Athen. . Zehntausende Griechen leben ohne Elektrizität, weil sie die Stromrechnung nicht bezahlen können. Eine Armut, die nun bereits Leben gekostet hat. Mittlerweile protestieren viele Griechen gegen die Stromabschaltungen. Andere schließen Strom-Piraten Haushalte illegal wieder ans Stromnetz an.
Als Zorica Pawlowitsch am 1. Advent irgendwann nach 22 Uhr wieder zu sich kam, war es für ihr Kind schon zu spät. Leblos lag die 13 Jahre alte Sara auf dem Boden des kleinen Apartments, das Mutter und Tochter im Viertel Xirokrini der nordgriechischen Hafenstadt Thessaloniki bewohnten. Der herbeigerufene Arzt konnte nur noch den Tod des Mädchens feststellen – Rauchvergiftung. Drei Monate zuvor hatte die staatliche Elektrizitätsgesellschaft DEI wegen unbezahlter Rechnungen den Strom gekappt. Rund 2500 Euro schuldete die arbeitslose Frau dem Stromversorger.
Als einzige Heizquelle benutzten Mutter und Tochter einen selbst installierten Holzofen. Die giftigen Kohlenmonoxidgase der Glut wurden ihnen zum Verhängnis. Während die 54-jährige Mutter wieder aus ihrer Ohnmacht erwachte, ein Fenster öffnen und um Hilfe rufen konnte, verlor die Tochter ihr Leben.
Brandursache: Kerzen
Vier Tage nach Saras Tod kommt es im Vorort Kordelio im Westen Thessalonikis beinahe zu einer weiteren Familientragödie. In den frühen Morgenstunden des nun folgenden Donnerstags bricht in einer Wohnung Feuer aus. Nachbarn bemerken den Brand rechtzeitig, die vier Bewohner, ein Rentnerehepaar, ihr Sohn und ein Enkel, können gerade noch gerettet werden. Die mutmaßliche Brandursache: Kerzen, die der Familie etwas Licht und Wärme spenden sollten. Die Elektrizitätsgesellschaft hatte ihr schon vor zwei Jahren wegen unbezahlter Rechnungen den Strom gesperrt.
Griechenland im sechsten Jahr der Krise: Der brutale Sparkurs, den das Land auf Druck der internationalen Geldgeber steuern muss, hat die Wirtschaftsleistung seit 2009 um ein Viertel einbrechen und die Realeinkommen um durchschnittlich 38 Prozent schrumpfen lassen. Es gibt keinen, der nicht direkt oder indirekt davon betroffen ist. Die Arbeitslosenquote stieg auf fast 28 Prozent, und von den knapp 1,4 Millionen Menschen, die ohne Job sind, bekommt nicht einmal jeder Fünfte eine staatliche Unterstützung. Geschätzt zweieinhalb Millionen Menschen haben mittlerweile auch noch ihre Krankenversicherung verloren.
Laut Eurostat leben 3,8 Millionen Griechen unterhalb der Armutsschwelle. Das sind fast 35 Prozent der Bevölkerung. Da reicht das Geld in vielen Familien nicht mal mehr für die Stromrechnung. Zumal die Stromtarife in Griechenland seit 2007 um fast 60 Prozent gestiegen sind. Allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres haben die Elektrizitätswerke 257 000 Kunden, die mit ihren Gebühren im Rückstand waren, den Strom abgedreht.
Bürgerbewegung gegen Stromabschaltung
Einer von ihnen ist Evangelos Sarris. Der 56-Jährige lebt in einer kleinen Zweizimmerwohnung im Athener Stadtteil Peristeri. Seit drei Jahren ist er ohne Job, die Arbeitslosenhilfe lief nach zwölf Monaten aus. Die wenigen Ersparnisse sind fast aufgebraucht. Den Elektrizitätswerken schuldet er rund 2000 Euro. Vergangenes Jahr vereinbarte er, die Schulden in 40 monatlichen Raten abzustottern. Doch als er im Sommer mit den Zahlungen sechs Monate im Rückstand war, ging das Licht aus. Evangelos hat sich daran gewöhnt, ohne elektrisches Licht, warmes Wasser, Herd und Kühlschrank auszukommen. Aber jetzt wird es kalt in der kargen Wohnung. Nachts kriecht Evangelos in einen Schlafsack. „Ich habe Angst vor dem Winter“, sagt er.
