Mitunter liegt nicht einmal ein Auslöser vor – trotzdem können die Schmerzen überwältigend sein. Was kann man tun?
Das Nervensystem ist so an die Übermittlung von Schmerzreizen gewohnt, dass es zu stark auf diese Reize reagiert, selbst wenn sie gering sind. Mitunter liegt nicht einmal ein Auslöser vor – trotzdem können die Schmerzen überwältigend sein.
Worum geht es beim Schmerzgedächtnis?
Dank unserem Gedächtnis erinnern wir uns an viele schöne und weniger schöne Erfahrungen. Auch unser Körper ist in der Lage, sich an schmerzhafte Erfahrungen zu erinnern. Wer über längere Zeit wiederholt Schmerzen verspürt, gewöhnt sich an sie, und sie werden zu einer Erinnerung, die die Person prägt. Dabei verändert sich auch das zentrale Nervensystem.
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Alles beginnt mit den Nozizeptoren, die fast überall im Körper vorkommen. Sie reagieren auf chemische, thermische und mechanische Reize und leiten diese an das Gehirn weiter. Das Hirn, das noch immer so funktioniert wie in der Steinzeit, verbindet aus evolutionären Gründen Schmerz mit Gefahr. Die betroffene Person ist alarmiert. Das Resultat: Die emotionale Verknüpfung macht den Schmerz oft größer, als er tatsächlich ist. Er brennt sich in unser Gedächtnis ein.
Hinzu kommt, dass bestimmte Schmerzarten einen Teufelskreis auslösen. Das beste Beispiel dafür sind Rückenschmerzen, die zu Vermeidungsverhalten führen. Aus Angst vor Schmerzen bewegt man sich weniger, und es kommt zum Verlust wertvoller Muskelmasse und zu einer Schonhaltung. Weitere negative emotionale Erfahrungen wie Depressionen über den körperlichen Verfall beschleunigen den Kreislauf zusätzlich. Der Schmerz wird immer größer.
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Der Schmerz selbst wird zur Krankheit
Schmerzen können sich also regelrecht in den Körper „einbrennen“. Im Nervensystem sind besonders starke Verknüpfungen zwischen dem Gehirn und dem Schmerzort entstanden. Elektrische Signale werden leicht und ungehindert übertragen. Aus einem holprigen Feldweg mit vielen Schlaglöchern ist eine gut ausgebaute Autobahn geworden.
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Mit der Zeit verselbstständigt sich der chronische Schmerz: Er wird intensiver, hält länger an oder tritt im schlimmsten Fall ganz ohne Auslöser auf. Dann helfen oft auch keine Schmerzmittel mehr, da diese nicht auf die Erinnerung einwirken können. Studien zufolge wird Schmerz chronisch, wenn er über einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten regelmäßig empfunden wurde. Dann bildet sich das Schmerzgedächtnis. Beispiele für Erkrankungen, bei denen chronischer Schmerz und Schmerzgedächtnis besonders häufig auftreten:
• Bandscheibenvorfall
• Rückenprobleme
• Arthrose
• Arthritis
• Rheuma
Der sich verselbstständigte Schmerz ist kein unabänderliches Schicksal
Jeder Betroffene, der unter einem Schmerzgedächtnis leidet, sollte versuchen, es zu überwinden. Leider ist häufig keine vollständige Löschung möglich, doch spürbare Verbesserungen bei der Häufigkeit, Dauer und Intensität des Schmerzerlebens sind oft möglich. Dafür ist neben der Bereitschaft, das Problem in der Tiefe anzugehen, allerdings auch viel Geduld erforderlich.
Um die Herausforderung anzugehen, kann ein Spezialist aufgesucht werden, der sich mit Schmerzen und dem Schmerzmanagement auskennt. Schmerztherapeuten und Schmerzambulanzen können erste Anlaufstellen sein. In der Praxis sind jedoch leider viele Menschen auf sich selbst gestellt, weil sie oft keine Hilfe bekommen.
Doch wie lässt sich das Problem lösen? Fortschritte können im Rahmen der Selbsthilfe erzielt werden. Wie so oft ist es wichtig, auf seinen Körper zu achten und nicht zusätzlich zu belasten. Wenig Stress, gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf sind die Basis dafür.
Darauf aufbauend können folgende Therapien helfen:
• Akupunktur
• Reizstromtherapie
• Bewegungstherapie
• Wärmebehandlungen
• Elektro-Therapie (TENS)
• Progressive Muskelentspannung
• Autogenes Training
• Psychotherapie … und weitere
Vorbeugung durch schnelles Handeln
Wie verhindert man selbst am besten, dass sich ein Schmerzgedächtnis bildet? Der falsche Weg ist es, Schmerzen aushalten zu wollen. Viele tun das, um sich selbst oder anderen etwas zu beweisen. Leider regt diese Haltung den Schmerzkreislauf nur weiter an. Das heißt, dass man sich ein Schmerzgedächtnis regelrecht antrainiert. Allerdings gibt es keine Belohnung dafür, sich selbst zu quälen. Es härtet auch nicht ab, sondern macht es nur anfälliger für Schmerzen.
Gesünder und nachhaltiger ist es, die Behandlung bei akuten Schmerzen nicht aufzuschieben, sondern sofort etwas dagegen zu unternehmen. Am besten – sofern möglich – durch das vollständige Beseitigen der Schmerzursache. Auch die genannten. Therapien können dabei helfen, den Schmerz schon zu Beginn hinter sich zu lassen. LMG
Dies ist ein Artikel der Digitalen Sonntagszeitung. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei. Hier können Sie sich freischalten lassen. Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.