Essen. Das Internet lässt Menschen wieder schreiben: Postkarten. Mit Stift und eigener Schrift an Adressen, die ausgelost werden. Zurück kommen bunte Ansichten aus entfernten Ländern – das nennt sich „Postcrossing“ und entwickelt sich zu einer globalen Massenbewegung.

Aus dem letzten Urlaub auch wieder nur SMS versandt: Sonne, Strand und lecker Essen in 160 Zeichen? Leider, die Menschen schreiben ja keine Postkarten mehr. Dachten wir, bis uns diese Nachricht erreichte (per Mail): In nicht einmal sieben Jahren haben mehr als 327 000 Leute aus 208 Ländern in der ganzen Welt einander mehr als zehn Millionen Karten geschickt.

Und die kannten sich nicht einmal! Zusammengebracht hat sie ausgerechnet das Internet: „Postcrossing“ ist Kommunikation 1.0, zurück in die Zukunft.

Postcrossing auf 26 Millionen Briefträger-Kilometern

Irgendwann in dieser Woche hat „Nordbaer“ die 7309. Postkarte seit kaum 2000 Tagen auf den Weg gebracht. In Düsseldorf, nicht am Nordpol, wie man denken könnte – der Nick-Name kommt von Norbert. Norbert Venzke ist damit im offiziellen User-Ranking der weltweiten Postcrosser die Nummer drei.

Und seine Postkarten, auch das ist im Internet zu sehen, weil jeder jeden Postein- und -ausgang registriert, haben sich auf bald 26 Millionen Briefträger-Kilometern gekreuzt („to cross“) mit fast ebenso vielen Karten, die der 56-Jährige aus seinem eigenen Kasten gefischt hat. „Von Leuten jeden Alters, jeden Standes, auf der ganzen Welt.“

Wer beim Postcrossing mitmacht, ist schnell infiziert

Die Adressen gibt’s per Netz zugelost, schreiben muss man sie per Hand: „Happy Postcrossing“.
Die Adressen gibt’s per Netz zugelost, schreiben muss man sie per Hand: „Happy Postcrossing“. © Jakob Studnar

Das ist der Sinn von www.postcrossing.com, dieser Seite, die der Portugiese Paulo Magalhães erfand und ins Netz stellte, einfach, weil er Postkarten mag. Die Idee: Menschen registrieren sich, legen ein Profil an, teilen dem Rest der Welt mit, welche Sorte Karten sie mögen (schwarz-weiß, Tiere, Landschaften, gezackte Ränder) oder ob sie lieber besondere Briefmarken hätten, bekommen eine Identifikationsnummer für alle künftige Post und die ersten fünf Adressen zugelost.

Und los geht es mit hemmungslosem „Happy Postcrossing“. Denn so läuft es tatsächlich immer: Wer mitmacht, ist schnell infiziert, „süchtig“, sagen die Leute, und deshalb stimmt das mit den 7000 Karten von Norbert Venzke auch nicht ganz. Der kommuniziert nämlich nebenher auch noch übers Forum – macht sicher noch 7000 extra.

Weshalb der gelernte Bankkauf- und heutige Computer-Fachmann erzählen kann von Glücksmomenten wie diesen: „Sie gehen zum Briefkasten, und zwischen all den Rechnungen finden sie schöne Post. Das ist toll.“ Obwohl diesen Weg meistens seine Frau macht; die „crosst“ ebenfalls mit, sortiert vor und ruft besorgt beim Briefträger an, wenn der nichts gebracht hat: „Bei dem sind wir bekannt.“ Und dann sitzen die beiden zusammen und schauen sich an, was die Welt ihnen zugedacht hat.

Freundliche Grüße von einer Insel, „die in 50 Jahren nicht mehr da sein wird“ 

Dieses Wer-Wo-Was ist spannend, manchmal auch bewegend: diese Karte etwa von Tuvalu. „Es berührt, wenn eine Karte kommt von einer Insel, die in 50 Jahren nicht mehr da sein wird.“ Oder der Austausch mit der Mutter der Marine-Kadettin, die vor vier Jahren über Bord der „Gorch Fock“ ging.

Sie schreibe weiter im Namen ihrer Tochter, erzählt Venzke, „da habe ich hart mit zu kämpfen“. Solchen Menschen antwortet man anders und mehr als „Viele Grüße aus. . .“ Mit solchen Menschen entsteht aus der Postkarten- zuweilen auch echte Freundschaft, mit Briefen zum Geburtstag und Päckchen zu Weihnachten – oder noch mehr: Via Postcrossing lernten sich ein Weißrusse und eine Ukrainerin kennen und lieben, vermeldet wird auch eine Ehe der geografischen Extreme, die eines Australiers mit einer Finnin.

Inmitten seiner besten Stücke: Postcrosser Norbert Venske.
Inmitten seiner besten Stücke: Postcrosser Norbert Venske. © Jakob Studnar

Überhaupt, die Finnen: Die sind mit bislang eineinhalb Millionen verschickten Karten auffallend aktiv bei diesem „Facebook“ der analogen Art, ebenso wie Amerikaner, Niederländer und Deutsche mit einem Postkartenanteil von jeweils rund zehn Prozent. Die meisten Postcrosser kommen aus den USA, gleich gefolgt von Russen, Chinesen und Taiwanern. Außerdem machen mit: Mitglieder aus A wie Afghanistan (5) bis Z wie Zimbabwe (2), dazwischen Kambodscha und Kamerun, Ägypten und Äthiopien, Libanon und Lesotho, Vietnam und Venezuela. Selbst unter „Antarktis“ firmiert einer und unter „Salomon-Inseln“; besonders eifrig sind auch Türken, Thailänder sowie Japaner.

Eritrea dauert länger als Guam – Erkenntnisse eines Postkunden 

Wobei Norbert Venzke, der noch lieber schreibt als empfängt („Ich mag es, die Leute zu überraschen“), sagt: „Der Kitzel ,weltweit’ lässt mit der Zeit sogar nach.“ Ist nicht „Neuseeland“ durch das Internet sowieso schon „genau so nah wie Göttingen?“ Wichtig sei: „Die Menschen rücken näher zusammen.“

Einer wie „Nordbaer“ findet eine Postkarte an Freunde „nicht halb so spannend wie eine an jemanden, den Sie nicht kennen“. Exotisch sei es, deren fremde Kulturen kennen zu lernen, den Horizont zu erweitern – übrigens auch, was das Wissen über anderer Länder Postsysteme betrifft. „Eritrea oder Nordkorea dauert länger als Guam, da war ich überrascht: Die Karte brauchte nur sieben Tage!“ Dafür mache Brasilien es nie unter vier Wochen, meistens mehr, auch Russland „ist sehr langsam“.

Dort tut sich die Industrie übrigens auch schwer mit dem Nachliefern neuer Postkarten. Weshalb es Postcrosser gibt, die mittlerweile eigene herstellen. Oder bei Verlagen Sammelbestellungen aufgeben: 27 000 Karten mit 30, 40 Leuten! So kam auch Venzke an seine Schuhkartons voller Karten, die er immer mal sortieren wollte.

Das Schönste aufheben, die selbst bemalte Post einer Oma aus Amerika, den Sumo-Ringer aus Japan, Frank Zappa auf dem Klo oder die Karte mit dem Text: „Postcard is loading, Please wait.“ Aber wie das so ist mit den guten Vorsätzen. . .

Und falls Norbert Nordbaer Venzke mal Urlaub macht – dann, schon wegen weiterer Hobbys – auch vom Postcrossing: Er schreibt keine einzige Karte.