Sich selbst etwas beweisen, das wollte unsere Autorin. Und so nahm sie mit dem Rad am berüchtigten Sellaronda Bike teil – mit 1637 Höhenmetern
„53 Kilometer, 1637 Höhenmeter und vier legendäre Pässe: kein Thema mit dem E-Bike. Wer sich auspowern möchte, nimmt das Rennrad.“ Zack! Der Trigger war gesetzt. Dafür hatte die harmlose Beschreibung im Presseprogramm für die Tour nach Alta Badia gereicht. Denn natürlich würde ich mich auspowern, sollten doch die anderen „kein Thema haben“ und mit dem E-Bike den Sellaronda Bike Day in den Dolomiten bestreiten. Einen Haken hatte die Sache allerdings: Als eingefleischte Mountain-Bikerin bin ich zwar regelmäßig in vielen Bikeparks Bayerns, Österreichs und der Schweiz sowie auf den Trails Mallorcas, Gran Canarias oder Italiens unterwegs. Dank 180 Millimetern Federweg, einem üppig breiten Lenker und Stollenreifen schrecken mich besonders auf der bewaldeten Endmoräne zwischen dem Ammersee und Kloster Andechs direkt vor meiner Haustür längst kein Schotterstück und kein Wurzeltrail mehr. Auf einem Rennrad saß ich hingegen noch nie.
Der Sellaronda Bike Day, der zweimal im Jahr internationale Radsportfans ins Drei-Regionen-Eck Südtirol, Venetien und Trient lockt, wird als „Volksradltag“ ohne Wettbewerbscharakter bezeichnet und ist 2006 extra für diejenigen eingeführt worden: , die bei der berühmten Profi-Veranstaltung Maratona dles Dolomites kein Losglück hatten. Jedes Jahr bewerben sich für das Zeitrennen im Juli rund 30.000 Rennradfahrer aus allen Kontinenten, doch nur 8000 ergattern eine Startnummer.
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Ohne Training geht hier nix
Aber auch der „kleine Bruder“ der Maratona hat’s in sich und führt Serpentine für Serpentine über die vier Dolomitenpässe Gardena, Sella, Pordoi und Campolongo. Insgesamt knapp 1650 Höhenmeter mit einer Durchschnittssteigung von bis zu 7,9 Prozent schnurstracks hochstrampeln? Für eine Shuttle-verwöhnte Downhill-Begeisterte wie mich alles andere als eine verlockende Vorstellung.
Völlig unklar auch, wie sich so ein federleichtes Rennrad mit seinen dünnen Reifen und diesem gebogenen Lenker verhält, an dem die Bremsen ganz woanders angebracht sind als beim Mountainbike. Bilder von in sich verkeilten Peloton-Fahrern und ihren verbogenen Rädern tauchen vor meinem inneren Auge auf. Dazu die nackte Haut, die der Asphalt beim Sturz blutig schürft, statt gut gepolstert mit Schonern, Brustpanzer und Fullface-Helm auf weichem Waldboden zu landen?
Eins ist klar: Ohne Training geht hier nix. Gerade einmal drei Wochen bleiben fürs Umsatteln. Die Entscheidung fürs Rennrad („wer sich auspowern möchte…“, Sie wissen schon) war recht spontan gefallen. Ein Leihbike ist flugs besorgt und auch die erste Trainingssession auf dem Rennrad rasch absolviert. Mit ernüchterndem Fazit: Für die Ammersee-Umrundung habe ich mit zwei Stunden Fahrtzeit ganze 35 Minuten länger gebraucht, als der rennraderprobte Freund normalerweise fährt, der mir heute charmant seinen Windschatten gespendet hat. Die ungewohnt gestreckte Sitzhaltung hat mir dazu noch üble Nackenschmerzen eingebrockt. Zurückgelegte Steigung: lächerliche 250 Höhenmeter.
Unter Weltmeistern
Nächster Versuch: von meinem Wohnort am Ammersee nach Tutzing am benachbarten Starnberger See und retour. 644 Höhenmeter. Toll! Fehlen ja nur noch knapp 1000! Nicht mehr leise, sondern ziemlich laute Verzweiflung packt mich, gepaart mit ersten, autodestruktiven Tourette-Erscheinungen: „Wie bin ich größenwahnsinnige Kuh auf diese hirnamputierte Idee gekommen? Andere Midlife-Krisen-Weiber versenken sich in veganes Kochen und Yin Yoga! Ich werde so was von verkacken, ich unfittes Großmaul!“
Immer wieder haben sich unter die Teilnehmer der Maratona dles Dolomites italienische Radrenngrößen wie Vincenzo Nibali oder Filippo Pozzato und sogar der fünffache Tour-de-France-Gewinner, der Spanier Miguel Indurain, gemischt. Die Internetrecherche stärkt Zuversicht und Selbstvertrauen auch nicht wirklich. Dennoch, ich lese weiter: Profi-Sportler anderer Disziplinen wie der Skifahrer Christof Innerhofer oder Biathletin Dorothea Wierer, beide aus Südtirol, haben die sieben Pässe der „Königin unter den Langstreckenrennen Europas“ ebenfalls bezwungen.
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Die Bestzeit der Frauen seit Beginn der Maratona im Jahr 1987 hat Rennradprofi Samantha Arnaudo im Juli 2023 eingefahren: 5 Stunden und fünf Minuten für 4230 Höhenmeter auf 138 Kilometern. Kunststück mit den 40 Kilo, die Samantha auf die Waage bringt!
