Essen.. Das Trash-TV ist in Deutschland weiter auf dem Vormarsch. TV-Kritiker Oliver Kalkofe geißelt aber vor allem hiesige TV-Programmmacher. Ein Gespräch mit Deutschlands schärfstem TV-Kritiker über das Sinken des Niveaus und den Zynismus der Fernsehproduzenten.
Oliver Kalkofe metzelt, meuchelt, massakriert unermüdlich, was schlecht ist am täglichen deutschen TV-Wahnsinn. Sogar in der Silvesternacht ist er im Einsatz. Mit uns sprach er darüber, weshalb die kritischen Stimmen über Reality-Shows verstummt sind. Und er beklagt sich über zynische Senderchefs.
Sehen Sie eigentlich rund um die Uhr fern?
Kalkofe: Wir sind zum ersten Mal in der glücklichen Lage, dass wir etwa 20 Sender 24 Stunden am Tag aufzeichnen können. Zudem rufen wir Zuschauer auf, uns über www.kalkwatch.de Fernsehverbrechen zu melden. Daraus suche ich mir dann aus, was ich in der „Mattscheibe“ zeigen will.
Wir haben heute eine tolerante Gesellschaft. Alle Tabus scheinen aufgehoben. Profitiert der Fernsehzuschauer davon?
Kalkofe: Der Fernsehzuschauer profitiert momentan von gar nichts. Er wird eher von den Sendern verachtet. Und das ist kein Witz. Niemandem, den man auch nur halbwegs respektiert, würde man so etwas vorsetzen. In „We Love Lloret“ auf ProSieben werden junge, bumsbereite Leute auf einer Finca auf Mallorca zusammengepfercht und mit Alkohol abgefüllt. Der einzige Inhalt: Wer poppt mit wem? Dazwischen wird – sorry – mit dem Arsch gewackelt, gesoffen und in Zeitlupe auf den Boden gekotzt. Über die Bilder werden dann süffisante Sprüche gelegt wie „Das ist aber gar nicht gut für seine neue weiße Hose!“
"Was momentan im Fernsehen geschieht, ist widerwärtig"
Hinter Scripted-Reality-Formaten verbergen sich Billigserien, die vorgeben, das wahre Leben abzubilden – in Wirklichkeit gibt es aber ein Drehbuch. Umgesetzt wird es von ungeübten Laiendarstellern.
Kalkofe: Wenn es überhaupt ein Drehbuch wäre, in Wirklichkeit sind es ein paar gescribbelte Anweisungen, nach denen arme Gestalten sich selbst spielen sollen. Da werden dicke Menschen in zu enge Klamotten gezwängt und gezwungen, sich stümperhaft als geizig und fresssüchtig darzustellen, in Mülltonnen zu klettern und weggeworfenen Kuchen mit der Hand zu fressen. Was momentan im Fernsehen geschieht, ist widerwärtig und menschenverachtend.
RTL wurde wegen der Coaching-Show „Die Super Nanny“ und der Casting-Show DSDS viel kritisiert. Hätten Sie gedacht, dass es noch schlimmer kommen würde?
Kalkofe: Schon früher wurde es immer schlimmer, aber nie hätte ich gedacht, dass wir einmal so tief sinken wie jetzt. RTL gehört hier aber nicht als die Nummer eins an den Pranger, dazu machen sie viel zu wenig Neues. RTL befriedigt die einfachen Bedürfnisse, so wie McDonald’s und Burger King, immer mit einem gewissen erwartbaren Qualitätsstandard. Schlimmer sind RTL II und Sat.1. Letztere kopieren alles von allen anderen, und das auch noch furchtbar schlecht. Hauptsache man produziert ganz schnell ganz viel ganz billig.
Shows wie „Big Brother“ und „Ich bin ein Star – holt mich hier raus“ verursachten anfangs eine riesige Diskussion über Ethik und Moral. Heute scheint sich daran niemand mehr zu stören. Wie kommt’s?
Kalkofe: Das ist der Gewöhnungseffekt. Als im „Dschungelcamp“ das erste Mal Kakerlaken über jemanden geschüttet wurden, hat man sich noch total aufgeregt, inzwischen werden Känguruhoden gefressen. Bei der ersten Staffel von „Big Brother“ wurde noch gefragt, ob man überhaupt Leute beim Schlafen oder im Badezimmer beobachten dürfe. Heute sind die Kameras hauptsächlich auf die Duschen gerichtet. Nachtsichtgeräte werden in Schlafzimmern aufgehängt, um viele Brüste und möglichen Geschlechtsverkehr zu zeigen. Man stumpft mit der Zeit ab.
Haben die Macher solcher Sender und Sendungen die höchste Stufe des Zynismus erreicht?
Kalkofe: Kämpft auf allen Kanälen: Kalkofe. Foto: kalkofe.de/Marcello Mazza Wer so was macht, muss Zyniker sein, zumindest ist er kein Menschenfreund. Einer wie der Produzent Franklin erklärte kürzlich stolz, Fiction sei auch für die Hälfte der Kosten möglich. Man bräuchte gar keine Schauspieler, Laien von der Straße seien oft viel talentierter, eine Krankenschwester zum Beispiel könne auf Knopfdruck heulen. Da kriege ich das kalte Grausen! Wer braucht noch Autoren, Regisseure, Schauspieler, Kameramänner, Lichtsetzer, Musiker, Kostüm und Maske? Das Ergebnis ist Schrott, aber Hauptsache, man hat was zu senden.
