Essen. Fürchtet euch nicht!, sprach der Engel zu den Hirten in der Weihnachtsgeschichte. Was bedeutet dieser Satz heute? Und wovor haben die Menschen Angst? Was setzen sie ihr entgegen? Ein Seelsorger, ein Motivationstrainer und eine Familientherapeutin gaben uns ihre Antworten.

Fürchtet Euch nicht! ... sagt der Krankenhausseelsorger

Es war nicht nur der Engel, der den Hirten zurief: „Fürchtet Euch nicht!“. Jemand hat das mal nachgezählt: Angeblich steht dieser Satz in Variationen 365-mal in der Bibel. Das wäre eine „Ration“ für jeden Tag. Ich finde das berührend, auch für mich selbst.

Die furchtsamen Hirten auf dem Felde im Gemälde von Jan Both.
Die furchtsamen Hirten auf dem Felde im Gemälde von Jan Both. © Getty

Denn natürlich haben Menschen Angst, unabhängig davon, ob sie glauben oder nicht glauben. Bei den Patienten, mit denen ich zu tun habe, ist diese Angst manchmal sehr diffus, manchmal sehr konkret: wenn eine Diagnose im Raum steht und der Kranke nicht weiß, ob eine Therapie wirksam sein wird. Egal, ob jung oder alt, die Menschen hängen am Leben. Ihre Ängste sind oft sehr real: Wie viel Lebensspanne ist mir überhaupt noch vergönnt, muss ich möglicherweise zeitnah Abschied nehmen von Menschen, die mir lieb sind, von meinem eigenen Leben, an dem ich hänge. Ich versuche Menschen zuzugestehen, dass sie Angst haben dürfen. Manchmal frage ich: Können Sie Ihre Angst beschreiben, ihr vielleicht sogar einen Namen geben? Ist sie greifbar, schnürt sie die Kehle zu?

Die wichtige Frage ist: Was habe ich der Angst entgegenzusetzen?

Natürlich ist der Glaube für viele eine Kraft, die ihnen hilft. Aber gerade bei glaubenden Menschen erlebe ich oft, dass das Vertrauen, das aus diesem Glauben gespeist wird, sehr erschüttert wird, dass sie richtig durchgerüttelt werden. Für viele stellt sich die Frage: Warum? Warum lässt Gott das zu, warum straft er mich? Mit ihnen versuche ich, die Spur aufzunehmen: Was an meinem Glauben hat mich bisher getragen?

Ein Gott, der sich berühren lässt

Und da sehe ich eine ganz große Linie, schon im Alten Testament. Da sagt Gott: Ich habe das Elend meines Volkes gesehen. Er ist ein Gott, der sich berühren lässt, der im besten Sinne des Wortes Mitleid hat, und dieser Gott – was wir an Weihnachten feiern – wird Mensch in dem Kind in der Krippe. Diese Wehrlosigkeit, diese Armseligkeit ist berührend. Dass Gott sogar in diese Situation hineingeht, auch da Partei nimmt für die, die in den Abgründen festhängen, auch im Abgrund der Angst. Dass er damit auch in alle Brüche des Lebens hineingeht, in die Wunden, die das Leben den Menschen schlägt. Auch die werden Weihnachten nicht übergangen, nicht verdrängt. Das ist das Überzeugende in dieser Botschaft.

Die Botschaft von Weihnachten ist, dass Gott das Licht auch in einer schweren Situation nicht untergehen lässt. Ich bin davon überzeugt, dass es seit diesem ersten Weihnachten in Bethlehem nichts in dieser Welt mehr gibt, was Menschen von Gott trennt und entfernt.

Pastor Peter Frigger, Seelsorger am Essener Elisabeth Krankenhaus.
Pastor Peter Frigger, Seelsorger am Essener Elisabeth Krankenhaus. © Contilja

Der Name „Jesus“ heißt wörtlich übersetzt „Gott rettet“. Das sagt etwas über diesen Gott aus. Der Name ist Programm. Und dass dieser Jesus in Gott Mensch geworden ist und Himmel und Erde miteinander verbunden hat, schafft eine neue Weite.

