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Frauenherzen werden anders krank. Bei einem Infarkt klagen Frauen über Übelkeit oder Nackenschmerzen, sie sind müde, schlafen schlecht, sind kurzatmig – das bekannte Gefühl eines Elefanten auf der Brust, das haben sie im Gegensatz zu Männern eher selten. Die Folge: Infarkte werden bei Frauen oft spät erkannt und sie verlaufen häufiger tödlich als bei Männern.
Die sogenannte Gendermedizin will für solche Unterschiede sensibilisieren. „Gender“ ist das englische Wort für Geschlecht. Es meint das biologische Geschlecht, aber auch Verhaltensweisen und gesellschaftliche Normen, die das Bild eines Mannes oder einer Frau prägen – das sogenannte soziale Geschlecht. Beides, so das Verständnis dieser noch jungen Fachrichtung in der Medizin, hat Einfluss auf Symptome und Diagnose einer Erkrankung – und sollte damit die Behandlung bestimmen.
Sogar der typische Männerschnupfen ist ein Beweis der Gendermedizin
„Es gibt kaum einen Bereich, den Gendermedizin nicht berührt“, sagt Anke Hinney, Prodekanin für Wissenschaftlichen Nachwuchs und Diversität an der Medizinischen Fakultät der Uni Duisburg-Essen. „Krebsmedizin, Transplantationen oder Infektiologie, überall sehen wir Unterschiede zwischen Frauen und Männern, die sich aus der Biologie oder aus vermeintlich typisch weiblichen und männlichen Verhaltensweisen erklären.“
Ein Beispiel aus dem Alltag: der „Männerschnupfen“. Tatsächlich empfänden Männer Erkältungssymptome oft als stärker. Frauen indes hätten ein Immunsystem, das Viren und Bakterien besser abwehren könne. Ein Effekt, der in der Corona-Pandemie zu sehen war: „Männer waren viel stärker von Covid betroffen.“ An Long-Covid indes erkrankten mehr Patientinnen. Man vermutet auch hormonelle Gründe – ausreichend erforscht sei das bislang nicht.
„Am Anfang wurden wir belächelt, was das denn nun wieder für ein Frauending sei.“
Hinney arbeitet als Professorin seit 2016 daran, Männer und Frauen in Forschung und Medizin und Studierende an der Uni Essen für solche Unterschiede zu sensibilisieren. „Am Anfang wurden wir belächelt, was das denn nun wieder für ein Frauending sei“, erinnert sich die Biologin – und das, obwohl Geschlechterforschung bereits seit 25 Jahren in Essen vorangetrieben wird. Immer wieder habe sie erlebt, wie Kollegen erst zurückwiesen, überhaupt etwas zu Gendermedizin sagen zu können – und im nächsten Moment mit Studierenden ausführlich über entdeckte Unterschiede bei Diagnose und Behandlung von Männern und Frauen diskutierten.
Neues Institut in Essen will Medizin für Männer und Frauen besser machen
Um diesen Blick fest in der Forschung zu verankern, ist in diesem Frühjahr das Institut für geschlechtersensible Medizin in Essen an den Start gegangen. Hinney leitet es als kommissarische Direktorin. Es soll nicht weniger als eine „Pionierinstitution der Geschlechterforschung“ werden, das nach außen Strahlwirkungen haben will und nach innen Forschende in die Pflicht nimmt, immer auch geschlechtersensibel auf Daten und Erkenntnisse zu schauen. Das klare Ziel: „Wir wollen die Behandlung von Frauen und Männern verbessern“, sagt Hinney.
Gendermedizin sei eben kein Frauending. Richtig sei zwar, dass Frauen bislang in der Medizin das Nachsehen hatten. Der Standardpatient in der Medizin ist ein Mann. Dass Frauen eine andere Medizin benötigen, oft andere Symptome zeigen und anders auf Medikamente reagieren, wurde lange in der Forschung ignoriert. „Trotzdem profitieren am Ende auch Männer davon, wenn wir geschlechtersensibel in den Krankenhäusern und Praxen behandeln“, sagt Hinney. So wie der Infarkt bei Frauen oft verkannt werde, würden Depressionen als vermeintliche Frauenkrankheit bei Männern seltener diagnostiziert, weil sie sich bei ihnen anders äußerten.
Krebsforscherin zeigt: Selbst klassische Diagnoseverfahren müssten überarbeitet werden
Ein aktuelles Beispiel liefert die Krebsforschung. Marija Trajkovic-Arsic arbeitet für das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) an der Universitätsklinik Essen und ist immer wieder über eine Sache gestolpert: „Wir wissen, dass Männer häufiger an Krebs erkranken, aber die Gründe sind wenig bekannt.“ Vermutet wird, dass der Lebenswandel einen Einfluss hat, aber auch die Biologie: Der Stoffwechsel von Männern und Frauen beispielsweise ist unterschiedlich.
Trotzdem würden auch in Diagnose und Behandlung von Krebserkrankungen keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern gemacht, sagt Trajkovic-Arsic. Sie untersuchte Daten aus 30 Jahren zu einer gängigen Methode, mit der Krebszellen erkannt und Prognosen zum Verlauf getroffen werden können. Allzu viel verraten will die Forscherin nicht, die eine wissenschaftliche Publikation zu dem Thema plant. Doch deutlich geworden sei, dass dieses Verfahren für Frauen und Männer unterschiedlich aussehen müsse, weil ihre Stoffwechsel so starke Unterschiede aufwiesen. Geschlecht müsse in der Krebsbehandlung berücksichtigt werde, damit könnten Therapien erfolgreicher werden.
„ Ich bin im ländlichen Raum in einer Generation groß geworden, in der man als Frau gelernt hat, nicht zu jammern.“
In Kempen am Niederrhein weiß Andrea Marliani inzwischen, wie sehr Frauen auch dazu neigen, Symptome zu unterschätzen. „Ich bin im ländlichen Raum in einer Generation groß geworden, in der man als Frau gelernt hat, nicht zu jammern“, sagt die heute 60-Jährige.
Nach ihrem ersten Infarkt ist Andrea Marliani noch in einen ersehnten Kanada-Urlaub geflogen, als sie der zweite Infarkt vor Ort um 3 Uhr nachts weckte, duschte sie noch, wusch die Haare und machte sich zurecht, bevor sie zu Fuß ins Krankenhaus ging. Dort bekam sie vier Bypässe gelegt, ein Arzt sprach von einem Wunder, dass sie überhaupt noch lebt. „Es fühlte sich nicht lebensbedrohlich an“, sagt Marliani.
Was die 60-Jährige am meisten überrascht: Sie ist selbst Zahnärztin und kennt aus der eigenen Praxis sofort Beispiele für Genderunterschiede: „Frauen haben mir oft berichtet, dass die örtliche Betäubung bei ihnen stundenlang anhalte. Ich arbeite deshalb schon länger mit einer Betäubung, in der der Adrenalin-Anteil, der über Tiefe und Dauer der Betäubung entscheidet, geringer ist.“ Frauen empfänden das als angenehmer.
Auf solche Unterschiede einzugehen, empfindet sie als Ärztin selbstverständlich. „Trotzdem habe ich bei mir selbst in diesem Moment meine Symptome vollkommen unterschätzt, weil sie nicht dem Bekannten entsprochen haben, und weil ich eben einfach nicht gelernt hatte, auf mich selbst zu achten.“
Der Infarkt habe dafür gesorgt, dass sie sich selbst gegenüber sensibler geworden sei. Heute engagiert sie sich als ehrenamtliche Beauftragte der Deutschen Herzstiftung.
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