Nicht alle, denen der Strom abgedreht wird, finden sich damit ab. Mit etwas Übung ist es kein Kunststück, die Verbindung zum Netz wieder herzustellen. Tassos Karagiorgos und Theodoros Marinelis sind zwei, die das schon tausendfach gemacht haben. Sie gehören zur „Bürgerbewegung gegen Stromabschaltungen“. In den vergangenen 18 Monaten haben der 51-jährige Tassos und der 43-jährige Theodoros rund 4000 Wohnungen wieder ans Stromnetz angeschlossen. Das ist zwar strafbar, aber „die Elektrizitätsgesellschaft begegnet uns mit relativer Toleranz“, berichtete Theodoros der Zeitung „Ethnos“. Die beiden Strom-Piraten haben viel Zeit, sich ihrer selbstgewählten Aufgabe zu widmen. Sie sind selbst seit drei Jahren arbeitslos.
„Ich habe Angst vor dem Winter“
Bei den Elektrizitätswerken schätzt man, dass jeder zehnte gekappte Stromanschluss in der Zwischenzeit illegal wieder hergestellt worden ist. Die Einbußen für das Unternehmen sind gewaltig. Die unbezahlten Stromrechnungen belaufen sich inzwischen auf weit über eine Milliarde Euro. Jeden Tag wachsen die Außenstände um rund vier Millionen Euro. Nicht nur private Haushalte, auch Firmen, Behörden und Kommunen lassen übrigens ihre Stromrechnungen wegen des Sparzwangs oft unbezahlt.
Die Einbußen des Staatsunternehmens DEI sind eine, die existenzielle Not Zehntausender Familien die andere Seite der Medaille. Der Tod der 13-jährigen Sara hat auch die Regierung aufgerüttelt. Am vergangenen Samstag berief der für Umwelt und Energie zuständige Minister Giannis Maniatis eine Krisensitzung ein, an der neben dem DEI-Chef Arthouros Zervos auch Vertreter der Regionalverwaltungen und des griechischen Gemeindeverbandes teilnahmen.
Im ganzen Land sollen nun Kommissionen gebildet werden, die sicherstellen, dass bedürftigen Familien nicht mehr der Strom abgedreht wird. Notleidende Haushalte, die bereits seit einiger Zeit ohne einen Anschluss sind, sollen schnell und unbürokratisch wieder ans Elektrizitätsnetz kommen. Minister Maniatis schätzt ihre Zahl auf rund 15 000. Spätestens bis Weihnachten soll der Strom in den Wohnungen der bedürftigen Familien wieder fließen.
Trauerfeier für eine 13-Jährige
Für die 13-jährige Sara und ihre Mutter kommen diese Hilfen zu spät. Freunde und Mitschüler des Mädchens versammelten sich vergangene Woche zu einer Trauerfeier in der Kirche Sankt Nikolaus in Thessaloniki. „Niemand von uns hatte eine Ahnung, wie schlimm es um die Mutter und ihre Tochter stand“, sagt Archontoula Anesti, die Leiterin des Gymnasiums, das Sara besuchte. Mutter und Tochter stammten aus Serbien. Sie waren vor einigen Jahren nach Griechenland gekommen. Dann wurde die Mutter arbeitslos. „Sie hatten vor, nach Serbien zurückzugehen“, berichtet eine Nachbarin.
Doch dazu kam es nicht mehr. Wenigstens ihre Tochter will Zorica Pawlowitsch nun in Serbien beerdigen. Die Stadt Thessaloniki wird für die Überführung des Sarges in die Heimat aufkommen. Unterdessen ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen die Frau – wegen fahrlässiger Tötung ihrer Tochter.