Hier im Krankenhaus werden Menschen durch Diagnosen, durch Bedrohung, durch die Angst in eine echte Not hineingestoßen. Sie fragen sich: Was bin ich jetzt eigentlich noch wert? Keine Leistung mehr bringen zu können, ist eine tiefe Kränkung. Und dann kommt diese Lebensbotschaft von Weihnachten: Unabhängig davon, wie leistungsfähig ich bin oder auch nicht – in den Augen Gottes gilt immer: Du bist wertvoll, einmalig und von Gott gewollt. Diese Hoffnung trägt auch durch leidvolle Situationen hindurch. Dadurch, dass auch Gott im Kleinen scheitert, werden Menschen in ihrem Scheitern unüberbietbar gewürdigt. Sie können daraus die Kraft schöpfen, sich auch selbst wieder als wertvoll anzusehen, weil sie es in den Augen Gottes sind. Gott stellt sich auf die Seite der Menschen. Und, ganz parteiisch, auf die der Schwachen. Auch die Hirten, die der Engel im Lukas-Evangelium anspricht, waren die Schwächsten der Schwachen in der damaligen Gesellschaft. „Geht dahin“, sagt er ihnen, „lasst Euch darauf ein, lasst diesen Jesus in Euer Leben – dann seid Ihr wer, obwohl Ihr am Rand seid.“ Gott hat schon damals Wege der Befreiung für sein Volk Israel gefunden, tut es wieder durch Jesus von Nazareth und dann erneut am Grab, nach der Auferstehung: „Fürchtet Euch nicht.“ Das ist die Botschaft, die Hoffnung neu entfacht gegen die Angst.

  • Peter Frigger ist katholischer Pastor und Krankenhaus-Seelsorger am Essener Elisabeth-Krankenhaus.
Fürchtet Euch nicht! ...sagt der Motivationstrainer 

Einen „Fürchtet Euch nicht“-Engel würde ich am liebsten auch vielen Unternehmen empfehlen. Er wird da gebraucht: gerade bei den vielen Veränderungsprozessen, die derzeit in der Wirtschaft stattfinden, die die Menschen teilweise sehr verschrecken, verängstigen und ihnen die Freude an der Arbeit rauben.

Rolf Schmiel, der „Psychologe unter den Motivationstrainern“.
Rolf Schmiel, der „Psychologe unter den Motivationstrainern“. © privat

Da wäre es hilfreich, wenn jemand in einer solch starken, charismatischen Erscheinung, wie es der Engel war, voller Zuversicht sagen könnte: Fürchtet Euch nicht! Das Wichtige an der Krippe war, dass der Ruf mit einer klaren Zusage verbunden war: „Der Heiland ist geboren.“ Begründete Zuversicht zu bringen, den Menschen die Angst zu nehmen, das gibt in herausfordernden Zeiten Kraft.

In der alten Schule der Motivation hat man sich die Lebensrealitäten schön gelogen, das heißt: Es gab allen Grund, sich zu fürchten, aber man wollte mit „Augen-zu-und-durch“ das Leben meistern. Oder, noch schlimmer, die Dinge so drehen, bis alles wieder gut aussah. Falsch verstandenes positives Denken kann aber in eine echte Frustfalle führen.

Andererseits ist es wichtig, daran zu erinnern, dass übertriebene Ängste meist ungerechtfertigt sind. Untersuchungen zeigen, dass die Ängste, die wir im Laufe eines Tages haben, die kleinen und großen, sich zu 95 Prozent nicht erfüllen. Es kommt also nicht zu dem, was wir befürchten. Es ist deshalb viel besser zu sagen: Ich fürchte mich nicht, aber ich nehme mit einem gesunden Realitätssinn die Herausforderungen des Alltags an. Ein Engel könnte im Alltag wichtig sein, um diese Belastung zu meistern.

