1983 – das ist erst 30 Jahre her. Wenige wissen, dass sich damals die vielleicht gefährlichsten Momente des Kalten Krieges abspielten. Das Protokoll dramatischer Herbsttage.

Hast du etwas Zeit für mich,/Dann singe ich ein Lied für dich/Von 99 Luftballons/Auf ihrem Weg zum Horizont/Denkst du vielleicht grad an mich/Dann singe ich ein Lied für dich/Von 99 Luftballons/Und dass so was von so was kommt. Nena, 1983

Hoch über dem US-Bundesstaat Montana ist Kosmos 1382 etwas schwer von Begriff. Die Software des sowjetischen Spionagesatelliten wurde vielleicht ungenau programmiert. Wer weiß. Ein Sonnenstrahl blitzt auf die empfindlichen Module. Das hält Kosmos für den feurigen Schweif, der beim Start einer amerikanischen Atomrakete aufblendet. Schnell funkt er die Meldung an Serpuchow-15, den geheimen Ort südlich der Hauptstadt der UdSSR. Dort hat Oberst Stanislaw Petrow Dienst. Petrows Uhr zeigt das Datum des 26. September 1983. Es ist kurz nach Mitternacht Moskauer Zeit. Auf seinem Bildschirm leuchtet das Symbol für „Start“ auf. „Ich stand unter Schock“, wird er Jahre später über den Moment erzählen. Noch 45 Minuten bis zum Einschlag, rechnet er. Stanislaw Petrow muss seinen Job tun: Entscheiden, ob er den offenbar eingeleiteten amerikanischen Vernichtungshieb gegen sein Land mit einem sowjetischen Raketenhagel auf die großen Bevölkerungszentren des Westens rächen soll. Was bedeutet: Aus dem Globus wird, Jahrmillionen nach dem Urknall, eine leblose, radioaktiv strahlende Aschewüste.

99 Luftballons / Auf ihrem Weg zum Horizont/ Hielt man für Ufos aus dem All/ Darum schickte ein General/Ne Fliegerstaffel hinterher/ Alarm zu geben, wenn es so wär/ Dabei warn da am Horizont/ Nur 99 Luftballons

Die Deutschen sind ahnungslos. Sie genießen diesen warmen Spätsommer. Biergärten und Wanderwege sind voll. Der „Spiegel“ titelt zweideutig: „Heißer Herbst“. Das Magazin meint die Friedensbewegung, die bei dem Sonnenschein Hunderttausende auf die Straßen bringt, um gegen die Nato-Raketennachrüstung zu demonstrieren. Die neue Regierung unter Helmut Kohl ist hartleibig. Sie denkt nicht daran, nachzugeben. Sie hat zudem noch andere Sorgen. Das Waldsterben ist Thema. Und heimlich amüsiert sich der CDU-Kanzler über den ungeliebten „Stern“, der in diesen Herbsttagen mit seinen Hitler-Tagebüchern auf eine plumpe Fälschung hereingefallen ist.

Was die lebenslustige Republik nicht weiß: In den Kulissen der Weltpolitik läuft gerade etwas dramatisch aus dem Ruder. Die atomare Apokalypse ist in diesen neun Wochen vor 30 Jahren, zwischen Ende August und Anfang November 1983, so nah wie nie zuvor.

Nach einem Jahrzehnt der Entspannung ist die Luft bleihaltig. Alte Männer regieren in Washington und Moskau. Ronald Reagan, der Ex-Schauspieler, der die Sowjetunion das „Reich des Bösen“ nennt. Er will sie durch Aufrüsten zum Abrüsten zwingen. Jurii Andropow ist sein Gegner im Kreml. Der misstrauische Hardliner, früher Chef des KGB, glaubt an einen westlichen Überraschungsangriff und will ihn rechtzeitig parieren.

Es ist das Klima für eine politische Paranoia. Beide Seiten schenken sich nichts. Die USA sind schon 1981 mit 83 getarnten Kriegsschiffen durchs Nordmeer bis weit vor Poljarnik gefahren, das die Leser von Tom Clancys „Roter Oktober“ bald als U-Boot-Basis des sowjetischen Kapitäns Ramius kennenlernen. Washington plant mit SDI überdies ein sündteures Raketenabwehrsystem im All. „Ess die Ei“, verspotten die Schüler in Deutschland Reagans Plan – und können die Gefahr der Zeit nicht im Ansatz begreifen. In Moskau hat der hypernervöse Andropow gerade „Ryan“ befohlen, ein Alarmsystem. Was heißt: Kernwaffenangriff. An Moskwa und Potomac ist man bis aufs Blut gereizt. Verhandlungen sind am toten Punkt. Der Westen will auf die Stationierung von sowjetischen Mittelstreckenraketen seit Ende der 70er Jahre mit eigenen Waffen, den Pershing II, antworten. Die Bunker dafür stehen in Deutschland.

