Essen/Frankfurt. . 1957 wurde die Edelprostituierte Rosemarie Nitribitt ermordet. Jetzt sind 22 Akten zu dem mysteriösen Fall aufgetaucht, der nie aufgeklärt wurde. Briefe und Polizeiprotokolle zeigen, wie weit Krupp-Erbe Harald von Bohlen und Halbach und Berthold Beitz in den Fall verwickelt waren.
Frankfurt sechsundzwanzig-dreiundachtzig-null. Reiche und Mächtige der jungen Bundesrepublik haben 1956 und 1957 diese Nummer oft gewählt. In ihrem Appartement am Eschenheimer Tor saß eine junge, blonde Frau am elfenbeinfarbenen Telefon und gab Anrufern gerne Termine. Sie hat ihnen ihren Körper verkauft.
Sex bei Rosemarie Nitribitt buchten Gunter und Ernst Sachs, die Eigentümer der Kugellagerwerke Schweinfurth, der Milliardär Harald Quandt aus dem nahen Bad Homburg, Rennfahrer und Fürsten. Berichten nach tat dies auch ein Politiker, der Jahre später deutscher Bundeskanzler wurde. Vor allem war Harald von Bohlen und Halbach die Adresse geläufig.
Der Krupp-Erbe war für die bekannteste Prostituierte der Nachkriegsgeschichte nicht einfach ein Kunde. Er war, die Briefe sind eindeutig, ihr Geliebter. Harald und Rosemarie. Das ist eine menschliche, zärtliche, gesellschaftspolitisch brisante und vielleicht hochkriminelle Geschichte. Sie ist eine bisher kaum bekannte Wegmarke in den Annalen des gewaltigen Stahlkonzerns an der Ruhr. Am Ende bleibt ihr großes Geheimnis ungelöst (Die ganze Geschichte und Kopien der Originaldokumente lesen Sie im kostenlosen E-Book).
Der Tatort
Darum merkte ich,
dass nichts Besseres darin ist,
denn fröhlich sein und
gütlich tun im Leben.
Im Gräberfeld 95 des Düsseldorfer Nordfriedhofs ist dieser Satz in den hochgeschnittenen Grabstein von „Rosemarie Nitribitt, 1.2. 1933 – 1.11.1957“ gemeißelt. Obenauf liegen zwei schwarz gepunktete rote Glückskäfer. Davor stehen oft frische Blumen. Denkt noch jemand an sie? Vielleicht, weil ihr Tod im Alter von 24 Jahren das ganze Land aufgewühlt hat.
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Ein gewaltsamer Tod. „Am 1.11.1957, gegen 16.30 Uhr, wurde in dem Appartementhaus Stiftstraße 36 in ihrer Zweizimmerwohnung die Prostituierte Rosemarie Nitribitt ermordet aufgefunden. Der Tod trat durch Erwürgen ein. Vor der Tat hat ein kurzer Kampf stattgefunden“. Der Tatbestand lasse keine genaue Todeszeitbestimmung zu. Das ist die Meldung, die das Polizeipräsidium Frankfurt am Main an das Bundeskriminalamt schickt. Sie enthält eine glatte Lüge, den ersten Skandal in der Aufarbeitung des Kriminalfalls 68331/57, der so viel offen lässt.
Denn: Nicht der „Tatbestand“ hat die genaue Bestimmung des Todeszeitpunktes unmöglich gemacht. Es waren kapitale Schnitzer der Ermittler. Bevor die Beamten die halb verweste Frauenleiche untersuchten, hatten sie die Fenster aufgerissen. Im Raum war es ihnen zu warm. Ohne korrekte Temperaturmessungen aber läuft jede Todeszeit-Analyse ins Leere.
Starb Nitribitt, wie auf den Grabstein geschrieben, am 1.11.? Oder war es am 31., am 30. oder schon am 29. Oktober?
Das Mädchen Rosemarie
Rosemarie Nitribitt wurde am 1. Februar 1933 in Düsseldorf geboren. Adolf Hitler war da seit 48 Stunden Reichskanzler. Ihr Vater, ein Bauarbeiter, hatte ihre „schwachsinnige Mutter“, so stand es später respektlos in Behördenakten, in einem One-Night-Stand geschwängert. Rosemarie wuchs in armen Verhältnissen auf. Das Mädchen geriet – wieder ein Begriff der frühen Jahre – „auf die schiefe Bahn“. Mit elf Jahren vergewaltigt. Aufenthalt im Heim. Mehrfach ausgerissen. Über Koblenz gelangte sie in die Metropole am Main. Für sie war es eine Flucht ins Leben.