Wovor fürchten sich die Deutschen?
Wovor fürchten sich die Deutschen? © WNM

Wir wissen aus Erfahrung: Die Mentalität „Du schaffst es, glaub an dich, alles wird gut“ führt leider nicht zum gewünschten Ergebnis, sondern zum Gegenteil. Wir erleben, auch in Unternehmen, dass Leute, die hoffen, dass alles gut wird und daran glauben, die aber nicht das Nötige dafür tun, ihre Ziele nicht erreichen. Wer sich nicht einlässt auf die „dunkle Seite der Motivation“, wo Begriffe wie Disziplin, Kampfgeist, Beständigkeit stehen, erlebt Rückschläge. Es kommt darauf an, dass jemand da ist, nicht darauf, dass jemand einen flotten Spruch macht, sich umdreht und die Menschen mit ihren Sorgen allein lässt. Sondern dass dieser Jemand ihnen zur Seite steht und Zeit hat für ihre emotionalen Nöte. Das ist der Fehler, der in vielen Unternehmen gemacht wird; wichtiger wäre, sich Zeit für die Mitarbeiter zu nehmen, sie wirklich mitzunehmen im Boot, dafür müsste ein Engel da sein. Oder, wie er vielerorts mittlerweile etabliert ist: ein Schulpsychologe. Der Zeit hat, sich um die seelischen Belange der Einzelnen zu kümmern.

Je technologisierter unsere Kommunikation in der modernen Gesellschaft wird, desto wichtiger ist menschliche Nähe. Wir aber erleben genau das Gegenteil. Der menschliche Faktor wird in Unternehmen aufgrund von falsch verstandenen Kostenstrukturen immer weiter weggebrochen. Dabei gilt: Je mehr Technik, desto mehr brauchen wir menschliches Gegengewicht.

Widerstandskraft in schweren Zeiten

Es gibt Momente, da ist es wichtig, sich nicht mit Ängsten zu sehr zu belasten, gleichzeitig die Situation ernst zu nehmen und lösungsorientiert zu denken. Das gibt Menschen Widerstandskraft in schweren Zeiten: ein Realitätssinn bei gleichzeitigem lösungsorientierten Denken und Handeln und einem gesunden Selbstvertrauen. Dieser Dreiklang schafft es, schwierige Situationen zu meistern. Und das ist eigentlich auch das, was der Engel zum Ausdruck bringt. Er sagt: Hab’ Vertrauen, denn hier passiert etwas Wunderschönes, und ich lasse Euch in dieser Situation nicht allein. So können Mitarbeiter auch in herausfordernden Zeiten zuversichtlich und engagiert ihre Aufgaben machen.

Leider tun wir zu oft das Gegenteil. Wir versuchen, uns die Dinge schön zu lügen, oder wir driften ins Drama ab. Wir suchen nicht nach Lösungen, sondern verfallen in Panik und einen hektischen Pragmatismus. Oder wir stecken den Kopf in den Sand. Wir unterstützen uns nicht gegenseitig durch Nähe, sondern flüchten uns lieber jeder in seinen eigenen Bereich. Damit verbauen wir uns die Chancen, die eigentlich in unserem ureigenen Menschsein vorhanden sind.

  • Der Essener Diplom-Psychologe Rolf Schmiel studierte in Bochum, arbeitet seit Ende der ‘90er-Jahre als Motivationstrainer vor allem in der Wirtschaft, und er distanziert sich bewusst vom „Tsjakkaa“-Schreien
Fürchtet Euch nicht! ...sagt die Familientherapeutin 

Versagensängste sind in unserer Gesellschaft ein sehr großes Thema geworden. Sowohl Eltern als auch Kinder haben sehr viele Ängste in Bezug auf Leistung, Erfolg, Berufschancen. Eltern fürchten, dass sie ihren Kindern nicht genug mitgeben, etwas zu verpassen, nicht das Richtige zu tun. Bei den Kindern herrscht die entsprechende Verunsicherung. Die Ängste übertragen sich. Auch wenn man gar nicht darüber redet: Kinder spüren die Ängste der Eltern. Bei den Kindern wiederum ist die Angst vorhanden, den Eltern nicht zu genügen, nicht die nötige Leistung zu bringen, auch vom Charakter her nicht zu gefallen.

Felicitas Römer, Familientherapeutin und vierfache Mutter.
Felicitas Römer, Familientherapeutin und vierfache Mutter. © privat

Der Blick hat sich verändert in den vergangenen Jahren, der Druck ist größer geworden. Man guckt sehr schnell nach den Defiziten, gerade Lehrer und Erzieher bringen Eltern damit ins Rotieren. Diese wollen zwar eigentlich zu ihrem Kind stehen, wünschen sich aber auch, das es „funktioniert“. Es gibt Kinder, die damit gut umgehen können, und Kinder, die darunter richtig leiden. Ich habe viel mit auffälligen Kindern zu tun, die sich nicht so verhalten, wie Eltern und Lehrer das schön finden, und diese Kinder leiden sehr unter der Angst, nicht geliebt zu werden.

