Essen. . Viele Menschen fühlen sich unwohl in ihrer Haut und wissen gar nicht so genau, was ihnen eigentlich fehlt. Sie versuchen ihre Sorgen mit dem Kopf zu lösen. Doch sie sollten auch mal auf ihren Körper hören. Denn der Körper vergisst nie.
Als sich Martin in der Küche einen Kaffee einschenkt, schüttet er die Hälfte daneben. „Verflixt“, flucht er. Die Nacht hat er kaum ein Auge zugemacht, der Magen krampft. Wie wird sein Chef heute reagieren? Er rennt aus der Wohnung, die Treppe hinunter. Den Fahrstuhl nimmt er nie, da fällt ihm das Atmen schwer. Seitdem ihn damals seine Mitschüler in einen Schrank gesperrt haben, mag er keine engen, geschlossenen Räume. An der Bushaltestelle trifft er auf seine Sonja. Sie schlingt ihm die Arme um den Leib. Du schaffst das – sagt sie, ohne es zu sagen.
Wie können wir eigentlich immer noch glauben, unser Handeln sei allein vom Kopf bestimmt? Abwägend, rational. Der Körper ist genauso wichtig. Er speichert Erlebnisse und Emotionen, die guten wie die schlechten, und ruft sie später wieder ab. Unser Körper sagt nicht nur uns, sondern auch anderen sehr viel. Doch nicht nur durch Gestik und Mimik. Immer mehr Studien zeigen, wie wichtig Berührungen sind. Berührungen geben uns Halt und ein Gefühl von Geborgenheit, sie entspannen uns und manchmal machen sie uns sogar richtig mutig. Wir sollten öfter auf unseren Körper hören, er ist ein Schlüssel zu unserer Seele. Denn der Körper vergisst nie.
Am Anfang war die Berührung: Ein Säugling nimmt seine Mutter über den Körper wahr. Er spürt den sanften Druck und die Wärme ihrer Haut auf seiner. Diese Berührung wird ihn beruhigen, ihm Halt geben, wenn er weint, wenn er schreit. Schon seit langem wissen Forscher, dass Babys nicht nur versorgt werden müssen. Für sie ist der Körperkontakt so lebenswichtig wie Nahrung.
Der Tastsinn ist der Sinn, der als erstes entwickelt ist
Der Tastsinn ist der Sinn, der sich beim Menschen als erstes entwickelt. Er fühlt sich, seine Mutter, und nimmt dadurch seinen Körper wahr. Wie wichtig das ist, zeigen Massagen von Säuglingen. Frühchen im Brutkasten entwickeln sich besser, wenn sie regelmäßig massiert werden.
Mit ungefähr einem Jahr spricht das Kind das erste Wort: „Mama.“ Von nun an verständigt es sich mehr und mehr über die Sprache mit seinen Eltern. Und doch endet damit nicht die Kommunikation mit dem Körper. Niemals. Auch noch als Erwachsener drücken wir uns mit Berührungen aus. Der Psychologe Matthew Hertenstein von der US-Universität DePauw hat dies bewiesen: Er bat rund 250 Studenten, nur mit Berührungen ihrem fremden Gegenüber Gefühle wie Furcht und Freude, Ablehnung und Liebe zu vermitteln. Er verband ihnen die Augen, sie durften kein Wort sagen. Das überraschende Ergebnis: In weit mehr als der Hälfte der Fälle lagen die Studenten richtig. Hertenstein: „Die meisten Berührungen dauerten nur ungefähr fünf Sekunden, aber in solch flüchtigen Augenblicken können wir unterschiedliche Emotionen vermitteln, und das ebenso gut wie durch unseren Gesichtsausdruck.“
Wie wir als Baby berührt wurden, beeinflusst uns ein Leben lang
Wie wir durch Berührungen miteinander „sprechen“, ist uns nur oft nicht bewusst. Meist ist es ja auch gut, dass uns manches in Fleisch und Blut übergegangen ist: Müssten wir jedes Mal beim Autofahren oder Musizieren intensiv überlegen, wie und wann wir umgreifen sollten, kämen wir nicht sehr weit. Der Körper weiß etwas, woran der Kopf nicht denkt. Schnell spielt er ein einmal erlerntes Muster ab. Erst wenn wir aus Versehen in den falschen Gang schalten oder uns verspielen, sind wir auch wieder mit dem Kopf bei der Sache.