Das Frankfurt der 50er-Jahre: Hier kann sich ihre Karriere entwickeln im Schatten der Szene der Reichen und Mächtigen von Nachkriegsdeutschland. Ihre Herkunft verheimlicht sie. Sie lernt Englisch und Französisch und „Gutes Benehmen“ und legt sich das passende Statussymbol zu: Einen Mercedes Cabrio 190 SL. Schwarz. Mit Weißwandreifen. Rotes Lederpolster. Aus dem Auto heraus sucht sich „die Nitribitt“ Kunden aus, nicht umgekehrt. So fängt sie Harald von Bohlen und Halbach.
Wiesbaden, Mosbacher Straße. Nach kurzem Fußmarsch vom Hauptbahnhof finden wir in einem ruhigen Viertel das Hauptstaatsarchiv von Hessen. Seit wenigen Monaten sind hier 22 Polizeiakten und Asservate einsortiert, die über Jahrzehnte spurlos verschwunden schienen: Fotos, Schlüssel, ein Schamhaar und die Spurenbücher des Mordfalls mit den Vernehmungsprotokollen – darunter die der Kripo Essen, die damals der Spur 32 nachging.
Sie führte zum jungen Krupp.
Die Spur zum Krupp-Erben aus Essen
Die Mordkommission, von Nachbarn wegen der zahlreichen Brötchentüten vor Nitribitts Tür alarmiert, hat Anfang November 1957 am Tatort Berge von Hinweisen gesammelt. Briefe. Tonbänder. Adressbücher. Bilder. So wird die Ahnung zur Gewissheit, dass hier die Creme der Gesellschaft ein- und ausging.
Zwei Tage nach dem Leichenfund, am 3. November 1957, ein Sonntag, kommt Harald von Bohlen und Halbach zum Verhör.
Er verlässt Bredeney heimlich. Die Haushälterin ist beunruhigt über sein Verschwinden. Im Frankfurter Präsidium nimmt die Polizei zu Protokoll: „Vorgeladen erscheint der Industrielle Harald von Bohlen und Halbach, geb. 30.5.16 in Essen, wohnhaft in Essen, Berenberger Mark 10“. Man habe in der Wohnung der Nitribitt „Korrespondenzunterlagen“ sichergestellt, „deren Auswertung erkennen lassen, dass Sie die N. gut gekannt haben“, hält ihm ein Oberkommissar vor. Mehr noch: Dass von Bohlen zu ihr „in einem näheren Verhältnis“ gestanden habe. Der Fahnder bittet „um nähere Angaben“.
Der Zeuge sagt aus. Anfang des Jahres habe er Rosemarie Nitribitt „in der Nähe des Frankfurter Hofes“ kennengelernt. „Ich kann mich mit Bestimmtheit erinnern, dass sie mich von ihrem Wagen aus angesprochen hat“. In einer Pension in der Nähe habe man nach kurzer Spritztour durch die Stadt den ersten „G.V.“ (Geschlechtsverkehr) gehabt. Er habe sich als Gatte eingetragen und „Rebecca“, wie Nitribitt den Kunden gegenüber hieß, 200 Mark gezahlt.
Was Harald von Bohlen und Halbach, der erst 1955 ausgezehrt aus der Gefangenschaft heimgekehrt ist, den Fahndern erzählt, ist in den prüden Kinderjahren des Wirtschaftswunders ein Tabu der öffentlichen Debatte. Familien wie Krupp sind im Adenauer-Deutschland fast moralische Instanzen. Harald – der laut Boulevard „reichste Mann Deutschlands“ – hat sich sein Erbe mit zehn Millionen D-Mark auszahlen lassen. Er steuert die Wasag-Chemie in Essens Rolandstraße. Darf so einer ein zweites, geheimes, verruchtes Leben führen?
Auf der Weinflasche sind Haralds Fingerabdrücke
Was bei der Befragung weder Polizisten noch der Zeuge wissen: Die Ermittler haben am Tatort eine angebrochene Flasche Beaujolais sichergestellt. Auf ihr sind zwei Abdrücke. Der erste stammt vom oberen linken Teil einer Hand, der zweite von Fingern. Zwei Wochen nach diesem Sonntag werden sie „ohne Zweifel“ dem Krupp-Erben zugeordnet, wie das daktyloskopische Gutachten vom 22. November ausweist. Damit wird ein Verdacht im Raum stehen: Harald von Bohlen und Halbach könnte der Mörder sein.
