200 Jahre alt wäre Charles Dickens am 7. Februar 2012 geworden. Vom London der Nacht hat sich der geistige Vater von Oliver Twist und David Copperfield stets inspirieren lassen. Wir haben die Schritte des großen Schriftstellers nachgespürt.
Tristesse und Amüsement, tiefes Elend neben hochmütigem Prunk – Londons Extreme hat niemand so üppig porträtiert wie Charles Dickens. Selber ein rastloser, gespaltener Charakter, wanderte er oft schlaflos durch den viktorianischen Moloch. In der Dunkelheit sammelte der Autor bei Obdachlosen, den Unbehausten und Trunkenbolden, Inspiration für seine Romane. Wer seinen Schritten heute nachspürt, findet Puls und Personal der Londoner Nacht unverändert.
Joseph trägt einen grauen Bart und eine Mütze gegen die Kälte. Seit Einbruch der Dunkelheit, und die kam an diesem Freitag früh, steht er am Bahnhof Charing Cross und bietet gute Worte und zwei Minuten Sinn feil. Alles, was es braucht, ist ein neugieriges Umstreifen der schmutzigen Decke, die er vor den Fußgängertunnel gelegt hat. Darauf liegen Dutzende Zettel mit Aufschriften wie „Lamento des Junkies“ oder „Ich habe keine Zeit für Poesie“. Sein Gedichte-Memory funktioniert so: Man tippt auf einen besonders mysteriös klingenden Zettel und er rezitiert das Gedicht, das sich auf der Rückseite verbirgt. Er kann sie alle auswendig, die meisten hat er selbst geschrieben, inspiriert durch die Menschen, die ihm hier Gesellschaft geleistet haben.
Mancher Passant hinterlässt Joseph als Dankeschön sein eigenes Gedicht. Wie ein Obdachloser, der sich auf die Schnelle verewigte: „You * Beautiful. Spread The Love.“ Die Straßenpoesie macht einige, die am Saum der Decke stehen geblieben sind, etwas melancholisch. Deshalb zitiert Joseph schnell etwas Lustiges. Es ist 22 Uhr, die Winterluft noch voll Kneipenlärm, Rauch und Gelächter.
„Mond und Wolken waren in ihrem Ungestüm so ruhelos wie ein schlechtes Gewissen in einem zerwühlten Bett, und es war, als lastete der Schatten Londons in seiner riesenhaften Ausdehnung bedrückend auf dem Fluss.“
Über dem Fußgängertunnel, an dem das Blitzgedicht-Business bei Nachtschwärmern boomt, erhebt sich düster ein alter Industriebau. Charles Dickens hat hier, in der ehemaligen Schuh-Fabrik, als Zwölfjähriger schuften müssen. Erst als Dickens‘ Vater aus dem Schuldner-Gefängnis entlassen wurde, endete auch die Zwangsarbeit für den Jungen. Längst sind in den Industriebau Kneipen und Theater gezogen. Selbst die Slums an den Seven Dials, einem sternförmigen Platz nahe Covent Garden, sind exquisiten Boutiquen gewichen. Wo Makler heute Höchstpreise aushandeln, litt London zu Dickens‘ Zeiten an qualvoller Enge, Schmutz und hoher Kindersterblichkeit. In „Oliver Twist“ hat er dem Elend ein Denkmal gesetzt.
„Einer der schlimmsten Anblicke in London, die ich kenne, ist der Anblick der Kinder, die sich an diesem Ort herumtreiben; die in den Körben schlafen, sich um Schlachtabfälle streiten, auf jeden Gegenstand zuspringen, den sie in ihre diebischen Hände zu bekommen hoffen, unter Karren und Schubkarren flitzen, sich vor Polizisten verdrücken und mit ihren nackten Füßen auf dem Pflaster der Piazza unablässig ein dumpfes Getrappel machen.“
Die Not ist jedoch nicht verschwunden, sie ist nur umgezogen. Sie wohnt heute in anonymen Sozialblöcken am Stadtrand, bringt sich durch gelegentliche Aufstände in Erinnerung bei denen, die sie dort vergessen haben. Jene, die um kurz vor Mitternacht längst schlafen, als ein kleiner, gebückter Mann sich vor dem Apple Flagship Store auf die Zehenspitzen stellt, um den Bodensatz aus einer Mülltonne zu fischen.
