Essen.. Warum Meinungsforscher oft knapp daneben liegen – und wie ihre Ergebnisse präziser werden können: Ein Blick auf die Grenzen zwischen mathematischem Unsinn und Wissenschaft.
Während des Bundestagswahlkampfes haben Umfragen Hochkonjunktur. Woche für Woche versorgen die großen Meinungsforschungsinstitute Deutschland mit neuen Zahlen. Sie befragen tausende Menschen am Telefon, „was würden sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre“. Die berühmte Sonntagsfrage. Aber was sagen diese Zahlen genau aus und was bedeuten sie für Wähler und Gewählte?
Fritz Ulmer, Statistikprofessor an der Universität Wuppertal, sagt seit Ende der 1980er Jahre, dass Wahlprognosen ausgemachter Schwindel seien. Umfragen, die zwischen vier und sechs Prozent vom Wahlergebnis abweichen, geben ihm recht.
Zwei Beispiele: Zur Bundestagswahl 2002 prognostizierten der SPD die Demoskopen bis zu 45 Prozent – am Ende erreichte sie nur 38,5. Und bei der Bundestagswahl 2005 schaffte es die CDU nur auf 35,2 Prozent. In den Umfragen stand sie bei satten 40 Prozent.
Haben Umfragen Einfluss auf die Wahlentscheidung?
Und der Wahlforscher Rüdiger Schmitt-Beck geht auch bei der kommenden Wahl am 22. September davon aus, dass Umfrage-Ergebnisse abweichen werden. „Die wirtschaftsliberalen Wähler der CDU werden jetzt alle FDP wählen“, sagt er. Der Grund: eine Fortsetzung der Schwarz-Gelben Regierung. Die FDP liegt zurzeit in allen Umfragen stabil bei fünf Prozent.
Der Mannheimer Politologe spricht hier von „strategischen Wählern“. Sie machen ihre Entscheidung von Trends in den Umfragen abhängig. Dass Wähler sich auf diese Weise verhalten, belegte Rüdiger Schmitt-Beck mit einer Studie zur Bundestagswahl 2005. Ob Umfragen tatsächlich einen Einfluss auf die Wahlentscheidung haben, gilt unter Politikwissenschaftlern aber noch als nicht endgültig gesichert.
Überein stimmen sie dabei, dass die gängige Umfragepraxis fehleranfällig ist. Der Düsseldorfer Politologe Stefan Marschall sagt, dass Umfragen immer zwischen zwei und fünf Prozent vom tatsächlichen Wert abweichen. Statistiker nennen dies Irrtumswahrscheinlichkeit.
Die Probleme fangen bereits bei der Stichprobe an. Hier sind auch die Demoskopen selbstkritisch: „Kein Institut kann bei einer Sonntagsfrage ein hundertprozentig repräsentatives Publikum der tatsächlichen Wählerschaft befragen. Es bleiben unterm Strich immer Unsicherheiten und Unschärfen“, sagte der Forsa-Meinungsforscher Manfred Güllner jüngst dem Nachrichtenmagazin Stern.
Bestimmte Gesellschaftsgruppen sind nicht stark vertreten
Dennoch ist immer von repräsentativen Umfragen die Rede. Aber auch, wenn die Meinungsforscher alles richtig machen, lässt sich der Zufall am Ende nicht kontrollieren. So schützt selbst die sorgfältigst gezogene Stichprobe nicht davor, dass die Meinungsforscher an Anhänger einer Partei oder an bestimmte Gesellschaftsgruppen geraten, die in der Grundgesamtheit aller Wähler nicht so stark vertreten sind. „Schwer erreichbare Gruppen sind fast immer unterrepräsentiert“, erklärt Rüdiger Schmitt-Beck. Sie bekommen die Institute bei ihren Umfragen schlechter ans Telefon, da sie seltener zuhause sind. So sind Frauen oft stärker vertreten als Männer und Ältere häufiger als Jüngere. Ein kaum lösbares Dilemma, das Mobiltelefone weiter verschärfen.
Zudem sinke seit Jahren die Bereitschaft der Menschen, an solchen Umfragen teilzunehmen. Das führt zu weiteren Ausfällen in der Stichprobe. Parteien wie die Alternative für Deutschland, deren Mitglieder gegenüber dem politischen System kritisch sind, können die Umfragen so unterschätzen. Auch Wähler extremer Parteien, wie der rechten NPD, antworten nicht so, wie sie am Wahltag ihr Kreuzchen machen. Den Meinungsforschern nennen sie eine Partei, die sozial akzeptiert ist. Das Phänomen lässt sich auch bei Nichtwählern beobachten. In Umfragen bekennen sie sich nicht dazu, Wahlmuffel zu sein.