Die Liebesgeschichte zwischen Rosemarie und Harald
Wie eng waren die beiden? Welchen Charakter hatte ihre Beziehung? Er hat ihr Gedichte gewidmet: „Deiner Brüste Liebeshügel sind des Hafis schönster Traum“. Er hat ihr Tonbänder mit Musik geschickt und Geschenke gemacht. Die Akten führen 16 Einzelpositionen auf. Neben Bargeld ein Schmuckkoffer aus weißem Leder, Schweizer Uhren, Goldmünzen, Perlenohrringe, „eine Pferdegruppe aus Porzellan“, drei Bilder, einen Werkzeugkasten und einen Tirolerhut. In der Küche findet sich Wein mit dem Etikett der Kruppschen Hauskellerei.
„Mein Fohlen“. „Mein Rehchen“. So beginnen seine Briefe, die aus Salzburg kommen oder auch aus dem Ritz Carlton-Hotel in Montreal. Die Inhalte: Banal bis fürsorglich. Sein „Fohlen“ ermahnt er, nicht falsch zu parken und „nicht frech zu überholen“. Harald ist besorgt. Mehr: Er ist verliebt.
Wenn er auf Dienstreisen Zeit hat, besucht er Rosemarie. Von Mai bis Oktober ist er zehn Mal in ihrer Wohnung – nie anderswo, „aus verständlichen Gründen“. Nur einmal trauen sie sich als Paar aus dem Haus. Sie will es so. Man geht zu „Betten Raab“. Er soll ein „geschmackvolles Muster“ für Steppdecken und Kopfkissen aussuchen.
Von Bohlen und Halbach und Nitribitt schlafen nicht bei jedem Treffen miteinander. Er habe sie auch freundschaftlich „als Kerl“ gemocht, sagt er den Ermittlern. Wurden sie intim, lief das „durchaus normal“ ab. Den Gummischutz habe er mitgebracht. Detailliert listet die Polizei auf: Von Bohlen habe berichtet, dass die Ermordete schon vielseitiger orientiert war, einerseits der lesbischen Liebe zugeneigt („Sie versuchte, das Gespräch auf das Thema 175er-Tum zu bringen“), andererseits habe sie in einem doch merkwürdigen Verhältnis zu Joe, ihrem Pudel, gestanden.
Trotz der Pannen der Spurensicherung legt die Staatsanwaltschaft die fragliche Tatzeit grob fest. Wie andere Besucher der Toten muss sich Harald die Frage nach dem Alibi stellen lassen: Wo waren Sie von Dienstag, 29., bis Donnerstag, 31.Oktober?
Alibis, die heute kaum standhalten würden
Hoch über dem Baldeneysee herrscht im Herbst 1957 Trauer. Im September ist Bertha gestorben, die große alte Dame des Industrie-Imperiums. Berthold Beitz, Generalbevollmächtigter seit 1953, hat die Regie. Harald unterschreibt Kondolenz-Dankbriefe. Der Familienalltag sortiert sich neu. In der Berenberger Mark wohnen neben dem Krupp-Sohn die Haushälterin K., Hausmädchen und neben der Toreinfahrt der Fahrer H. Auf Order aus Frankfurt übernimmt Essens Kripo die Ermittlung der „Nebenspur“.
K., die schon Bertha gedient hat, gibt deren Sohn ein Alibi. Mal habe man zusammen mit einem Pfarrer gesessen, mal sei man beim Konzert auf Villa Hügel und zum späten Dinner im Essener Hof gewesen: „Nach dem Tode seiner Mutter fühle ich mich verantwortlich. Ich würde es verspüren, wenn er längere Zeit abwesend wäre“.
Der Satz klingt vage. Aber es passiert, was heutige Kripo-Profis nur den Kopf schütteln lässt: Er überzeugt die Essener Beamten. K’s Termin-Erinnerungen stimmen zudem mit denen von Harald überein. Tagsüber. Für die jeweiligen Nachtstunden kann selbst der Chauffeur, der neben der Garage wohnt, nicht garantieren. „Ich kann ... keine Auskunft darüber geben, ob der ... Jaguar in der vergangenen Woche, insbesondere in den Nachtstunden zu einer längeren Fahrt benutzt worden ist“, gibt H. zu Protokoll.
Sichere Alibis für die Nacht gebe es nicht, räumt auch die Kripo im Ruhrgebiet ein. Doch schon nach drei Tagen stellt sie fest, bei aller wirtschaftlichen Bedeutung der Familie Krupp von Bohlen und Halbach „herrscht dort eine streng solide und patriarchalische Lebensführung vor“. Es sei „kaum glaubhaft, das Herr Harald v.B.u.H. in den kritischen Nächten von Essen nach Frankfurt und zurück gefahren ist“, ohne, dass dies bemerkt worden wäre. Die Schlussbilanz. Spur 32 geht zu den Akten.
