Essen.. Bräuche und Rituale wirken wie ein Autopilot, gerade in der Weihnachtszeit. Sie erleichtern unseren Alltag und geben uns Sicherheit. Doch Gewohnheiten machen auch träge. Warum es heilsam sein kann, mit den eigenen Gewohnheiten zu brechen.

Alle Jahre wieder kommt das Christuskind. Wo wir Menschen sind, heißt es dann: Dieselbe Prozedur wie im letzten Jahr. Um 18 Uhr Kirchgang, um 20 Uhr Gänsebraten, anschließend Bescherung. Später singen wir O du Fröhliche, und O Tannenbaum, alle Strophen, wie immer! Und wenn wir diesen Heiligen Abend ausklingen lassen, unterm festlich geschmückten Baum noch einmal den milden Blick auf den neuen Schlips werfen, seufzen wir: Schön war es.

Wir brauchen diese Rituale, und zu Weihnachten ganz besonders. Bräuche gibt es, damit die Seele weiß, wo sie zu Hause ist, verkündet Frau Holle, die auf dem Hattinger Weihnachtsmarkt jeden Tag ein Türchen öffnet, seit vielen vielen Jahren übrigens, und immer um 17 Uhr. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier. Veränderungen verstören uns. Aber Gewohnheiten lähmen uns auch manchmal, machen uns träge und unfroh. Aber nur wenn es gar nicht anders geht, machen wir uns die Mühe, unsere Gewohnheiten zu ändern. Und das ist wirklich nicht leicht.

Wir brauchen Rituale als Schutzschild

Feuerwerk an Silvester – eines der vielen für uns selbstverständlichen Bräuche, die wir kaum hinterfragen.
Feuerwerk an Silvester – eines der vielen für uns selbstverständlichen Bräuche, die wir kaum hinterfragen. © WAZ FotoPool | WAZ FotoPool

Wie sehr wir uns besonders in stressigen Zeiten an die liebgewordenen Rituale klammern, hat schon Heinrich Böll in seiner Erzählung „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ geschildert. Das Weihnachtsfest diente dort der guten alten Tante Milla stets als Schutzschild gegen die Schrecken des Kriegs. Der Duft des Bratapfels vertrieb den Pulverdampf. Als jedoch der festlich geschmückte Christbaum „zu Lichtmess 1947“ entsorgt werden sollte, bekam Tante Milla einen Schreikrampf, der letztlich nur durch eine Maßnahme kuriert werden konnte: Ab sofort war jeden Tag Weihnachten. Mit fatalen Folgen.

Böll schrieb die Erzählung Anfang der Fünfziger und nicht zuletzt als Parabel für den Verfall des Bürgertums. Dass Tante Millas Weihnachtssyndrom in erster Linie durch den Krieg ausgelöst wurde, passt aber auch bestens zu neuen Erkenntnissen der Wissenschaft. Erst der Stress macht uns zu Gewohnheitstieren, behauptet der portugiesische Experte Rui Costa, der seine These mit einem interessanten Tierversuch zu belegen sucht. Ratten wurden mit „Eindringlingen“ konfrontiert, in diesem Fall fremde Ratten, die immer wieder durch ein Fenster in den Laborbereich starrten und damit den Rattenalltag durcheinander brachten.

„Zielgerichtete Entscheidungsprozesse“ werden zum Opfer der Gewohnheit

Nach nur drei Wochen waren die Versuchstiere nicht mehr in der Lage, neue Entscheidungen zu treffen und verließen sich allein auf ihre Gewohnheiten. Sie betätigten beispielsweise immer wieder automatisch einen Hebel, der ihnen Nahrung zuteilte, obwohl sie bereits gefüttert worden waren. Am Anfang der Versuchsreihe gingen die Tiere damit wesentlich intelligenter um und drückten den Hebel nur, wenn sie Hunger hatten. Jetzt folgten sie nur noch der Gewohnheit. Außerdem wurden Veränderungen im Gehirn festgestellt. Sektoren, in denen „zielgerichtete Entscheidungsprozesse“ ablaufen, waren geschrumpft. Das „dorsorale Striatum“, ein Bereich, in dem die Formung von Gewohnheiten vermutet wird, war dagegen kräftig gewachsen.

