Frankfurt/Main. . Die Spitzen der Frankfurter Bankentürme verschwinden im Nebel, die Welt jenseits der breiten Fensterfront liegt uns grau in grau zu Füßen. Hier, im neunten Stock eines nüchternen Wohnhauses im Stadtteil Sachsenhausen, lebt und arbeitet Bodo Kirchhoff (64).

Auf niedrigen Tischen liegen wohl sortierte Stapel mit drei, vier Büchern. Links davon steht ein imposanter roter Sessel: Hier schreibt Kirchhoff bevorzugt seine Romane, den Laptop auf den Knien, „das gibt dann auch keine Rückenprobleme“. Ein wichtiger Aspekt, wenn man, wie zuletzt beim großen Eheroman „Die Liebe in groben Zügen“, über fünf Jahre an einem Buch arbeitet. Ein Gespräch über diese und andere Langstrecken.

Herr Kirchhoff, wie lange sind Sie verheiratet?

Kirchhoff: Vorige Woche haben wir nach einer Lesung Silberhochzeit gefeiert, aber wir kennen uns noch länger – seit 37 Jahren.

Und verraten Sie, wie das geht?

Das geht zum einen dadurch, dass wir nie zusammen gewohnt haben. Meine Frau, Ulrike, lebt mit den Kindern nicht weit von hier, ich bin jeden Tag dort. Ich arbeite tagsüber, dann verbringe ich dort den Abend, später komme ich hierher zurück. Das geht ganz gut, aber man versäumt auch etliches. Ich bin sozusagen nie die versorgende Mutter gewesen. Meine Tochter sagt zu ihrer Mutter Mama und zu mir den Vornamen.

War diese Art des Zusammenlebens eine bewusste Entscheidung?

Wir haben immer gespürt, dass es anders nicht gut ginge. Jeder von uns gesteht dem anderen einen Bereich zu, der nur ihm gehört. Ich weiß nicht alles von meiner Frau. Das ist ein gewisser Zuwachs an Freiheit, aber auch an Einsamkeit. Das ist der eine Punkt, warum wir so lange zusammen sind.

Und der andere?

Ein Grundrespekt voreinander. Ich achte meine Frau. Liebe hat mit Respekt zu tun, und mit Dauer. Was die Gegenwart der Liebe ist, das wüsste ich gar nicht. Man erinnert sich an die Liebe oder man sehnt sich nach ihr.

Sie meinen also, die Liebe habe keine Gegenwart?

Doch, in der Sexualität. Da gibt es immer wieder Momente großer Gegenwart und Erfüllung. Das ergibt sich aus der Situation heraus, das kann man nicht erzwingen. Oder nehmen wir diesen ungeheuer intensiven Moment, als unser erstes Kind zur Welt kam. Meine Frau hatte einen Kaiserschnitt, und ich war mit diesem Winzling auf dem Arm bei ihr, als sie aufwachte – diesen Augenblick kann man in Worten kaum beschreiben.

Wie alt sind Ihre Kinder?

Mein Sohn ist 24, meine Tochter 19.

Im Roman erzählen Sie von einem Paar, Vila und Renz, das in Frankfurt und Italien lebt; sie sind lange zusammen, beide machen eine außereheliche Liebeserfahrung. Das Paar ähnelt ihnen, aber verwechseln sollte man das nicht, oder?

Nein. Ich habe nie daran gedacht, unsere Geschichte aufzuschreiben. Es ging mir ganz grundsätzlich um die wesentlichen Momente von Glück, von Schmerz, von Einsamkeit.

Was war der Ausgangspunkt?

Ein Nukleus des Buches ist die Überfahrt über den See ganz zu Beginn, die letzte Fahrt im Jahr, und danach machen sie das Haus dicht. Die Melancholie dieses Abschieds ist gleichzeitig die Melancholie einer langen Beziehung. Man weiß ganz viel vom anderen und doch nicht alles. Ich wollte immer schon einen Eheroman schreiben, ich wusste, da habe ich etwas zu sagen.

Vila verliebt sich in einen Mann, der über Franz von Assisi forscht und dessen Liebe zu einer Frau – wie ist diese Idee entstanden?

Franz von Assisi hat mich schon als Schüler interessiert. Durch ihn konnte ich noch einmal eine andere Sprache der Liebe hineinbringen, die ins Metaphysische geht. Franz hat sich mit Höherem verbunden, um den eigenen Gefühlshaushalt in den Griff zu kriegen. Das machen Männer heute noch so. Jeder Mann, der in die Politik geht, schafft sein Privatleben ab. Oder versucht, es so zu reglementieren, dass es ihm nicht über den Kopf wächst.