Kalkhofe sieht kein Ende des 'Ramsch-TV'
Wie erfolgreich sind diese Trash-Formate überhaupt?
Kalkofe: Das hängt davon ab, wie man Erfolg definiert. Solche Sendungen kosten so wenig, dass am Ende fast immer ein großes Plus bleibt, selbst bei geringer Werbeauslastung. Wenn man dazu wie beispielsweise ProSieben/Sat.1 alles zig-mal wiederholt und fast nur noch Sitcoms in der Dauerschleife zeigt, gibt man so wenig aus, dass am Ende ein großes Plus bleibt. Man kann dann jedes Jahr stolz einen neuen Rekordumsatz vermelden und die Aktionäre erfreuen, die Zuschauer aber wenden sich ab und der Sender verliert seine Identität.
Müssen wir uns auf noch billigere, noch ramschigere Formate einstellen?
Kalkofe: Ich befürchte, ja. Jeden Tag, wenn ich Material sichte, wird das Material vom Vortag noch mal unterboten. Natürlich sind nicht alle Programmchefs und Redakteure als zynische Drecksäcke geboren worden, sie werden aber durch das gegenwärtige System dazu gemacht oder verlieren irgendwann einfach den Mut, sich dagegen aufzulehnen. Aber vielleicht kommen ja eines Tages wieder Menschen in die Sender, die eine gewisse Verantwortung und einen Hauch von Moral verspüren. Auch wenn in einigen Führungsetagen jetzt bestimmt gerade laut gelacht wird.
Sind Sie als Macher der „Mattscheibe“ auf einer Mission, die da heißt: brutalstmögliche Aufklärung?
Kalkofe: In gewisser Weise schon. Ich würde gern erreichen, dass die Sender ihrer Verantwortung gegenüber ihrem Publikum wieder nachkommen und uns nicht weiter wie glotzendes Nutzvieh behandeln. Ich habe nicht den Glauben, dass alles wieder gut wird, aber vielleicht kann ich kurzzeitig dem Zuschauer helfen, ein bisschen Wut und Frust über das Fernsehen mit einem Lachen loszuwerden.
"Medienkunde sollte Schulfach werden"
Sie waren als Gastdozent an Schulen tätig. Müssen Eltern wegen der Medienentwicklung Angst um die Entwicklung ihrer Kinder haben?
Kalkofe: Sehr große! Medienkunde sollte unbedingt Schulfach werden, damit Schüler lernen, was im Fernsehen fake und was echt ist. Wie funktioniert das, was mir da gezeigt wird? Wie lese ich eine Zeitung? Wie benutze ich das Internet, ohne reingelegt zu werden? Das Fernsehen und andere Medien, die uns verarschen, haben nur deswegen eine Macht, weil wir sie nicht verstehen. Ich bin immer erstaunt, wie viel Urvertrauen in das Fernsehen immer noch herrscht. Ein Großteil der Zuschauer kann gar nicht unterscheiden zwischen Inszenierung und Wirklichkeit. Wie auch, wenn es einem nie erklärt wurde.
Für wie gefährlich halten Sie Scripted-Reality-Formate?
Kalkofe: Ich halte sie für extrem bedenklich. Das Fernsehen ist für viele das Schaufenster in die Welt. Und dort sieht man dann nur Asis und kotzende Prolls, von denen keiner einen geraden Satz in klarem Deutsch herausbringt. Salopp gesagt hat man es hier mit Bekloppten zu tun, die Bescheuerte nachspielen. Der Zuschauer wird außerdem mit einem furchtbaren Bild der Gesellschaft konfrontiert. In früheren Serien wurde noch versucht, positive Ideen oder Geschichten zu vermitteln.
Sehen Sie nicht doch manchmal einen Silberstreif am Horizont?
Kalkofe: Es gibt leider keinen Grund zur Entwarnung. Bei der BBC zum Beispiel sieht man auch viele langweilige Sendungen, aber dazwischen laufen fantastische eigene Serien und Shows, die die ganze Welt begeistern. Ein originelles neues Format aus deutscher Produktion – das habe ich schon lange nicht mehr gesehen.
- Kalkofe streitet weiter gegen den Dumpfsinn im deutschen Fernsehen. In der Silvesternacht zeigt Tele 5 um 22.10 Uhr „Kalkofes Mattscheibe Rekalked – Jahresrückblick“. Sollten Sie in der Silvesternacht etwas Besseres zu tun haben, wird die Sendung wiederholt am 3.1., 23.15 Uhr. Die DVD mit der ganzen ersten Staffel „Rekalked“, die seit Oktober immer freitags, 20 Uhr, auf Tele5 läuft, erscheint im Mai. Wenn Sie selbst Fersehsünden bei Kalkofe melden wollen, klicken Sie hier.