Vieles passiert nur im Unterbewusstsein

Auch bei vielen Menschen ist das „dorsorale Striatum“ wahrscheinlich überdurchschnittlich gut entwickelt. 90 Prozent unserer täglichen Verrichtungen, so wird geschätzt, verlaufen im Unterbewusstsein. In der TV-Dokumentation „Die Macht der Gewohnheit“ verfolgt das Dortmunder Colourfield-Team um Petra Höfer und Freddie Röckenhaus am Beispiel eines jungen Paares, wie sehr der „Autopilot“ uns durch den Alltag steuert. Zähneputzen, die Schuhe anziehen, das Auto aus der Garage holen, der Weg zur Arbeitsstelle – all das verläuft weitgehend im Unterbewusstsein – oder können wir auf Anhieb sagen, wie wir normalerweise das Telefon halten? Und wenn wir von dieser Routine abweichen wollen (oder müssen!), geht das erstmal schief. Wir wussten eigentlich, dass die Straße vor unserem Supermarkt wegen Bauarbeiten gesperrt worden ist – und dennoch sind wir hereingefahren, wie immer. „Sieben Sekunden vor unserem Bewusstsein fällt das Gehirn bereits die Entscheidungen“, behauptet der Wissenschaftler John Dylan Haynes, und der australische Neurologen-Guru Allan Snyder verkündet gar: „Das Bewusstsein ist nur eine PR-Aktion Ihres Gehirns, damit Sie denken, Sie hätten auch noch etwas zu sagen!“

Ohne das feierliche Ritual und seine kleine Schwester, die Gewohnheit, wären wir also ziemlich aufgeschmissen. Ohne „Stille Nacht“ und Spekulatius wäre Weihnachten doch nur noch halb so schön, oder? Und würden wir wirklich jedes Mal drüber nachdenken, wie wir uns die Zähne putzen oder das Auto starten, ginge das Gehirn unweigerlich wegen Überlastung in die Knie. Unser Gehirn ist deshalb äußerst clever, wenn es darum geht, welche Tätigkeiten regelmäßig ausgeführt werden müssen und deshalb an den „Autopiloten“ delegiert werden können.

Wir sind oft zu bequem, um uns zu ändern

Das Problem ist nur: Wir sind bequem und delegieren deshalb viel zu viele Entscheidungen an die Macht der Gewohnheit. Wir essen die falschen Sachen, trinken zu viel Alkohol, bewegen uns zu wenig, werden dadurch faul und krank – und erst wenn es überall zwickt oder die Langeweile vor der Glotze einfach zu groß wird, versuchen wir uns zu ändern.

Auch eine Gewohnheit – aber eine gute, über die man später als Erwachsener kaum nachdenken muss: das morgendliche Zähneputzen.
Auch eine Gewohnheit – aber eine gute, über die man später als Erwachsener kaum nachdenken muss: das morgendliche Zähneputzen. © ddp | ddp

Oft geschieht das zu Silvester. „Same procedure as every year“ – muss das wirklich sein, fragen wir uns und fassen gute

Vorsätze. Weniger Pommes, mehr Möhren, weniger Wodka, mehr Mineralwasser, nach Feierabend nicht auf dem Sofa vor der Glotze, sondern noch eine Runde durch den Park laufen – Schluss mit den alten Gewohnheiten!

Das Problem ist allerdings: Alte Gewohnheiten sterben nie. Sie verziehen sich höchstens in den Hintergrund. Hat sich ein Ritual, eine Gewohnheit einmal eingenistet, gilt das Gehirn als Dauerwohnsitz. Wir weichen nicht, heißt es trotzig. Neue Gewohnheiten müssen sich deshalb Umwege bahnen, mühevoll an den Platzhaltern vorbei. Deshalb kann es bis zu neun Monate dauern, bis die alten Gewohnheiten deaktiviert und die neuen installiert worden sind.

Ratgeber sind in Mode

Weil wir aber von Zeit zu Zeit nicht drum rum kommen und es außerdem äußerst gesund ist, sich auf Neues einzulassen, sind einschlägige Ratgeber groß in Mode. „Reite das Gewohnheitstier – Routine raffiniert einsetzen“ heißt beispielsweise ein Buch von Wolfgang Pfau und Heinz Schulz-Wimmer.