Die Mörder-Suche
Daran verändert auch die Analyse der Flaschenabdrücke nichts mehr, als sie eintrifft. Dabei müsste sie Fragen aufwerfen im Zusammenhang mit Bohlens Aussagen, Nitribitt zuletzt am 23. Oktober, eine Woche vor dem Mord, besucht zu haben. Bleibt eine angebrochene Flasche im Haushalt der durchaus peniblen Frau stehen? Auch an Beaujolais will er sich ja nicht erinnern.
Kommen andere als Täter in Frage? Größen des Rotlicht-Viertels? Politiker? Ein Freier in Wut? Nitribitt hat heimlich Gespräche der Besucher auf Tonband aufgezeichnet. Für die Tatzeit ist es gelöscht – bis auf einen Halbsatz. Experten der Post hören kaum vernehmbar die Worte „Lass mich los“ heraus. Bald glaubt man den Mörder zu kennen: Heinz Pohlmann, den schwulen, verschuldeten „Hausfreund“ der Prostituierten, der Tage nach der Tat seine Verbindlichkeiten beglich und einen Mercedes kaufte. War es schnöder Raubmord?
Die Erpressung – ein Brief an Beitz
Auf dem Hügel in Essen kehrt 1958 Ruhe ein. Sie trügt. Pohlmann weiß viel. Und er ist clever. Nicht mehr in U-Haft, aber unter Mordverdacht knüpft er Kontakte zur Illustrierten „Quick“. Er will gegen Geld über die intimen Kontakte der toten Freundin plaudern und über Beziehungen zu einem „500 PS-Mann“ – das alles vor einem Millionen-Publikum, das gierig den Sensationen hinterher hechelt.
Am 15. Januar 1959 erfährt Harald von Bohlen und Halbach von der drohenden Gefahr einer Veröffentlichung. Berthold Beitz sagt zu, „durch ihm bekannte Mittelsleute in Hamburg in geeigneter Form zu versuchen, zu verhindern, dass in Zusammenhang mit dem Pohlmann-Rummel mein Name oder unser Familienname in der Presse genannt wird“, sagt Harald. Das geht nur mit Geld. Der Plan, aufgeschrieben in einem vierseitigen Vertragsentwurf: Pohlmann erhält 250 000 Mark aus der Konzernkasse – und hält als Gegenleistung den Mund.
Ein Joachim Hansen, Hamburg, wird der Strohmann für die Krupp-Seite. Über Anwälte wird verhandelt. Aber den Krupps werden die vielen Kontakte unheimlich, die Pohlmann hat. Sie zögern misstrauisch die Vereinbarung hinaus. Da geht am 13. April ein Brief von ihm bei Beitz ein. „Mein Name wird Ihnen bekannt sein“, schreibt Pohlmann verschwörerisch. „Ich stehe jetzt vor dem Nichts“, so der Hausfreund der Ermordeten, „und Auslandspresse und Film macht mir Angebote, mit wenig schönen Dingen Geld zu verdienen“. Jede Zeile erhöht den Druck: „Gestern legte man mir ein Drehbuch für einen Film vor. Auch hier könnte ich mit Ihrer Unterstützung viel ändern“.
Zur Zahlung der 250 000 Mark ist es nicht gekommen, hat Berthold Beitz 1959 bei einer Befragung durch Kriminalpolizisten, die wegen Begünstigung ermittelten, im Hotel „Patria“ in Münster berichtet. Unklar ist, ob etwa 50 000 Mark geflossen sind. Klar ist: Am Ende hat Pohlmann nicht geredet.
Am 13. Juli 1960 wurde der Handelsvertreter nach kurzer Verhandlung vom Verdacht des Mordes an Nitribitt freigesprochen. Er lebte, finanziell sehr gut gesichert, bis zu seinem Tod 1995 in München.
Harald heiratete die 18 Jahre jüngere Dörte Hilringhaus
Harald von Bohlen, dessen Verstrickung in den Fall nie geklärt wurde, hat drei Jahre später die 18 Jahre jüngere Dörte Hilringhaus geheiratet. Im November 1983 ist er, 67-jährig, an einer Infektion gestorben.
Berthold Beitz, der den Namen Krupp vor Beschmutzung retten wollte, ist durch die Sache nie mehr behelligt worden. Der Manager starb, 99 Jahre alt, am 31. Juli 2013.