Wir können uns allerdings noch so sehr bemühen, an die ersten Jahre unseres Lebens erinnern wir uns beim besten Willen nicht. Wie hat mich meine Mutter berührt? Wie hat mein Vater mich angeschaut? Haben sie meine Ängste und Sorgen verstanden oder sich abgewandt? Die meisten Eltern entwickeln ein gutes Gespür für ihr Kind, auch wenn sie das beim ersten Weinen des Babys noch nicht glauben mögen.
Es gibt aber auch Erwachsene, die sich selbst nicht wohl in ihrer Haut fühlen. Sie stellen ihren Wunsch nach Nähe über den des Kindes, weil sie selbst die Berührung eines erwachsenen Menschen vermissen. „Komm, gib mir mal einen Kuss. Komm!“ Und wieder andere fassen das Kind „hart“ an. „Das hat mir auch nicht geschadet.“
In unserem Körpergedächtnis ist aber fest verankert, wie sich unsere ersten Bezugspersonen verhalten – und wie wir für uns am besten darauf reagiert haben. Das beeinflusst ein Leben lang, ob wir unseren Körper mögen, wie wir mit Gefühlen umgehen und wie wir uns anderen Menschen gegenüber verhalten.
Dies zeigen zum Beispiel die Studien der Psychoanalytikerin und Säuglingsforscherin Beatrice Beebe von der Columbia University in New York (Säuglingsforschung und die Psychotherapie Erwachsener, Klett-Cotta, 294 S., 36,95 Euro). Beebe beobachtete Babys und stellte fest, dass selbst die Jüngsten ihre Mutter genau beobachten. Schon sie erlernen ein Beziehungswissen, das sie im Erwachsenenalter wieder abrufen, wenn sie Freunde suchen oder sich mit dem Partner streiten. Vereinfacht gesagt: Haben wir als Kind gelernt, dass wir uns in bedrohlich wirkenden Situationen nur auf uns selbst verlassen können, dass in diesen Momenten keiner da ist, der uns berührt, werden wir auch als Erwachsener nur wenig Nähe zu anderen Menschen suchen. Wir spüren Berührungsangst.
Jeder kennt das: Der Handschlag des einen Erwachsenen fühlt sich an wie ein glitschiger Fisch, der schnell wieder abtaucht. Ein anderer greift so fest zu, als ob er gar nicht mehr loslassen wolle. Die einen umarmen sich so intensiv, dass sie sogar die Beine des Gegenübers spüren. Die anderen schlagen nur schnell mit den Oberkörpern zusammen, wie eine Brücke – und schon bricht sie wieder zusammen. Die Menschen können und wollen Berührungen unterschiedlich stark zulassen. So wie sie es in ihrer Kindheit gelernt haben.
Männer werden mutiger, wenn sie zuvor eine Frau berührt hat
Wie man ein Kind berührt, ist auch von Zeiten, Erziehungsstilen und Kulturen abhängig. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass es in Ländern, in denen die Menschen im engen Kontakt miteinander sind, weniger Aggressionen und Gewalt gibt. Andere entdeckten, dass Sportteams besonders erfolgreich sind, wenn sich die Spieler oft berühren. Und dass Männer risikofreudiger werden, wenn ihnen zuvor eine Frau auf die Schulter geklopft hat. Die Forscher gehen davon aus, dass sich die Männer an die Berührungen der Mutter erinnert fühlen, die ihnen dadurch einst Sicherheit gab. Die Männer selbst würden wahrscheinlich eine andere Erklärung für ihr Verhalten finden . . . Aber es ist uns ja nicht alles bewusst.