Noch immer ist in keiner anderen westlichen Hauptstadt die Kluft zwischen Arm und Reich so groß wie in London. Die Vitalstatistik der Stadt hat sich seit dem Wirken ihres berühmten Chronisten nicht verbessert: Die oberen zehn Prozent verfügen mittlerweile über ein Durchschnittsguthaben von 933 563 Pfund, die unteren zehn Prozent über 3420 Pfund.
Je schicker die Uniform, desto skeptischer die Blicke
Die Klassenunterschiede spürt man selbst bei den wenigen Nachtwachen, die der späte Flaneur trifft. In der Kemble Street steht ein Pförtner um kurz vor Mitternacht mit dem Schlüssel vor der Drehtür eines Bürohauses. Seit Sonnenaufgang ist er im Dienst, weil die Spätschicht sich krank gemeldet hat. Er trägt die global gültige Uniform der Geringverdiener, das billige Polyesterschwarz der Sicherheitsbranche. Den Fremden lädt er gutmütig zur Feierabendzigarette ins menschenleere Foyer ein. Doch je schicker die Uniform der Nachtwächter, desto skeptischer der Blick auf unbehauste Streuner. Im „Rules“ in der Maiden Lane etwa, einem der ältesten Restaurants der Stadt, in dem auch Dickens Stammkunde war, wacht ein wortkarger Portier mit Hut, Stock und Goldknauf darüber, dass niemand die Gäste hinter den hell erleuchteten Scheiben beim Austernschlürfen stört.
„Wenn endlich Ruhe eingekehrt zu sein schien, musste nur eine Droschke vorbeirattern, damit ihr unfehlbar ein halbes Dutzend weitere folgten; man stellte sogar fest, dass Betrunkene einander magnetisch anziehen, denn wenn wir sahen, wie ein bezechtes Subjekt gegen die Läden eines Ladens taumelte, wussten wir, dass keine fünf Minuten vergehen würden, bevor das nächste bezechte Subjekt herbeiwanken und sich mit dem ersten verbrüdern oder bekriegen würde.“
Taxi-Türen knallen, letzte Expressbahnen rattern unter dem Asphalt. Den Rest der Nacht wird man in London nur noch Glocken läuten hören. Ansonsten ist es still um genau 00.30 Uhr, jener Zeit, zu der Charles Dickens gewöhnlich das Einschlafen aufgab und ruhelos das Haus verließ. Viel hat ihn gequält, nicht nur der Tod des Vaters 1851, in dessen Folge er monatelang nachts umherspazierte und seine Eindrücke in dem grandiosen Essay „Night Walks“ festhielt. Ihn trieb vor allem der Verlust der eigenen Kindheit durch die Armut seiner Eltern um – eine Erfahrung, von der er sich trotz späterem Ruhm und Wohlstand nie erholte.
Jemand, der den Nacht-Rhythmus des Stadtstaates London so gut kennt wie der alte Romancier, ist William Raban, Filmemacher mit Faible fürs Schräge. Im grellen Kunstlicht der U-Bahn-Station Temple wartet er. „Dickens mussten wir in der Schule lesen“, sagt er mit einem Grinsen, „also habe ich ihn nicht gelesen.“ Mit „Night Walks“ aber erging es ihm anders. Ein halbes Jahr lang ist er dem Nachtspaziergang mit der Kamera nachgelaufen. Entstanden ist ein 20-minütiger Kurzfilm, „The Houseless Shadow“, eine Elegie auf Londons Dunkelheit. Und wie Dickens hat auch Raban bei seinen Streifzügen die Nähe der Unbehausten, der Nachtmenschen ohne Obdach, gefunden.
