Essen. . Fußball ist die einzige Sportart, die wächst und wächst. Profispieler wechseln für Millionensummen von Verein zu Verein, Arenen heißen nach Sponsoren, Eintrittskarten sind begehrt. Wie aus einem harmlosen Freizeitvergnügen ein Milliardengeschäft wurde und warum beim Wachstum kein Ende abzusehen ist.

Uli Hoeneß und Paul Breitner liegen zusammen in einem Doppelbett. Hoeneß blättert im „Stern“, Breitner liest ein Buch. Es ist das Jahr 1978, der FC Bayern München bereitet sich auf die neue Saison der Fußball-Bundesliga vor, und Breitner hat mit seinem Kumpel Hoeneß gemeinsam beschlossen, ein Kamera-Team für den Dokumentarfilm „Profis“ ins Hotelzimmer zu lassen. Es ist eins dieser altbackenen Hotelzimmer mit einem Waschbecken in der Ecke.

Drei Sterne, vielleicht.

Hoeneß und Breitner sind damals längst Deutscher Meister geworden, haben den Europapokal gewonnen und sind Weltmeister geworden. Sie sind Stars im Fußballgeschäft. Aber an diesem Abend haben sie bereits die Zähne geputzt, liegen mit freiem Oberkörper unter den Bettdecken, plaudern über die neue Saison und beantworten Frage um Frage.

Heute läuft die Vorbereitung auf Großereignisse anders. Zehn Tage vor dem Champions League-Finale zwischen Borussia Dortmund und Bayern München haben beide Mannschaften einen Medien-Tag veranstaltet. Die Stars saßen dabei auf einem Podium unter Scheinwerfern und redeten. Das war’s! Bis zum Anpfiff am Samstag um 20.45 Uhr im Londoner Wembley-Stadion schotten beide Klubs ihre Profis seitdem ab.

Andere landeten auf dem Boden, der Fußball aber wächst und wächst

Champions League-FinaleKönig Fußball regiert bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert. 1954 stiftete er Deutschland mit dem WM-Titel von Fritz Walter und Co. nach dem Krieg eine neue Identität. In den 60er Jahren war er schon so groß, dass er mit Franz Beckenbauer sogar einen „Kaiser“ hervorbrachte. Auch andere Sportarten wuchsen. Es gab den Tennis-Boom mit Boris Becker und Steffi Graf. Die Formel-1-Manie um Rekord-Weltmeister Michael Schumacher aus Kerpen. Die Box-Besoffenheit um Henry Maske und Axel Schulz, bei dessen WM-Kampf gegen Francois Botha im Jahr 1995 gleich 18,9 Millionen Fernsehzuschauer einschalteten. Es gab das Rad-Hoch um Jan Ullrich, doch alles landete wieder auf dem Boden der Tatsachen, nur der Fußball nicht. Er wächst und wächst. Und er wird weiter wachsen.

Schließlich wurzelt der Fußball in Mythen. Einer der Mythen ist, dass Fußball ein Sport der Arbeiter ist und mit England und dem Ruhrgebiet aus rauen Gegenden kommt, in denen sie Fußball zur Not auch noch mit Gesteinsbrocken spielten. So fühlt es sich in den Erzählungen an. Allein: Es stimmt nicht. Fußball begann im 19. Jahrhundert als Schulsport der Mittelschicht, die Malocher von damals arbeiteten viel zu hart, um in der Freizeit überhaupt noch Lust auf Sport zu haben.

Der Fußball entwickelte sich zum Klebstoff der Gesellschaft 

Aber er wurde schnell populär. Denn er ist einfach zu begreifen, auf jeder Wiese und auf jedem Schulhof mit ein paar Jungs zu spielen, und später lieferte er auf den Zechen und in den Kohle-Revieren Gesprächsstoff bei der Arbeit und in der Kneipe. Eine Sportart entwickelte sich zum sozialen Klebstoff einer Gesellschaft.

Fußball-Begeisterung heute: Fans fotografieren einander am Trafalgar Square.
Fußball-Begeisterung heute: Fans fotografieren einander am Trafalgar Square. © dpa

Die Stars waren damals wie die Männer, die um die Ecke wohnten. Weltmeister Helmut Rahn trank sein Bier in seiner Stammkneipe in Essen, Weltmeister Fritz Walter freute sich über einen Motorroller, den er als Prämie für den Titel von 1954 bekam, und Weltmeister Horst Eckel wurde Sportlehrer an einer Realschule und öffnete die Tür zu seinem Einfamilienhäuschen stets im Trainingsanzug.

Den Sohn ohne Ticket auf die Tribüne geschmuggelt

Auf den Tribünen der Bundesliga spielten sich damals noch kuriose Szenen ab. Zum Beispiel 1975 in Duisburg. Wenn der FC Bayern München zum MSV ins ­Wedaustadion kam, war das Spiel des ­Jahres schnell ausverkauft, und die Frage lautete oft: Wie komme ich ohne Karte noch auf die Tribüne. 1975 lief es so: Der Vater hatte vor dem Eingang für seinen Freund und sich zwei Tickets in der Hand, in der er zugleich einen Zwanzig-Mark-Schein hielt. Dieser Schein war für den Ordner gedacht, der im Gegenzug auch den Sohn mit ins Stadion lassen sollte. Der Sohn hatte Angst vor dem Erwischtwerden, die Menschenmenge drängte, der Ordner lächelte, griff zur Hand des Vaters und winkte alle durch. Was man erst Augenblicke später sah: Er hatte die beiden Tickets und den Zwanzig-Mark-Schein durchgerissen und alles ordnungsgemäß zurückgegeben.

