Essen..
„Stille Nacht, heilige Nacht“ - und wie geht es weiter? Kaum jemand kann alle Strophen der Weihnachtslieder auswendig. Dabei lohnt sich ein genauer Blick, denn die Texte haben mit den weihnachtlichen Kitschklischees oft gar nichts zu tun.
Beginnen wir doch einfach mit einem kleinen Selbstversuch. Setzen Sie sich hin, schließen Sie die Augen – und singen Sie so laut Sie wollen: „Stille Nacht, heilige Nacht. Alles schläft, einsam wacht. Nur das traute hochheilige Paar . . .“
Wie war das noch gleich mit dem holden Knaben im lockigen Haar?
Und wie geht’s weiter? Wie war das noch gleich mit dem holden Knaben im lockigen Haar, der in himmlischer Ruh’ ein Schläfchen abhalten soll, obwohl Ochs und Esel um ihn versammelt sind? Zwar führt „Stille Nacht“ seit Ewigkeiten die Hitliste der populären Weihnachtslieder an, bei denen der Organist an Heiligabend für seine Gemeinde alle Register zieht, doch aus voller Kehle mitsingen können wir die Strophen nur mit der Stütze des Textbuchs. Auswendig schaffen das die wenigsten.
Dies könnte natürlich auch daran liegen, dass „Stille Nacht“ in seiner Urfassung aus sechs langen Strophen besteht, von denen aber in der Kirche und im trauten Familienkreis eigentlich nur drei gesungen werden: die ersten beiden und die letzte. Der Rest bleibt auf der Strecke. Dabei lohnt es sich, auch den übrigen Strophen mal genauer nachzuspüren, die mit dem Kitschklischee vom idyllischen Weihnachtsfest inklusive leise rieselndem Puderzucker oft gar nichts zu tun haben. „In den Texten vieler Weihnachtslieder steckt mehr drin, als man gemeinhin denkt“, sagt Stefan Glaser, der Beauftragte für Kirchenmusik beim Bistum Essen. „Man muss sich die Lieder nur mal anschauen.“
So auch „Stille Nacht“: Der Gassenhauer unter den Weihnachtsliedern verdankt seine Popularität einer Verlegenheitslösung. Weil die Orgel in seiner Kirche über die Maßen verstimmt war, entschied sich der Organist Franz Xaver Gruber im österreichischen Oberndorf nahe Salzburg dazu, den Text des Hilfspfarrers Josef Mohr mit der Gitarre zu vertonen. In der Christmette des Jahres 1818 trugen die beiden das Lied vor. „Es ist eine schlichte Melodie für die alpenländische Bevölkerung, die sofort ins Ohr geht“, meint Stefan Glaser. Die Menschen hörten und sangen es so gern, dass es bis nach Amerika vordrang, wo „Silent Night“ längst jedes Kind kennt.
„Die Aussage dieses Liedes ist natürlich kitschig“, meint Glaser. „Aber sie passt gut zur etwas verklärten Romantik vom Jesuskind im Stall.“
Interessant wird es in der vierten Strophe, wo es heißt: „Wo sich heut alle Macht / väterlicher Liebe ergoss / und als Bruder huldvoll umschloss / Jesus die Völker der Welt.“ Das will nicht so recht ins zuckersüße Adventsglück passen. Kein Wunder, wenn man bedenkt, wann Mohr diese Zeilen schrieb: unmittelbar nach den napoleonischen Kriegen. Eine tiefe Sehnsucht nach Frieden ist hier gut herauszulesen.
Es gibt noch andere Weihnachtslieder, die unerwartete Wendungen nehmen: etwa „Ihr Kinderlein kommet“. Was das Töchterchen beim Adventssingen mit so viel Hingabe in ihre Blockflöte trötet, ist nur auf den ersten Blick ein Lied über Frieden und Harmonie. „Vor allem in der fünften Strophe steht ein klarer Hinweis zum Leiden Christi“, weiß Stefan Glaser. Singen Sie einmal dies: „O betet: Du liebes, du göttliches Kind / was leidest Du alles für unsere Sünd’! / Ach hier in der Krippe schon Armut und Not / am Kreuze dort gar noch den bitteren Tod.“ Da bleibt der Dominostein im Hals stecken.