Und Renz verfällt einer jungen Frau, die aber sehr krank ist...

Renz hatte immer Affären. Als er Marlies kennenlernt, denkt er, dies ist eine Geschichte wie alle anderen: Da ist eine Frau, die sieht ganz gut aus, man weiß nicht so genau, man versucht’s mal.

Jetzt sind Sie aber sehr böse, ihrer eigenen Figur gegenüber!

Ja, das stimmt. Aber ich weiß einfach, was da manchmal so passiert im Leben. Ich versuche nicht, die Menschen besser zu machen, als sie sind. Oder mich als Erzähler moralisch über irgendetwas zu erheben.

Liest Ihre Frau die Manuskripte?

Ja. Sie hat schon eine sehr frühe Fassung gelesen, die sie aber zu zahm fand. Ich habe sieben Fassungen geschrieben, ab der vierten ging es in die schmerzhafte Richtung.

Wie fühlt es sich an, nach all den Jahren, wenn es endlich fertig ist?

Es ist nicht fertig. Ich habe gestern noch daran herumgeschrieben, vor einer Lesung. Das ist schon eine Trennung, die nicht leicht ist. Das dauert.

Der Titel ist, natürlich angesichts des Volumens des Buches, schon auch ironisch.

Ja, mit einem 60-Seiten-Bändchen funktioniert das natürlich nicht – ich dachte, nur „Die Liebe“, das kann man so nicht stehen lassen. Dem muss man etwas entgegensetzen, sonst geht dieses Wort gar nicht. Und es ist eben auch in der Liebe etwas sehr Grobes und Rücksichtsloses, eine gewisse Sturheit.

Ich frage mich schon die ganze Zeit, ist es hier immer so ordentlich oder haben Sie für unser Interview aufgeräumt?

Ein bisschen, aber im Prinzip ist es hier immer so ordentlich. Diese Stapel haben ihren Sinn, das sind Bücher, die ich gut kenne, die ich immer mal wieder zur Hand nehme.

Gibt es Bücher, die Sie damals ermutigt haben, selbst zu schreiben?

Ich habe schon geschrieben, als ich noch keine Literatur gelesen habe, sondern Jerry-Cotton-Heftchen. Ich war immer ein sehr vereinzeltes Kind, sehr isoliert. Das Schreiben war für mich auch eine Möglichkeit, auf andere zuzugehen, etwa, indem ich vorlese. Später war es umgekehrt, ich bin mit dem Schreiben angeeckt. Ich habe im Internat gelernt, dass es egal ist, was andere denken. Das hat sich bis heute gehalten. Auch, wenn ich 64 bin, möchte ich eines auf keinen Fall: der seriöse, ältere Schriftsteller sein. Es sollen sich die Leute ruhig weiter erregen über mich.

Über diesen Roman aber gab es aber doch gar keine Erregung?

Doch. Manche haben das Buch falsch gelesen, als ginge es da um Menschen, die sich in ihren gesicherten Existenzen bewegen, dabei stimmt das gar nicht. Ich selbst habe noch nicht einmal eine Altersvorsorge. Und das Haus in Italien könnte ich heute auch nicht mehr bauen, weil die Grundstückspreise so angestiegen sind. Natürlich verdiene ich Geld, weil ich tausend Dinge mache. Ich bin, glaube ich, sehr fleißig. Ich lebe auf einem ganz guten Niveau von der Hand in den Mund. Aber schon das ist für viele ein rotes Tuch. Es gab keine Zeitung, die nicht über mein Auto geschrieben hätte. Dabei habe ich mich schon im Buch darüber lustig gemacht. Es ist zu groß!

Ein Jaguar, oder? Warum fahren Sie dann so ein Auto?

Weil es mir gefällt. Die meisten anderen Autos sehen einfach hässlich aus. Gebraucht ist so ein Wagen auch gar nicht so teuer, nur idiotisch im Unterhalt. Deswegen fahre ich auch so wenig.

  • Bodo Kirchhoff, Jahrgang 1948, lebt in Frankfurt und in Torri del Benaco am Gardasee; dort gibt er gemeinsam mit seiner Ehefrau Ulrike Bauer im Sommer Schreibkurse. Im Internet: www.schreibkurs.bodo-kirchhoff.de.
  • Der Roman „Die Liebe in groben Zügen“ ist in der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen (669 Seiten, 28 Euro). In der kommenden Woche liest Kirchhoff in Dortmund: 25.Oktober, 19.30 Uhr im Dortmunder HCC, Königswall 21 (Eintritt 15 Euro), Tel. 0231/90 56 166.