Nostalgie. Bei der WM 2006 in Deutschland, über die stets im Zusammenhang mit dem Begriff Sommermärchen gesprochen wird, gab es aus Sicherheitsgründen nur personalisierte Tickets. Jeder Zuschauer musste beim Kauf der Karte seine Ausweisdaten mitliefern, die Einlasskontrolle funktionierte per Elektronik-Scanner, und hinter dem Eingang warteten Leute vom Sicherheitsdienst zur Leibesvisitation.

Realität und Legende haben sich vermischt.

Solche Fakten spielen in der mittlerweile romantischen Verklärung des Sommermärchens keine Rolle mehr. Fußball hat sich zu einem Event entwickelt, bei dem es wichtig ist, einfach nur dabei zu sein. Realität und Legende haben sich vermischt. 1976 durchbrach der 1. FC Köln die magische Grenze von einer Million Mark an Ablösesumme, die der Bundesligist für den Wechsel des belgischen Nationalstürmers Roger van Gool an den FC Brügge überwies.

© WNM

Roger van Gool war ein Mann mit Koteletten, so riesig, dass er wahrscheinlich niemals Kissen brauchte. Heute haben Fußballer kein Gel mehr in den Haaren, sondern eher ein paar Haare im Gel. Sie wechseln für geschätzte 90 Millionen Euro, die Real Madrid für den Portugiesen Cristiano Ronaldo an Manchester United überwies. Ronaldo, der pro Monat etwa eine Million Euro verdienen soll, zahlt wegen der speziellen Steuergesetze in Spanien nur den Steuersatz für Mindestlohnempfänger. 24 Prozent, statt der 47 Prozent für Spitzenverdiener. Der Staat subventioniert damit die Unterhaltung für das Volk. Ronaldo erledigt seinen Unterhaltungs-Job, wirbt für seine eigene Unterwäsche-Kollektion und spielt sorglosen Spaßfußball, als sei er von einem Elfjährigen an der Playstation gesteuert.

Traditionsnamen sind aus der Bundesliga-Welt lange verschwunden 

Vielleicht braucht man nur genügend Jünger, um nicht älter zu werden. Genau dies funktioniert beim Fußball. Obwohl Fans und Hauptakteure längst in verschiedenen Welten leben. Ihre Realitäten treffen nur noch im Stadion noch aufeinander. Bei diesen Treffen, die alle 14 Tage stattfinden, sind die Traditionsnamen lange verschwunden. Das Volksparkstadion in Hamburg, das Waldstadion in Frankfurt, das Niedersachsenstadion in Hannover. Weg! Heute gibt es die Trolli-Arena in Fürth oder die Glücksgas-Arena in Dresden.

Namen, die durch Sponsoren zusätzliche Millionen bringen und die dem Fan kaum weh tun. König Fußball hat mittlerweile ein so riesiges Reich, dass er dieses fast nur noch mit Hilfe der Massenmedien Fernsehen und Internet wahren und mehren kann.

Skandal beim FC Hollywood

Der FC Bayern hat vor Jahren den Namen FC Hollywood erhalten und tut alles dafür, dieses Synonym fleißig mit Inhalt zu füllen. Die Geschichten drehen sich dabei immer seltener um den eigentlichen Fußball. Es geht vielmehr um Geschichten aus den Leben der Stars. So beherrschte der damalige Nationaltorhüter Oliver Kahn wochenlang die Titelseiten der Boulevardzeitungen, als eine neue Frau in seinem Leben auftauchte.

Fußball-Begeisterung bricht sich  sogar dann Bahn, wenn man nur beim Public Viewing ist.
Fußball-Begeisterung bricht sich sogar dann Bahn, wenn man nur beim Public Viewing ist. © Dietmar Wäsche

Wo in den 70er-Jahren noch die Karriere und das Leben des farbigen Torjägers ­Erwin Kostedde zerbrach, weil er angeblich bei einem Tankstellenraub 190 Mark erbeutet haben soll (das Verfahren wurde übrigens später aus Mangel an Beweisen eingestellt), hat der Rekordmeister FC Bayern plötzlich gleich drei Problemfälle im Team. Von zerbrechenden Leben ist ­dabei allerdings nicht auszugehen.

Der Fußball ist im Showbusiness angekommen

Präsident Uli Hoeneß hat sich wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe selbst angezeigt. Der Haftbefehl wurde bis zur Klärung des Falls gegen Kaution ausgesetzt. Der frühere Verteidiger Breno kam jung und mit großen Hoffnungen aus Brasilien nach München. Er war dem Druck nicht gewachsen, zündete seine Villa an und bekam eine dreijährige Haftstrafe. Außenstürmer Franck Ribery ließ zu seinem Geburtstag eine minderjährige Prostituierte aus Paris einfliegen und muss sich dafür nach dem Endspiel der Champions League und dem DFB-Pokalfinale vor Gericht verantworten.