Andere Forscher haben in Experimenten beweisen können, dass sich Frauen weniger bedroht fühlen, wenn der Partner ihre Hand hält. Und auch Frauen, die während ihrer Schwangerschaft an Depressionen leiden, hilft die Berührung. Tiffany Field, Leiterin des Instituts für Berührungsforschung an der medizinischen Hochschule der Universität in Miami, „verschrieb“ ihnen zweimal in der Woche eine Massage des Partners. Dadurch hellte sich nicht nur ihre Stimmung auf, sie empfanden auch ihre Beziehungen als glücklicher.
Der Körper reagiert auf Berührungen mit der Ausschüttung von Glückshormonen
Berührungen reizen die vielen Millionen Nervenzellen auf unserer Haut und beeinflussen unseren Hormonhaushalt. So wird vermehrt das Glückshormon Oxytocin ausgeschüttet, und weniger das Stresshormon Cortisol. Unsere Sorgen werden mit der Hand weggestrichen.
Das alles gilt natürlich nur für die liebevolle Berührung. Und auch nur, wenn sie ein Leben lang als liebevoll empfunden wurde. Misshandlungen, traumatische Erlebnisse programmieren unser Körpergedächtnis um. Da kann so etwas Schönes wie ein Streicheln, ein Musikfetzen, eine Kerzenflamme die Erlebnisse und Emotionen von damals wieder an die Oberfläche schwemmen. Der Körper vergisst nie.
Wie etwa bei Marie: „Eine Tür schlägt zu oder irgendwo knallt es: Schon schießt mir das Adrenalin durch den Körper.“ Maries beste Freundin starb in diesen Tagen vor vier Jahren in ihren Armen. Der Attentäter vom Amoklauf in Winnenden hatte im Klassenzimmer auf sie geschossen. Noch ein Jahr später spürt Marie ihre Arme oft nicht, sie fühlen sich an wie gelähmt. Die Ärzte sagen, da könne man nichts machen. Es sei psychosomatisch. Marie geht daher zum Psychologen. Ergreifend erzählt die 16-Jährige neben anderen Jugendlichen und einer Lehrerin in dem Buch „Die Schüler von Winnenden – Unser Leben nach dem Amoklauf“ (Arena, 162 Seiten, 9,99 Euro): „Das ganze psychologische Gelaber ist nichts für mich. Nur ich weiß, wie ich mich fühle. Und vielleicht gibt es dafür gar keine Worte. Vielleicht muss man über die Dinge schweigen, über die man nicht reden kann.“
Therapeuten helfen mit Körperkontakttechniken
Manchmal fehlen die Worte. Um die Wunden der Seele trotzdem zu heilen, setzen daher immer mehr Therapeuten dort an, wo es schmerzt, wo die Erinnerung sitzt: am Körper. Sie sehen den Körper nicht mehr wie jahrzehntelang zuvor vom Geist getrennt. Sie helfen Menschen, die sich in ihrer Haut nicht wohlfühlen. Sie helfen ihnen mit Berührungen, das Nein ihres Körpers nicht länger zu überhören. Sie helfen ihnen, ihren Körper wieder mehr wahrzunehmen. Und auch das vergisst der Körper nicht.
Das Gespräch ist beendet, Martin atmet erleichtert auf. Geschafft! Sein Chef klopft ihm noch einmal aufmunternd auf die Schulter. Der Druck im Magen lässt nach, wo ist seine Müdigkeit hin? Nur den Nacken spürt er noch von der Anspannung. Die Sekretärin berührt Martin beim Herausgehen am Arm: „Gut gemacht!“ Ob er heute doch einmal den Fahrstuhl nehmen sollte?