Sogar Tandems gehen an den Start
„Das ist beim Sellaronda Bike Day anders, da starten Senioren, Familien mit Kindern, ja sogar Tandems. Das ist ganz entspannt, kein Gegeneinander, kein Gerangel um die beste Zeit, vielmehr ein Miteinander in der wunderbaren Natur der Dolomiten.“ So würde mich am Vorabend meiner Challenge Nicole Dorigo, PR-Chefin der Ferienregion Alta Badia, aufzubauen versuchen.
Doch noch läuft der Countdown. Das Training wird intensiviert und nach Nordrhein-Westfalen verlagert, wo ich wie in jedem Spätsommer meine Eltern besuche. Die Touren-App Komoot schickt mich von Hagen Richtung Lüdenscheid und verspricht mir einen „traumhaften Blick über das Ruhrtal und das Ardeygebirge“. Immerhin kratze ich jetzt endlich an der 1000 Höhenmeter-Marke und kann angesichts der für eine Wahlbayerin wirklich enormen Menge an Windrädern auf meinem Weg doch nicht anders, als an Don Quijote und dessen unermüdlichen Kampf gegen Windmühlen zu denken...
Auch eine Tour zum Wengeberg in Breckerfeld wird absolviert. 442 Meter über Normalnull. Höher hinaus geht’s im ganzen Ruhrgebiet nicht. Mein Trainingsfazit: sieben Touren in 18 Tagen, besonders erwähnenswert vielleicht: der dreimalige Aufstieg zum Hohen Peißenberg zurück in der Heimat. Nach 1134 Höhenmetern auf 42 Kilometern in zwei Stunden 40 ohne Zitteranfälle auf dem Gipfel macht sich endlich die Gewissheit breit: „Du schaffst das.“
Einst unter dem Meeresspiegel
Und jetzt rollt’s! Immer im Angesicht des beeindruckenden Sellastocks aus hellgrauem Kalkstein, der wie die gesamten Dolomiten einst unter dem Meeresspiegel lag, kurbeln wir hinauf. Die Passstraßen sind von 8.30 Uhr bis 16 Uhr für den Autoverkehr gesperrt. So sind wir seit unserem Start in Corvara morgens um neun ungestört in der beeindruckenden Natur Alta Badias unterwegs, die Stimmung ist so friedlich und entspannt wie angekündigt. Auf Zeit fährt hier niemand. Man will sie genießen, diese für ihre außergewöhnliche Schönheit berühmte Strecke mitten im Dolomiten Unesco- Welterbe, die ab dem Passo Gardena Alta Badia verlässt und ins Grödnertal abtaucht, um anschließend auf dem Passo Sella nicht mehr südtirolerisch, sondern trentinisch zu werden. Ab Passo Pordoi, dem mit 2239 Metern höchsten Punkt der Sellaronda, werden wir in Venetien unterwegs sein, bevor wir auf dem Campolongo nach Alta Badia zurückkehren.
Ins Keuchen um uns herum mischen sich Gelächter und Scherze, auf ladinisch, italienisch, deutsch aber auch englisch und holländisch. Wir sind viele – an die 10.000, die meisten auf dem Rennrad, einige auf dem E-Bike. Das ist im Gegensatz zur Maratona dles Dolomites ja erlaubt. Mein persönlicher Held ist mit dem Handbike unterwegs. Ihm fehlen die Unterschenkel.
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Der Berg ruft
„Man wird süchtig danach“, versichert uns Ingrid Wagner, als sie mit ihrem Mann auf dem Passo Gardena kurz verschnauft. Die 64-Jährige hat die ersten 590 Höhenmeter ab Corvara lässig mit ihrem Mountainbike absolviert, während sich Richard Wagner bei Steigungen von bis zu 13 Prozent lieber auf den Motor seines E-Bikes verlässt. Nein, trainieren würde sie im Vorfeld eigentlich nicht, beschämt mich die knapp 20 Jahre ältere Krankenschwester aus Kelheim, sie sei ja fit. Zum vierten Mal ist das Ehepaar beim Bike Day dabei. Nur im September 2022, da hätten sie abgebrochen, sagt Ingrid: „Da hat’s so geschneit, dass hier oben eine richtige Winterlandschaft war.“
Heute ist es trocken und sonnig, aber kühl. Perfektes Bikewetter. Unter mir zeichnet sich der Schatten meiner Füße und Pedale ab, die sich heben und senken, heben und senken. Die Beine halten, der Tritt ist gleichmäßig, auch Atem und Puls bleiben unter Kontrolle. Ein bisschen stolz auf mich stürze ich mich in die Abfahrten. Gesprenkelter Asphalt fliegt mir nur so entgegen, die Windjacke knattert vorlaut, und mit jedem km/h steigt die Euphorie. Nach 3 Stunden und 49 Minuten ist es geschafft. Das Rennrädchen und ich haben die Sellaronda bezwungen.
Ob aus mir und dem Federgewicht doch mehr wird als eine kurze Affäre? Zumal mich beim südtirolerisch-köstlichen Abendessen ein unerwartetes Angebot ereilt: ein sicherer Startplatz für die Maratona dles Dolomites am 7. Juli.
Was soll ich sagen? Der Trigger ist platziert.
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