Gestiegener Anteil der Unentschlossenen
Ein weiteres Problem ist der über die Jahre gestiegene Anteil der Unentschlossenen. Sie entscheiden sich erst kurz vor der Wahl. Das sind laut Meinungsforschern zurzeit ein Drittel der Wähler. Was sie in Umfragen antworten, ändert sich schnell. Ein extremes Beispiel ist das Elb-Hochwasser 2002. Die als Jahrhundertflut bezeichnete Katastrophe kam als Wahlhelfer für Gerhard Schröder (SPD) damals zur rechten Zeit und sicherte ihm die Kanzlerschaft.
Solche Probleme versuchen die Meinungsforschungsinstitute zu lösen, in dem sie die erhobenen Daten gewichten. Sprich, wenn nur zehn Prozent erwerbstätige junge Männer befragt wurden, ihr Anteil in der Gesellschaft aber bei 20 Prozent liegt, dann zählen ihre Antworten in der Umfrage stärker. Es sind häufig Erfahrungswerte, nach denen die Meinungsforscher gewichten. Wie sie genau rechnen, das wissen nur die Institute.
„Es wäre wünschenswert, dass die Gewichtung offen gelegt würde“, kritisiert der Duisburger Politologe Achim Goerres. Was an Universitäten bereits Standard ist, fällt bei den kommerziellen Meinungsforschungsinstituten unter das Betriebs- und Geschäftsgeheimnis. Immerhin sind die „Kochrezepte“, wie Rüdiger Schmitt-Beck die Verfahren nennt, das Kapital, mit dem die Institute wuchern.
Twitter und Google werden ausgewertet
Neben klassischen Umfragen haben sich in den vergangenen Jahren eine Reihe anderer Methoden etabliert. In den USA arbeiten Forscher schon länger mit Twitter-Nachrichten und Google-Abfragen, die sie auswerten, um das Wahlergebnis vorherzusagen. Auch Wählerbörsen sind ein probates Mittel. PESM, Wahlfieber oder Wahlwette sind Seiten, auf denen Menschen auf den Ausgang der Bundestagswahl wetten können. Mit gutem Politik-Gespür und Schwarmintelligenz lässt sich dort nicht nur Geld verdienen, sondern es lassen sich auch Wahlprognosen erstellen. Umstritten ist auch dieses Verfahren.
Eine alternative sind Prognosemodelle, wie sie Forscher schon länger erfolgreich in den USA anwenden. Nate Silver gilt dort als Prognosestar. Die vergangenen Präsidentschaftswahlen hat er treffsicher vorhergesagt. Silvers Prognosen sind überlegen, weil sie auf verschiedenen Datenquellen basieren. Er bedient sich der Zahlen der Meinungsforschungsinstitute wie Gallup, YouGov, American Research Group oder Rasmussen. Zusätzlich bezieht er demografische Kennzahlen und Daten aus vergangenen Wahlen ein. Aus allen Daten errechnet Silver mit einem komplizierten stochastischen Verfahren eine Projektion. Das ist der zu erwartende Stimmanteil. Auch deutsche Meinungsforscher arbeiten mit Projektionen, in dem sie gewichten. Aber ihre Ergebnisse beruhen lediglich auf den Angaben von 1000 bis 2000 Menschen, die sie befragen.
Prognosen auf dem Prüfstand
Das gleiche Prinzip wie Nate Silver wendet auch Andreas Graefe an. Der Politikwissenschaftler von der Ludwigs Maximilian Universität hat das Projekt „PollyVote“ ins Leben gerufen. Getestet hat er es bislang nur bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Dort funktionierte das Modell gut. „PollyVote“ wertet Wahlumfragen, Wahlbörsen, die Einschätzungen von Experten sowie Vorhersagen von statistischen Modellen aus. Andreas Greafe ist sich sicher, dass seine Prognosen sehr genau dem tatsächlichen Wahlergebnis entsprechen werden. Sein Modell sagt Schwarz-Gelb aktuell 47,9 Prozent vorher. Ob er recht behält, zeigt sich aber erst am Wahltag. Dann stehen alle Prognosen und Umfragen auf dem Prüfstand.