2013 fanden Polizisten im Frankfurter Präsidium die vermissten Akten, weil Staatsanwälte gegen einen Altpapierhändler ermitteln wollten. Einige Wochen hielt die Staatsanwaltschaft die Stapel zurück. Als der letzte Zeuge tot war, schickte man sie an das Hauptstaatsarchiv. Sie bilden, zusammen mit 70 Prozessordnern, die seit den 60er-Jahren hier lagern, die 5000 Seiten starke Erinnerung an den spektakulärsten Kriminalfall der Nachkriegsära. Heute ist er Stoff für die Geschichtsbücher.
Der Film, der den Ruf der Republik schädigte
Der Herbst 1957: Die Russen schicken „Sputnik“ in die Erdumlaufbahn. Es ist Kalter Krieg zwischen den Weltmächten. Adenauers Unionsparteien regieren Deutschland zum ersten und bisher einzigen Mal mit absoluter Mehrheit. Und die Deutschen freuen sich ihres Wohlstands: Die Rentenreform ist durchgesetzt. „Kriegerwitwen“ erhalten mehr Geld. Für Stahlarbeiter im Ruhrgebiet ist der Ecklohn in fünf Jahren von 1,48 auf 1,88 D-Mark gestiegen.
Man erlaubt sich wieder Kultur – und das in großen Portionen. Als der Journalist Erich Kuby den Film „Das Mädchen Rosemarie“ auf die Leinwand bringt, stellen sich acht Millionen an den Kassen an. Der Tod der Nitribitt als Thema: Es ist der schaurig-spannende Gesprächsstoff der jungen Republik, der hier und da auch den Förster-im-Silberwald-Trend schlägt. Und das aktuell: Wenige Wochen, nachdem die Kripo in Frankfurt die Leiche der Prostituierten gefunden hat, startet der Publizist sein Projekt. Die Hauptrolle hat Nadja Tiller.
Was Kuby den Kinogängern präsentiert, ist eine Mischung aus Gesellschaftskritik, Fakten und Fiktion. Die Dirne, die die Freier heranhupt und den Erben 120 000 D-Mark hinterlässt. Die Kunden, die zum Feinsten der Gesellschaft gehören. Die Gerüchte, die ein Motiv zwischen Eifersucht, Erpressung und Spionage kolportieren.
Bei allem Aufbruch: Diese Gesellschaft ist tief konservativ. Sie hängt dem traditionellen Frauen-Bild von Kinder, Kirche, Küche an. Die Ehe ist der Maßstab. Homosexualität und Promiskuität? Indiskutabel.
Es bleibt der Eindruck, dies sei kein Einzelfall
Ausgerechnet der als homosexuell verrufene Bundesaußenminister Heinrich von Brentano (CDU), über dessen angebliche Neigung im Flüsterton geplauscht wird, greift jetzt in „Das Mädchen Rosemarie“ ein. Der Kuby-Film soll bei den Filmfestspielen von Venedig gezeigt werden. Bonn ist empört. Es hält den Streifen für rufschädigend. „Der Film gibt ein ausschließlich negatives Bild von der Entwicklung, die die Bundesrepublik seit Kriegsende genommen hat“, heißt es in einem Telegramm des Auswärtigen Amtes vom 12. August 1958. Und: „Es bleibt der Eindruck bestehen, dass mit dem filmischen Geschehen eben nicht ein Einzelfall, sondern eine allgemein gültige Charakterisierung des heutigen Lebens gegeben werden soll“.
Deutsche Wirtschaft, deutsche Politik und moralischer Abstieg in einem Zusammenhang? Geht nicht, droht Brentano: Wird der Film in Venedig gezeigt, wird die Bundesrepublik keine Filme mehr melden.
Auch im Inland wächst der Druck, nachdem ausgerechnet die staatsgelenkte Presse der DDR-Diktatur Pfeffer in die West-Wunde kippt und die Eliten des kapitalistischen Gegners als „korrupt und verdorben“ geißelt. Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) greift ein. Das Ergebnis ist Zensur. Hieß es im Vorspann vor der FSK-Kontrolle: „Was der Film schildert, ist unsere bundesdeutsche Wirklichkeit“, wird dies in der Freigabe ersetzt durch: „Sicherlich sind die Auswüchse unseres Wohlergehens Ausnahmen“. Nach dem Pohlmann-Prozess legt sich die Erregung. Filmemacher nutzen zwar später die Nitribitt-Geschichte als Vorlage. 1996 tut dies Bernd Eichinger mit Nina Hoss und Heiner Lauterbach in den Hauptrollen. Aber die reale Auflösung fehlt: Wer war der Mörder?
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