Essen. Der Zorn ist verpönt. Von klein auf lernen wir ihn zu beherrschen: Zügle deinen Zorn! Wir verbinden mit ihm Geschrei und Gewalt. Dabei bringt uns der Zorn – das Gegenteil von Gleichgültigkeit – die wichtige Engerie, um etwas zu verändern. Nicht nur zum Bösen, sondern auch zum Guten.
Dass die Menschen überhaupt auf ihn aufmerksam wurden, grenzt schon an einem Wunder. So unauffällig ist dieser Mann: Lockenkopf, Hemd lässig über der Hose, in deren Taschen er seine Hände vergräbt. So steht Erdem Gündüz auf dem Taksim-Platz, und steht, und steht. Am Abend des 17. Juni, als die Regierung den Menschen in Istanbul verbietet zu demonstrieren für ihren Gezi-Park – und gegen das autoritäre System, das mit Knüppeln zuschlägt. Passanten machen Bilder, verbreiten die Nachricht vom „stehenden Mann“ über Twitter. Während sich die Polizei fragt: Ist das ein Protest?
Die Regierenden fürchten den Volkszorn. Der Zorn ist eine der sieben Todsünden der katholischen Kirche. Jedes Kind lernt: Zügle deinen Zorn! Denn der bedeutet Geschrei, Gewalt. Der Zorn hat einen schlechten Ruf. Dabei ist Zorn Energie, ein Ausdruck des Lebenswillens, ein Antriebsmotor für Veränderungen – nicht nur zum Bösen, sondern auch zum Guten.
Ein Fotograf macht Promis zornig
Wer Zorn zu erklären versucht, die starke emotionale Erregung, der landet schnell bei Wut. Aber meinen diese Wörter wirklich dasselbe? „Ein Tier, ein Sturm kann wüten, gewiss auch ein Rasender, aber zürnen kann nur ein Mensch, von Gott ganz zu schweigen“, schreibt die Rechtswissenschaftlerin und frühere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach in dem Buch „Der Zorn – Eine Hommage“.
Zorn setzt somit Verstand voraus. Er ist nicht blind wie die Wut, die schnaubt und schnell verraucht. Zorn sieht klar seinen Gegner, der gegen das Moralempfinden verstößt, gegen das, was uns als übergeordnetes Recht erscheint. Während die Wut die Ungerechtigkeit dieser Welt beweint, prangert der Zorn das Unrecht an.
Wut und Zorn
In unseren alltäglichen Gesprächen unterscheiden wir nicht so fein zwischen diesen Emotionen – und eindeutig ziehen auch Wissenschaftler keine Grenze zwischen ihnen. Und doch scheinen Zorn und Wut nicht identisch zu sein.
Zorn ist nicht gleichgültig anderen Menschen gegenüber, Zorn macht erfinderisch wie Erdem Gündüz, den stehenden Mann. Trotzdem sehen wir beim Zorn meist nur seine furchterregenden Seiten.
Wir denken an den Jähzorn, bei dem sich in einem Anfall der aufgestaute Ärger Luft macht. Wobei man hier wohl nicht zufällig eher vom Wutanfall als vom Zornanfall spricht, wenn brave Büromenschen ihre Computermaus gegen den Bildschirm schmettern, weil mal wieder der Rechner abgestürzt ist.
Geraubte Ehre war lange Zeit ein Grund für Zorn
Schon Homer sah im Zorn die zerstörerische Kraft. Je nach Übersetzung heißt es bereits am Anfang der „Ilias“, einem der ältesten Werke der europäischen Literatur, die mit dem Tod vieler Menschen endet: „Singe den Zorn“. Achills Zorn entzündet sich in diesem Epos, weil Agamemnon ihm als Demonstration seiner Macht das Mädchen Briseis raubt, das der griechische Krieger selbst als Trophäe nach der Belagerung Trojas erhalten hatte. Er fühlt sich in seiner Ehre verletzt. Und in Herman Melvilles Roman „Moby Dick“ kann Kapitän Ahab von seinem Feind, dem weißen Wal, nicht lassen, der ihm einst ein Bein abriss. Rache will er nehmen, doch am Ende bringt ihn der Zorn um.
Der Zorn wurde männlich
Geraubte Ehre und Rachegefühle, Aggressionen und Feindseligkeiten – das waren lange Zeit Motive des Zorns. Während die Menschen im Mittelalter verärgert aufeinander losgingen, versuchte man Anfang des 19. Jahrhunderts, den Zorn in geregelte Bahnen zu lenken. Männer, die ihre Ehre wiederherstellen wollten, trafen sich zum Duell.
Mit Wiederherstellung der Ehre hat der Zorn heute nur noch wenig zu tun, zumindest hierzulande. Wobei zum Beispiel das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 daran etwas zweifeln lässt. Wir erinnern uns, warum der französische Kapitän Zinedine Zidane eine rote Karte bekam: Er stieß seinen Kopf gegen die Brust des italienischen Spielers Marco Materazzi. Später erklärte Materazzi, dass er Zidanes Schwester eine „Nutte“ geschimpft habe. Wollte Zidane ihre oder auch seine Ehre wiederherstellen?