Dabei können Eltern ihnen diese Ängste sehr schnell nehmen. Manchmal geht das schon im Kindergarten los: Da gibt es Kinder, die sind oft sehr wütend. Wenn Eltern damit überfordert sind, das unterbinden und sich angegriffen fühlen, kriegt das Kind sehr schnell das Gefühl vermittelt: Ich bin nicht richtig so, meine Gefühle sind falsch, ich darf mich nicht so fühlen, wie ich mich fühle.

Leistungsangst kommt eher mit der Schule, ein erster vorläufiger Höhepunkt ist in der dritten und vierten Klasse erreicht. Viele Eltern werden da schon sehr nervös, fangen an, Druck zu machen. Dabei wollen sie ihr Kind eigentlich nicht stressen, wollen nur das Beste.

Fürchtet Euch nicht! Mit einem Engel übersteht man jede Talfahrt.
Fürchtet Euch nicht! Mit einem Engel übersteht man jede Talfahrt. © Jamiri/Jan-Michael Richter

Man möchte ihnen zurufen: „Fürchtet Euch nicht vor Versagen oder davor, dass die Kinder schlechte Noten schreiben, das ist zweitrangig.“ Kinder brauchen ihre Zeit; es gibt sehr viele Wege, um glücklich zu werden , aber keinen Plan, den man verfolgen kann. Es geht darum, dass es dem Kind heute gut geht, damit es sich entwickeln kann. Die psychische Gesundheit kommt zuerst. Wenn ich ein Kind so erziehe, dass es etwa auch Erfolgserlebnisse außerhalb der Schule haben kann, entwickelt es ein gesundes Selbstbewusstsein, kriegt ein gutes Selbstgefühl und sagt: Ich kann mir was zutrauen, ich werde so angenommen, wie ich bin.

Nur auf dieser Grundlage kann sich etwas entwickeln, alles andere ist der verkehrte Weg. Die Schiene „Ich muss ganz, ganz viel leisten, damit ich etwas wert bin“ führt garantiert in ein Gefühl von Burn-out oder irgendwann in eine Selbstwertkrise. Vorrangig ist, dass man ein gutes Leben miteinander lebt und dass die Beziehungen gut funktionierten. In einer Familie braucht es viel Austausch, Lebendigkeit, viel Zuwendung, auch mal Streit. An zweiter Stelle kommt dann: Wir gucken mal, wie wir deinen Bildungsweg begleiten können.

Ängste sind auch gut, sie gehören dazu

Kindern rate ich, sich zu überlegen, was sie sich von Mama und Papa wünschen. Das können Kinder sehr gut auf den Punkt bringen. Oft fühlen sich die Eltern von den Kindern abgelehnt, weil die sich nicht ordentlich benehmen. Die Kinder wiederum sind aber auf der Suche nach Zuwendung durch die Eltern. Da muss einer den ersten Schritt machen. Kinder sind da ganz konkret, die sagen: „Ich möchte mit dir mal wieder in den Zoo gehen.“ Mit so einer klaren Ansage können vor allem Väter sehr gut umgehen.

Konkrete Ängste von Kindern, etwa vor der Dunkelheit, stehen oft für andere Ängste, vor Unbekanntem etwa. Diese Ängste haben viel mit Entwicklungsschritten zu tun, dem Schulwechsel zum Beispiel. Wichtig ist, den Kindern zu sagen: Ängste sind auch gut, sie gehören dazu, man sollte sie wahrnehmen und nicht immer nur „wegmachen“. Habt keine Angst vor der Angst! Mutig ist nicht jemand, der keine Angst hat, sondern jemand, der etwas trotz eines Risikos bewusst angeht. Die Angst ist ein guter Begleiter, weil sie dich auch schützt.

  • Die gelernte Journalistin Felicitas Römer arbeitet seit 2008 als Systemische Paar- und Familientherapeutin in Hamburg. Die Mutter von vier Kindern veröffentlichte Bücher wie „Meine liebe Nervensäge“ (2012) oder „Arme Superkinder. Wie unsere Kinder der Wirtschaft geopfert werden“ (2011).