Den Fans ist es weitgehend egal. Schießt Ribery das entscheidende Tor gegen Dortmund, werden sie ihn feiern. Und beim Autokorso der Bayern, die damit vor zwei Wochen ihre deutsche Meisterschaft feierten, sangen die Menschen auf dem Marienplatz. „Uli Hoeneß, du bist der beste Mann!“

Damit ist der Fußball endgültig im Showbusiness angekommen. Das klingt schlimm, ist es aber nicht. Es ist der Grund, warum der Fußball überlebt und immer weiter wächst. Er bedient heutzutage jede Gruppe der Gesellschaft.

Jermaine Jones als böser Bube - die Rollen werden gut bezahlt 

Ein Profi wie der Schalker Jermaine Jones ist zum Beispiel der böse Bube. Die tätowierten Arme, die aus seinem Trikot lugen, sehen aus wie eine Kinderzimmertapete. Der Junge, der von ganz unten kommt, spricht gerne vom Kämpfen, auf dem Rasen kennt er keine Verwandten, dem damaligen Gladbacher Marco Reus hat er im Pokalspiel, das live im Fernsehen übertragen wurde, auf den gebrochenen Zeh getreten. Jones wollte sich Respekt verschaffen. Dass Jones, abseits der Fernsehkameras, sinnvolle Dinge sagt und manchmal sogar zerbrechlich wirkt, interessiert nicht. Die Showbranche braucht Stars, die Rollen besetzen. Und weil die Branche die Rollen gut bezahlt, darf sich das Mitleid in Grenzen halten.

Zudem achtet die Branche auf die Einhaltung der Regeln. An einem ganz normalen Sonntag, als Borussia Dortmund in dieser Saison in Hannover spielte, kletterte ein Ordner aufgeregt durch die Sitzreihen und entfernte zwei Wasserflaschen. Die Flaschen trugen nicht das Etikett des Sponsors, der Hannover 96 mit Getränken versorgt. „Stellen Sie sich mal vor, so eine Flasche ist irgendwann im Fernsehen zu sehen“, sagt der Ordner. „Stellen Sie sich das wirklich ja mal vor.“

Man stellte es sich vor. Fand aber nicht, was daran so schlimm gewesen wäre.

„Sie haben nur gewinkt und uns ansonsten in Ruhe gelassen“

Es gibt unbestechliche Figuren rund um die Bundesliga. Etwa Hellmut Krug, der viermal zum Schiedsrichter des Jahres gewählt wurde. Er ist mittlerweile 57 Jahre alt, aber er hat immer noch eine durchtrainierte Figur. Sein schmales, kantiges Gesicht ist das Gesicht eines Sportlers.

Er sitzt an seinem Wohnzimmertisch, trinkt Mineralwasser und erinnert sich an die 90er-Jahre. Schon damals, so sagt er, sei der Fußball sehr groß gewesen. Aber es gab eben diese Freiräume. So war es, als der gebürtige Gelsenkirchener im Mai 1998 in Amsterdam das Endspiel der Champions League zwischen Real Madrid und Juventus Turin geleitet hatte, das Real 1:0 gewann. Nach dem Schlusspfiff konnte er nicht schlafen und war mit seinen Assistenten noch in Amsterdam unterwegs. „Die Fans haben uns auf der Straße erkannt“, erinnert sich Krug. „Aber sie haben nur gewinkt und uns ansonsten in Ruhe gelassen.“

Frühstück bei Hoeneß

Dies ist der Punkt, an dem der Fan heute – 15 Jahre nach diesem Finale – plötzlich aktiv eingreifen kann. Ein Handy-Foto von einem Star an der Theke, direkt an eine Boulevard-Zeitung geschickt, ist eine potenzielle Skandal-Geschichte. Aus diesem Grund halten sich Spieler, Funktionäre und Schiedsrichter längst von öffentlichen Orten fern. Ein Handyfoto verkürzt scheinbar die Distanz, in Wahrheit macht das Handyfoto sie nur noch größer.

In dem Dokumentarfilm „Profis“, in dem Uli Hoeneß und Paul Breitner gemeinsam im Hotelbett liegen, gibt es eine andere wunderbare Szene. Fans konnten bei einem Preisausschreiben ein Frühstück bei Hoeneß zu Hause gewinnen. Uli Hoeneß serviert den acht Gewinnern in seiner Küche brav den Leberkäse aus dem Ofen. „Das gehört eben dazu“, sagt er und zuckt mit den Schultern.

Heutzutage unvorstellbar. Aber es sind eben die Zeiten, die sich ändern. Auf die Frage: „Wird Uli Hoeneß einmal Manager in einem Fußball-Klub?“ antwortete Paul Breitner damals: „Unvorstellbar!“

Wunderbarer Gesprächsstoff, und weil er niemals ausgeht, steht fest: König Fußball wird größer und größer und größer.