„In einigen Weihnachtsliedern sind solche Bezüge zu finden“, sagt Glaser. Auch das Lied „Ich steh an deiner Krippe hier“ widmet sich ab Strophe sieben der dunklen Seite des Lebens: „Wann oft mein Herz im Leibe weint / und keinen Trost kann finden / da ruft mir’s zu: Ich bin dein Freund / ein Tilger deiner Sünden“.
Ein flammender Appell nach Frieden
Dabei behauptet aber niemand, dass Weihnachten kein fröhliches Fest sein darf, betont der Kirchenmusiker: „Die Menschwerdung Gottes beginnt an Weihnachten, endet am Kreuz und mündet in der Auferstehung zu Ostern.“ Aus diesem Grund zählt das Adventslied „O Heiland, reiß die Himmel auf“ zu Glasers Lieblingen: „Mir gefällt die Metapher vom Aufreißen“, sagt er. Wer genau hinschaut, entdeckt auch darin Dramatisches: Das Lied stammt aus dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) und gipfelt in einem flammenden Appell nach Frieden: „Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt / Darauf sie all ihr’ Hoffnung stellt? / O komm, ach komm vom höchsten Saal / Komm, tröst uns hier im Jammertal.“
Komplizierter wird es bei „Es ist ein Ros entsprungen“: Wenn Sie sich mal ganz unbedarft die erste Strophe durchlesen, werden Sie feststellen, dass der Autor dieser Zeilen geschickt verschweigt, wovon sein Lied eigentlich handelt: „Es ist ein Ros entsprungen / Aus einer Wurzel zart / Wie uns die Alten sungen / Aus Jesse kam die Art / Und hat ein Blümlein bracht / Mitten im kalten Winter / Wohl zu der halben Nacht.“ Und, alles verstanden?
„Dieser Text aus dem 16. Jahrhundert ist rätselhaft“, erklärt Glaser. „Worum es geht, erschließt sich erst im weiteren Verlauf, so ähnlich wie bei ,Ein Männlein steht im Walde’“. Wenn der Organist die zweite Strophe anstimmt, dann klärt sich einiges auf: „Das Röslein, das ich meine /... / Maria ist’s, die Reine.“ Und das Blümlein, das sie uns bringt, steht für Jesus selbst, dessen Bestimmung in Strophe drei angesprochen wird: „Mit seinem hellen Scheine / Vertreibt’s die Finsternis.“
Und obwohl „Es ist ein Ros entsprungen“ in allen Kirchen gern und oft gesungen wird, gibt es doch einen feinen Unterschied: Während auf katholischen Kirchenbänken von „Maria, die Reine“ die Rede ist, wird eben jene in evangelischen Gesangsbüchern als „reine Magd“ beschrieben. „Dies ist ein gutes Beispiel für die Unterschiede in der Haltung zur Marienverehrung“, so Glaser. „Da schwingt die schwierige Glaubensfrage nach der unbefleckten Empfängnis mit.“
Doch was ist das Wichtigste bei jedem Lied? Die Freude beim Singen! Wenn die Lichter brennen und die Geschenke bereit liegen, dann machen Weihnachtslieder die größte Freude. Im Kreis Ihrer Lieben können Sie in diesem Jahr vielleicht mal drüber nachdenken, nicht immer bloß die abgenudelten Passagen eines Liedes zu singen. Denn gerade im hinteren Teil stecken oft schöne Entdeckungen – und das Töchterchen hält mit der Blockflöte bestimmt auch tapfer zwei Strophen länger durch.