Der letzte Wolf wurde vor rund 160 Jahren in Deutschland gesichtet. Doch nun kehrt er zurück. Eine Spurensuche nach einer einst ausgerottenen Art, deren Ruf fürchterlicher ist als ihr Wesen.

Endlich, eine Spur, endlich Kot! Mitten auf dem Weg liegt er, haarig und blutig, und Olaf Preuße streift sich beschwingt die Einmalhandschuhe über, stupst, hebt an. „Eindeutig Wolf“, sagt der 51-jährige Naturführer nach äußerst näherer Betrachtung. Der Haufen ist eigentlich eine Nachricht, er liegt so auf diesem schlammigen, von Wildschweinen aufgewühlten Weg, dass ihn jeder Mensch und jedes Tier sehen kann. Und er sagt: Achtung, mein Revier. Wolfs Revier! Die laute Hoffnung von Preußes Begleitern, der derart erleichterte Wolf möge vielleicht schlafend hinter der nächsten Kurve liegen, erfüllt sich freilich nicht.

Zum Heulen!

Die Lausitz im östlichsten Ostdeutschland war Ende der 1990er-Jahre der erste Landstrich in Deutschland, in dem sich wieder Wölfe niederließen, eingewanderte Wölfe aus Polen; im Jahr 2000 wurde die erste Geburt registriert, eine schöne, symbolische Wiedergeburt rund 160 Jahre nach der Ausrottung. Die Rückkehr regte die Leute ziemlich auf damals, Tierschützer und Jäger, Bauern und Waldbesitzer liefen kopflos umher und stritten über Fluch oder Segen Wolf. Das hat sich längst normalisiert, wie man etwa am „City Center“ ganz leicht erkennen kann, dem Einkaufszentrum der brandenburgischen Kleinstadt Spremberg: Da hängen drei vielleicht nur in Teilen ernst gemeinte Verbotsschilder, Rauchen ist drinnen verboten, Fahrräder sind es und selbstverständlich Wölfe.

Doch fast noch mehr spricht für ihre Integration, dass die Stadt „Wolfsspaziergänge“ auflegt für Touristen: Und es kommen viele. Da muss dann Preuße ran, früherer Schäfer in Räuberzivil, der heute zehn Leute führt durch ein dichtes Waldgebiet drei Kilometer vor der Stadt. Liest Spuren, sichtet Kot, zeigt Wolfsfotos aus Fotofallen und erzählt. „Einmal habe ich sie heulen hören, 2008 oder 2009, es war 14.30 Uhr, ich habe extra auf die Uhr geguckt“, sagt er: „Da wird einem doch anders.“ Anders? „Keine Angst, aber auch kein Wohl. Respekt.“ Gesehen hat er allerdings noch keinen Wolf. Denn der tut zwar nichts. Der will aber auch nicht spielen. Der bleibt ganz einfach unsichtbar, Begegnungen sind äußerst selten, und offensichtlich muss man einräumen, dass er viel weniger Interesse an Menschen hat als der Mensch an Wölfen.

Zumindest in die Fotofalle ist der Wolf schon gegangen.Foto: Matthias Graben / WAZ FotoPool
Zumindest in die Fotofalle ist der Wolf schon gegangen.Foto: Matthias Graben / WAZ FotoPool © WAZ FotoPool

Wenn Sie jetzt sagen, jaja, harmloses Tier, aber 500 Kilometer Abstand sind auch okay – so ist es ja nicht. Nach Schätzungen leben jetzt schon 120 bis 150 Wölfe in Ostdeutschland, einzelne in Niedersachsen und Bayern; und im März wurde einer gesichtet bei Steimel im Westerwald, und das ist dann nur noch 16 lächerliche Kilometer entfernt von Nordrhein-Westfalen. „Abgesehen von den Straßen, die er lebend überqueren muss, sind die 500 Kilometer für Wölfe leicht zu überbrücken“, sagt der Wolfsexperte Markus Bathen vom „Naturschutzbund Deutschland (Nabu)“. Und der Landesvorsitzende Josef Tumbrinck meint: „Auch NRW hat geeignete Lebensräume und gilt daher als Wolfserwartungsland.“

Eifel, Sauerland, man darf aber mal vorhersagen, dass er im Ruhrgebiet nicht auftauchen wird: liebt ja genau das Gegenteil, Gegenden mit wenigen Menschen und wenigen Straßen, mit viel Deckung, Ruhe und Wild. Wie die Lausitz. Dort packt Preuße gerade eine kleine Holzkiste aus dem Kofferraum und sagt: „Ich will Ihnen mal zeigen, was vom Hirsch übrig bleibt, wenn der Wolf dran war.“ Knochen vom Schädel und Becken, das Gehörn und Teile der Wirbelsäule. Eine sehr übersichtliche Sammlung ist das.

Die Reste holen sich Fuchs und Rabe

Alles andere ist gefressen und zermalmt, Reste holten sich Fuchs und Rabe. Bei manchem toten Wild müsse man aber nachprüfen, ob das wirklich der Wolf holte oder doch ein wilder Hund: „Der Wolf beißt einmal perfekt in den Hals, da finden Sie zwei Löcher“, sagt Preuße: „Hunde haben effektives Töten nicht gelernt, da finden Sie ganz viele Bissspuren.“

Vom Tier bleibt nicht mehr viel übrig, wenn der Wolf einmal zubeißt, wie Olaf Preuße an diesem Hirschskelett zeigt. Foto: Matthias Graben / WAZ FotoPool
Vom Tier bleibt nicht mehr viel übrig, wenn der Wolf einmal zubeißt, wie Olaf Preuße an diesem Hirschskelett zeigt. Foto: Matthias Graben / WAZ FotoPool © WAZ FotoPool

Ausgerottet wurden Wölfe in Deutschland um 1850, man weiß das nicht wirklich, denn es gibt überall im Land Erzählungen von letzten Wölfen. Überhaupt ist der Ruf des Tieres gründlich ruiniert: Wir sagen nur Werwolf und weitere Schauermärchen. Aber heute „beweist die Lausitz, dass die Nachbarschaft von Mensch und Wolf möglich ist“, so der Nabu. Bauern schützen ihr Vieh auf der Weide effektiver und werden entschädigt, wenn der Wolf dennoch Schafe reißt oder Kälber. Und Jäger haben festgestellt, dass das Wild kaum weniger wird; allerdings ist es heute nicht mehr so berechenbar, ist nicht mehr jeden Tag um, sagen wir, 18.15 Uhr an der gleichen Stelle – denn nur Bewegung schützt es.

Fotos und Kotproben als Beweise

Menschen können das entspannter sehen: „Über 50 Jahre hat es in Europa keine Attacke eines gesunden Wolfes auf Menschen gegeben“, sagt Nabu-Mann Bathen. Nun ist der Westerwälder Wolf tot, erschossen ist er, aber andere werden folgen. Irgendwann. Die Wissenschaft braucht ja immer diese lästigen Beweise auf die Frage, wo jetzt wieder Wölfe wohnen. Totfunde gelten als Beweis, Fotos aus Fotofallen, Kotproben, Wildverbisse. Und natürlich, wenn Rotkäppchen verschwände.