Berlin..

Kaum jemand wird so durchleuchtet wie die Mutter. Schluss mit den ganzen Familiestudien! Warum man sich von all den Umfragen nicht verrückt machen lassen sollte. Ein Plädoyer für mehr Gelassenheit.

Samstagnachmittag auf dem Spielplatz. Krokusse, Kekse, Kleinkinder auf der Schaukel. Auch die Mütterbänke sind voll, aber kein bekanntes Gesicht weit und breit. Oder doch? „Sagen Sie, kennen wir uns nicht?“ Natürlich kennen wir uns. Mütter in Deutschland sind die am besten beschriebene Spezies. Kein anderes Lebewesen ist in den letzten Monaten so gründlich durchleuchtet worden. Studien, Umfragen, Erfahrungsbücher – wir wissen scheinbar alles über sie. Aber hilft uns das weiter?

Die gläserne Mutter

Das ganze Land träumt von der gläsernen Mutter, von der streifenfreien Durchsicht auf ihre Ängste, Sorgen, Befindlichkeiten. Zu wenig Nachwuchs in Deutschland? Zu dicke, zu doofe, zu disziplinlose Kinder? „Fragen Sie sich doch mal, woher das kommt!“ Na? Genau. Volkes Stimme kann nicht irren. Es liegt an den Eltern! Oder ehrlicher gesagt: an den Müttern. Bei 95 Prozent der deutschen Kleinkinder übernehmen sie nach wie vor den Hauptteil der Betreuung. Und bei den älteren Kindern? Nun ja, wie viele Väter arbeiten in Teilzeit? Na, sehen sie.

Gefühls-Hochrechnung

Deshalb die ganze Fragerei. Alle paar Wochen kommen die Meinungsforscher mit neuen Stimmungsbarometern. Wann ist eine Mutter eine gute Mutter? Sind späte Mütter die besseren Mütter? Wann ist eine gute Mutter eine glückliche Mutter? Und wieso kann langsam kein Mensch mehr alle diese hirnverbrannten Gefühls-Hochrechnungen übers Kinderhaben ertragen?





Weil sie banal sind. Da erfährt man in der jüngsten Allensbach-Umfrage, dass 70 Prozent der Mütter von Kleinkindern finden, dass gute Mütter mit ihren Kindern oft an die frische Luft gehen. Aha. Ist das jetzt viel? Und sind die anderen 30 Prozent dafür, Kinder besser im Keller großzuziehen? Oder Folgendes: 27 Prozent der Kleinkindmütter glauben, dass gute Mütter nicht arbeiten gehen, sondern sich ganz um das Kind kümmern. 23 Prozent glauben das Gegenteil: dass eine gute Mutter beides schafft, für die Kinder zu sorgen und einen Beruf zu haben. Und die anderen 50 Prozent? Klappern die gerade alle Kitas der Stadt ab, auf der vergeblichen Suche nach einem Betreuungsplatz bis 18 Uhr?

Umfragen fast im Monatstakt

In den letzten zwölf Monaten kamen die Umfragen fast im Monatstakt. Gefragt wurde nach dem Wohlbefinden der deutschen Eltern (Stiftung Ravensburger Verlag), nach dem Alltagsverhalten in der Familie (AOK Familienstudie) nach der Angst der Mütter vor dem Perfektionszwang (Milupa-Studie) oder generell: „Warum kriegt ihr keine Kinder?“ (Forsa-Studie für die Zeitschrift „Eltern“). Zuletzt kam die oben erwähnte Allensbach-Studie für den Babynahrungshersteller Humana – Titel: „Happy Elternzeit oder Kraftakt Familie?“.

Keine schlechte Werbestrategie, übrigens. Sex sells? Ha! Mütteralarm verkauft sich mindestens genauso gut. Dabei vergisst man schnell, dass in den Jahren davor eine andere Frage im Mittelpunkt stand: Wie geht es den Kindern? Die Nullerjahre waren die große Zeit der Kinderflüsterer, der Erziehungsratgeber und der übersteuerten Förderkultur. Stichwort Wirtschaftsenglisch für Vorschulkinder. Ende des Jahrzehnts wendete sich der Blick vom Kind auf die Eltern: Den Anfang machte 2008 die Konrad Adenauer-Stiftung mit einer wegweisenden Studie – drei Jahre und Dutzende Umfragen später weiß man vor allem eins: Mutterschaft ist heute anders als vor 30 Jahren. Und das hat viele Gründe. Die wichtigsten vier:


Erstens. Viele Frauen lassen sich heute deutlich mehr Zeit mit dem Erwachsenwerden. Aber auch der lässigsten Jungmutter geht eines Tages auf, dass der Alltag mit Kindern längst nicht so dekorativ ist wie erhofft und dass Kinder das eigene Ego auch nicht 24 Stunden lang mit hochwertigem Lebenssinn erfüllen. Was sie sehen, ist: Mit Kindern muss man endgültig erwachsen werden. Schon, damit die Kinder Kinder sein können. Das ist nicht leicht.


Zweitens. Aus der Straßenkindheit von früher ist eine Art Inselkindheit geworden: An den Nachmittagen und Wochenenden managen Mütter und Väter den Fährverkehr zwischen den Familieninseln und kümmern sich um die drei großen F’s: Freunde, Förderung, Fitness. Kindheit findet nicht mehr statt, sondern muss organisiert werden.


Drittens. Es gibt so viele Erziehungsstile wie Ratgeber in den Regalen – aber oft zu wenige Vorbilder im Alltag. Mütter und Väter müssen täglich aufs Neue aushandeln, wie sie ihre Kinder erziehen wollen. Es geht um Fernsehminuten, Schimpfwörter und Klamotten, um Selbstdisziplin, Respekt, Haltung. Das ist anstrengend.


Viertens. Es gibt mehr Alleinerziehende, mehr berufstätige Mütter und mehr Väter, die nach einer neuen Familienrolle suchen. Hinzu kommt: Das Berufsleben verändert sich. Es gibt zwar mehr Teilzeitmodelle – aber immer weniger klassische Halbtagsstellen mit kinderfreundlichen Arbeitszeiten und verlässlichem Feierabend. Alle vereint, dass sie tagtäglich den Spagat versuchen und Neuland betreten. So etwas stresst nicht nur die Bänder.

„Den Eltern wird heute ein Maß an Verantwortung und Mitsprache für ihre Kinder zugewiesen, das es in früheren Generationen nicht gab“, sagt Christine Henry-Huthmacher, Familienexpertin bei der Konrad-Adenauer Stiftung. Das ist das eine. Das andere ist selbst gemachte Hysterie. Die Zeit, die Eltern täglich damit verbringen, die richtige Säuglingsmilch, die perfekte Tagesmutter, die beste Grundschule und den optimalen Schulranzen zu finden und sich in Spielplatzcliquen und Internetforen den Mund darüber fusselig reden – diese Zeit könnten sie, böse gesagt, schon wieder mit Meinungsumfragen verbringen.

Glück oder Selbstbetrug

Denn eine Frage steht noch aus: Die nach dem Glück. Also bitte: Daumen rauf oder runter? Die Allensbach-Forscher sagen nach ihrer jüngsten Umfrage überraschenderweise: Junge Mütter sind ein bisschen glücklicher als der Durchschnittsdeutsche. Andere Forscher bestreiten das, sprechen sogar von Selbstbetrug. Aber was soll’s? Müssen Mütter glücklicher sein als Nicht-Mütter? Nein. Sie müssen bloß erwachsener sein als andere. Dafür dürfen sie ab und zu auf die Schaukel.