„Doch der Fluss hatte etwas Grauenhaftes, die Gebäude an seinen Ufern waren in schwarze Leichentücher gehüllt, und die widergespiegelten Lichter sahen aus, als stiegen sie aus der Tiefe des Wassers empor und würden von den Geistern der Selbstmörder gehalten, die zeigen wollten, wo sie untergegangen waren.“
Über die dunkle Themse folgt er den Spuren Dickens Richtung Waterloo. Das „London Eye“, bei Nacht eine monströs angestrahlte, weiße Krake, thront über dem menschenleeren Uferboulevard. Konkurriert um Aufmerksamkeit mit dem Sichelmond am klaren Himmel und dem Parlamentsgebäude, das bei Nacht scheint, als würde es auf der Themse schwimmen. Der Klang einsamer Schritte ist der Soundtrack zu Rabans Projekt. In der Hand trägt er eine abgeschabte Tüte. Darin hat er diskret seine Kamera versteckt: „Ich wollte aussehen wie ein Tramp, wie alle, die um diese Stunde noch unterwegs sind.“
„Im Verlauf dieser Nächte vervollkommnete ich meine Ausbildung als Dilettant auf dem Sachgebiet der Obdachlosigkeit. Da mein Hauptbestreben darin bestand, die Nacht zu überstehen, brachte seine Verfolgung mich in kameradschaftlichen Kontakt zu Leuten, die jede Nacht des Jahres kein anderes Bestreben kennen.“
Yvonne, eine schwarze Obdachlose, ist eine seiner dickensianischen Figuren des 21. Jahrhunderts. Heute hat sie sich zu später Stunde auf einer Bank an der Rückseite des Nobelhotels Savoy niedergelassen. Sie blickt direkt auf den reglosen, schwarzen Fluss, der mit seinem Mikroklima wärmer ist als andere Orte der Stadt. Möwen und Mäuse lungern im Halbdunkel vor ihren Tüten herum. Bei Dickens sind es die Armen, die die größte Herzensbildung haben, die Analphabeten, die die Klügsten sind. Deshalb ist Yvonne für Rabans die perfekte Besetzung auf der Bühne des modernen, armen Londons. Sie mag kein Obdach haben, aber sie genießt den Panorama-Blick, spricht in makellosen Sätzen und stellt – wie jeder behauste Engländer – ihren Abfall ordentlich an den Straßenrand. Keine Minute zu spät, denn in dem Moment prescht schon der Müllwagen um die Ecke. Hupend kommt er an Yvonnes Bank zum Stehen, Nettigkeiten werden ausgetauscht. Dann kann sie sich endlich nach einem Tag auf der Straße erschöpft zur Ruhe legen.
Der Filmemacher zieht weiter, vorbei an der Westminster Abbey, in der Dickens 1870 beerdigt wurde, zur Kathedrale St. Paul’s. Hier campiert zurzeit die 99-Prozent-Bewegung – für jemanden wie Raban, der Dickens‘ scharfes Auge für soziale Ungleichheiten teilt, ein Pflichtstopp. Dass das Zeltlager schon bald von der Polizei geräumt werden soll, gibt ihm zu denken. „London hat sich in den letzten 20 Jahren massiv verändert“, sagt er, „selbst mit zwei Einkommen schaffen es viele nicht mehr, sich eine Wohnung zu kaufen.“ Die Tory-Regierung verschärft die Lage: „Da an den Sozialleistungen gekürzt wird, sehen wir demnächst noch mehr Obdachlose auf den Straßen der Stadt.“ 200 Jahre nach dem Geburtstag von Charles Dickens ist dessen literarische Botschaft so aktuell wie einst.
„Die Lokomotive schnaufte und keuchte und schwitzte, als wischte sie sich die Stirn und als wollte sie sagen, wie schnell sie gewesen sei; und keine zehn Minuten später waren die Lichter gelöscht, und ich war wieder obdachlos und allein.“
Der Morgen graut. Dickens eigener Rundgang endete da einst trostlos am Bahnhof bei hektisch eilenden Frühreisenden: „Doch wie fast alle Gesellschaft auf dieser Welt hatte man sie nur für kurze Zeit.“ In St. Pancras verabschiedet sich auch Filmemacher Raban. Die Menschenströme, die die Stadt an dieser Stelle kreuzen, der aufbrausende Berufsverkehr, die unausgeschlafenen Großstädter – all das kennt jeder. Das Interessante aber, das hört jetzt, in diesen Minuten, auf.
Charles Dickens‘ „Night Walks“ liegt in frischer Übersetzung vor, der wir auch alle literarischen Zitate für diesen Artikel entnommen haben: „Reisender ohne Gewerbe – Nachtstücke“ (C.H. Beck textura, 128 Seiten, 14,95 Euro)
Begleitete Führungen bei Tage veranstaltet London Walks jeden Freitag: www.walks.com
William Rabans Kurzfilm „The Houseless Shadow” ist bis zum 6. Juni 2012 im Museum of London zu sehen.