Und auch die Amerikanerin M.J. Ryan trainiert mit uns in ihrem Buch „This Year I will …“ das Einüben neuer Gewohnheiten. Schritt für Schritt muss das passieren, und zur leichteren Orientierung unterteilt die Wissenschaftlerin unsere Existenz in drei Bereiche: Komfortzone, dann „Stretch“, was wir hier mal „Ausdehnungsbereich“ nennen wollen, und Stress.

In der Komfortzone haben sich unsere Gewohnheiten eingenistet. Unter Stress leiden wir, wenn eine neue Gewohnheit so weit weg von unserer bisherigen Erfahrung liegt, dass sie kaum zu erreichen scheint. Entscheidend ist also die Ausdehnungszone. Dort vollziehen sich die Veränderungen.

Karten spielen statt „Tatort“ gucken

Man soll doch bitte jeden Tag etwas Neues probieren, fordert M.J. Ryan und ist da nicht allein. Was uns ein bisschen ungewöhnlich, vielleicht auf Anhieb sogar seltsam erscheint: Nur her damit! Es muss ja nicht viel sein. Einfach mal im Autoradio einen anderen Sender einstellen, einen anderen Weg zur Arbeit nehmen, am Abend nicht den „Tatort“ gucken, sondern Karten spielen – all das reicht völlig aus, um das Gewohnheitstier auf Trab zu bringen. „Der Vorstoß in die Ausdehnungsphase, in den Stretch, ist gut für uns“, behauptet M.J. Ryan. Das Gehirn bleibt so gesund. Wenn wir aber aufhören, neue Dinge zu lernen, die uns herausfordern und Umleitungen um die eingefahrenen Rituale bahnen, verkümmern unsere kleinen grauen Zellen, sie verkleben förmlich. Manche Wissenschaftler vermuten sogar, dass der Verzicht auf das Einüben neuer Gewohnheiten Krankheiten wie Demenz und Alzheimer fördern könne, aber das ist umstritten. Ebenso fraglich: Angeblich nehmen wir signifikant ab, wenn wir etwas Neues lernen, weil wir wesentlich bewusster mit uns und dem Leben umgehen, aber auch das wird in der Wissenschaft noch diskutiert.

Die Japaner haben sogar ein Wort für die Technik, mit der man lästige Gewohnheiten über Bord werfen kann. Beim „Kaizen“ geht es um Babyschritte, ganz kleine Fortschritte. Jede Veränderung erfüllt uns nämlich erst mal mit Furcht, behauptet die amerikanische Autorin M.J. Ryan, „und wenn der Schritt zu groß ist, flüchten wir in Panik.“ Ein kleiner Schritt löst diesen Reflex dagegen nicht aus, unser Verstand bleibt am Kontrollstand, und wir schreiten voran.

Dann hocken wir wieder vor dem Fernseher

Was sollen wir also tun, wenn sich im festlichen Trubel kuschelige Bräuche und schlechte Gewohnheiten aneinander reiben? Am Heiligabend zünden wir die Kerzen an, singen O du Fröhliche, alle Strophen!, doch spätestens am Zweiten Weihnachtstag brennt in manchen Familien bereits der Baum. Silvester geloben wir also alles anders (auch besser?) zu machen, kurz darauf hat uns der Alltag wieder und wir hocken vor dem Fernseher und trinken Bier.

Bei Tante Milla in Heinrich Bölls Erzählung endete der Konflikt übrigens wie folgt: Nach jahrelangem täglichem Spekulatius und einem Rauschegoldengel, der auch im August pünktlich um 18 Uhr „Frieden, Frieden, Frieden“ raunt, ist die Familie am Ende. Onkel Franz geht fremd, ein Verwandter erleidet einen Tobsuchtsanfall, Teile der Sippe wandern nach Afrika aus, und der Vetter, ein Boxer, geht ins Kloster. Ein Neffe wird Kommunist. Die Kinder werden durch Wachspuppen ersetzt. Nur Tante Milla, die ist glücklich und zufrieden, was uns zeigt: Die Grenze zwischen Ritual und Gewohnheit ist nicht immer ganz einfach zu ziehen. Daran müssen wir arbeiten, alle Jahre wieder.