Aber zurück zum Duell im 19. Jahrhundert: Der Zorn wurde männlich. Das war neu. Denn zunächst schrieb man eher Frauen den Zorn zu. So war man sich im 18. Jahrhundert gewiss: „Nur Männer, erwachsene Männer, könnten ihre Leidenschaften beherrschen“, erklärt die Historikerin Ute Frevert, Direktorin des Forschungsbereiches „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut. „Frauen und Kinder seien nicht in der Lage, sie verfügten nicht über die Stärke des Willens, ihre Affekte zu zügeln“, so glaubten die Menschen damals. Mit Worten und Drohungen wandelten die Frauen ihre „körperliche und geistige Schwäche“ in Stärke um. Doch im bürgerlichen 19. Jahrhundert schickte sich das nicht mehr. Frauen, so eine bis heute geltende Norm, sollten sich lieber nicht zornig in der Öffentlichkeit zeigen.
Der Zorn ist verpönt. Mag er auch noch so eine belebende Wirkung haben und zu uns gehören – bereits Aristoteles beschrieb den Zorn als eines der Grundgefühle des Menschen. Doch stattdessen heißt das Ziel der Erziehung bis heute: Selbstbeherrschung, Selbstdisziplin. Halte deinen Zorn im Zaum! Die „Trotzphase“ in der Kindheit gilt es zu überwinden.
Kirche und Regierungen versuchten den Zorn zu kontrollieren
Immer wieder wurde versucht, den Zorn zu kontrollieren: So erklärte die katholische Kirche den Zorn zu einer der sieben Todsünden, also Laster, die einen Menschen erst zum Sünder machen: Neid und Faulheit, Habgier und Hochmut, Wolllust und Völlerei – und eben Zorn. Nur Gott gestand man den Zorn zu, den gerechten Zorn Gottes. Zorn lässt andere fürchten. Mit dem Zorn Gottes festigte sich auch die Gottesfurcht.
Nicht die Zornigen verübten in Nazi-Deutschland den Massenmord
Regierende haben immer den Volkszorn gefürchtet, den kollektiven Zorn. „Brot und Spiele“ waren dem Kaiser im alten Rom auch nur deshalb so wichtig, weil ein sattes und abgelenktes Volk nicht so schnell zornig wird. Eine Ausnahme bilden Diktaturen, die den Volkszorn säen, um Verbrechen zu rechtfertigen: Die Nationalsozialisten mobilisierten den „Volkszorn gegen die Juden“, der in die „Reichskristallnacht“ 1938 mündete. Doch nicht die Zornigen verübten den Massenmord. Das übernahmen die Verlässlichen, die besonnen und bürokratisch vorgingen. Der Wirtschaftsjournalist Wolf Lotter sagt: „Es waren Charaktere, auf die die Deutschen bis heute viel halten, Menschen, von denen eine gewisse Harmonie und Solidität ausgeht.“
Tun wir dem Zorn nicht Unrecht, wenn wir ihn zuerst mit Gewalt verbinden? Der Psychologe Rolf Degen schreibt in dem Buch „Das Ende des Bösen“: „Nur in zehn Prozent aller Fälle arten Zorneswandlungen in Handgreiflichkeiten aus, und ein enormer Anteil aller Grausamkeiten und Gewalttaten wird aus eiskalter, gefühlloser Berechnung ausgeführt.“
Zorn erhitzt uns bis zur Zornesröte. Aber Zorn macht nicht blind. Er schärft unseren Blick für die Realität. Sozialpsychologen fanden nach den Anschlägen vom 11. September 2001 heraus, dass das Terrorismus-Risiko viel realistischer eingeschätzt wurde, wenn die befragten Amerikaner nicht von Furcht erfüllt, sondern verärgert waren. Mit dem Zorn in uns werden wir selbstsicher, mutiger – und auch deshalb erhöht dieses intensive Gefühl die Chance zum Wandel. Privater und politischer Protest braucht Zorn, das Gegenteil von Gleichgültigkeit. Die großen Persönlichkeiten des Widerstands wurden vom Zorn getrieben – und verzichteten dabei auf Gewalt: Rosa Parks, Gandhi oder Nelson Mandela. Und auch die friedliche Revolution in der DDR wäre ohne Zorn in der Bevölkerung nicht möglich gewesen.
Nach acht Stunden steht Erdem Gündüz immer noch auf dem Taksim-Platz. Als die Polizei den stillen Tänzer anspricht, geht er. Er will keine Gewalt. Dafür nehmen ihn andere zum Vorbild, bleiben einfach stehen. Und Gündüz’ Gesicht geht um die Welt, die durch ihn wieder nach Istanbul schaut. Und was die Menschen dort sehen, macht einige zornig.
Weiterlesen – Bücher über den Zorn
- Dieser Essay-Band beleuchtet den Zorn von vielen Seiten: psychologisch und politisch, soziologisch und moralisch. Helmut Ortner (Hg.): Der Zorn – eine Hommage. Zu Klampen, 174 Seiten, 24 € .Gedanken, wie etwa von Jutta Limbach, Ute Frevert, Uwe Wittstock oder Wolf Lotter sind auch in den Artikel auf dieser Seite geflossen.
- Wissenschaftlich fundiert nähert sich dieses Buch dem Zorn: Bozena Anna Badura, Kathrin Weber (Hg.): Ira – Wut und Zorn in Kultur und Literatur, Psychosozial-Verlag, 318 S., 29,90 €
- Ein Grundlagenbuch, aber keine leichte Kost: Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit, Suhrkamp, 2008, 356 S., 12 €