Murphys Gesetz ist: Wenn etwas schief gehen kann, geht es schief. Am 1. September sollen in Schwäbisch-Gmünd Blockaden eines US-Stützpunktes durch die Friedensbewegten beginnen. Doch an diesem Morgen melden die Agenturen noch anderes: Flug 007 der Korean Airlines ist über der sowjetischen Pazifikinsel Sachalin vom Radar verschwunden. 262 Männer, Frauen und Kinder sind an Bord. Ein Absturz? In Wahrheit: Ein Abschuss. Sowjetische Kampfpiloten haben den Jumbo für einen Spionagejet gehalten. Keiner hat das überlebt.

99 Kriegsminister,/ Streichholz und Benzinkanister,/ Hielten sich für schlaue Leute/ Witterten schon fette Beute./ Riefen Krieg und wollten Macht./ Mann, wer hätte das gedacht/ Dass es einmal so weit kommt/ Wegen 99 Luftballons

Diplomatenschulen lehren, spätestens in solchen Momenten zur Vernunft zu kommen. Die Notbremse zu ziehen. Die Deeskalation einzuleiten, wie das in ihrer Sprache heißt. Zerstrittene Familien würden sagen: Wir sollten miteinander reden. Aber geschmeidige Diplomaten haben in diesem Herbst vor 30 Jahren nicht das Sagen. Spannungen bauen sich weiter auf. Acht Wochen nach Sachalin beginnt das jährliche westliche Manöver Able Archer. Wie immer: US-Truppen fliegen in Deutschland ein. Wie immer: Politiker begeben sich in Bunker. Diesmal tut das aber auch Ronald Reagan. Es ist doch alles eine Übung, nur ein wenig zugespitzt. Doch im Kreml missdeuten sie die Hektik im Westen als Zeichen des kurz bevorstehenden Angriffs. Jurii Andropow glaubt, das ist der Dritte Weltkrieg. In der Nacht des 8. November 1983 rollen auf seinen Befehl hin MiGs auf die Startbahn des ostdeutschen Flugplatzes Himmelpfort bei Berlin. Atombomben sind unter die Flächen geklinkt. Ihr Auftrag: Ein Präventivschlag. 100 Städte auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs stehen auf der Zielliste.

In den Geschichtsbüchern ist von der Berlin-Blockade 1948 und der Kuba-Krise 1962 zu lesen. Aber was wissen wir von vielleicht viel gefährlicheren, weil unkontrollierbaren Stunden des Kalten Krieges? Von 1968, als im Abstand von drei Monaten erst ein sowjetisches und dann ein amerikanisches Atom-U-Boot aus ungeklärten Gründen sinken? Oder eben von 1983. Staatsarchive bleiben heute noch unzugänglich. So ist auch 2013 im Detail unklar, wer die Spirale der drohenden Vernichtung im „heißen Herbst“ durchbrochen hat. Vielleicht waren es Glücks- und Zufälle. Wer glaubt, wird an die Vorsehung denken. Eine Rolle spielten Spione in Ost und West wie der DDR-Top-Agent Rainer Rupp alias „Topas“ im Brüsseler Nato-Hauptquartier. Sie haben ihren Chefetagen gedeutet, die jeweils andere Seite verstehe falsch oder meine es nicht so.

Vom Kinostar Ronald Reagan ist bekannt, dass er nicht lange zuvor den Spielberg-Thriller „The Day After“ gesehen hat. Als er die Geheimdienstberichte erhält, versteht er plötzlich. Er zieht aus dem Bunker aus und reist auf seine Ranch zum Pferdestreicheln. Mit den TV-Bildern davon signalisiert er Andropow: Ich liebe das Leben. Ich will dir nichts tun. Auch der Greis im Kreml sieht das jetzt so. Die Supermächte dimmen die Krise herunter.

Sechs Wochen zuvor hat Stanislaw Petrow die Menschheit ein erstes Mal gerettet. In der dramatischen Nacht des 26. September entschied der Oberst, nicht auf den roten Knopf zu drücken: Konnte eine einzige Rakete der befürchtete Großangriff sein? Kaum. Dass ein Sonnenstrahl den gefühllosen Satelliten Kosmos 1382 irritieren konnte, das erfuhr er erst nach 1990. Da war der Kalte Krieg Geschichte.

99 Jahre Krieg/ Ließen keinen Platz für Sieger/ Kriegsminister gibt’s nicht mehr/ Und auch keine Düsenflieger./ Heute zieh ich meine Runden/ Seh’ die Welt in Trümmern liegen./ Hab nen Luftballon gefunden/ Denk an dich und lass ihn fliegen.