Essen. Privatunternehmen im Krieg: Wie zentral Google, Amazon und Social Media im Kampf der Ukraine sind, erklärt die Militärexpertin Ulrike Franke.
Silvester 2022, ein mehrere Hundert Mann starkes Bataillon der russischen Armee lagert nahe der ukrainischen Stadt Makijiwka. Wenige Minuten nach Mitternacht werden die Männer von ukrainischen Raketen überrascht: Dabei sterben nach ukrainischen Angaben 400 Soldaten, 300 weitere sollen verletzt worden sein; Russland spricht von 89 Opfern. Zum Verhängnis sollen den teils frisch einberufenen Soldaten ihre Smartphones geworden sein: Massenhaft abgesendete Neujahrsgrüße hätten der ukrainischen Armee die Ortung ermöglicht, hieß es seinerzeit aus Russland, was die Ukraine üblicherweise nicht bestätigen wollte. Eine Karte mit aktiven russischen SIM-Karten auf ukrainischem Staatsgebiet kursiert im Internet.
Hochmoderne HIMARS-Raketen made in USA finden ihr Ziel mittels Software zur Ortung von Mobiltelefonen: Einer der bislang stärksten Schläge der ukrainischen Armee zeigt, welche entscheidende Rolle Technologie in diesem Konflikt spielt und dass der alleinige Blick auf klassische Waffenlieferungen diesem nicht gerecht wird. Denn neben Kriegsgerät von Lockheed Martin und Rheinmetall kommt im Ukrainekrieg auch Software von Google und Amazon zum Einsatz – die dafür eigentlich gar nicht gemacht wurde.
Der Krieg als Vater aller Dinge
Normalerweise aber läuft es andersherum. Dazu eine Anekdote aus dem 1. Weltkrieg: Hans Bredow – vor dem Krieg AEG-Ingenieur, im Krieg Offizier der Funkertruppe – hat Erbarmen mit seinen vom Stellungskrieg ermüdeten Soldaten und spielt ihnen mittels brandneuer Funkgeräte Musik von Schallplatten vor, lässt ihnen mit dem gleichen improvisierten Verfahren Zeitungsartikel vorlesen. Als die höhere Kommandostelle Wind davon bekommt, wird dieser „Missbrauch von Heeresgerät“ sofort verboten. Kurz nach Kriegsende gehen in Deutschland dann die ersten Radioprogramme an den Start: Die für Feldkommunikation entwickelte Verstärkertechnik und das Zwischenfunken eines Offiziers brachte die Erfindung und, fast wichtiger, die rasche Etablierung des deutschen Hörfunks. Dessen erster Staatssekretär und Leiter wurde: Hans Bredow. Eine veritable Medienrevolution.
Ein anderes Beispiel: Im 2. Weltkrieg entwickelte der britische Mathematiker Alan Turing eine elektromechanische Maschine zur Dechiffrierung des bis dahin unknackbaren Enigma-Codes der deutschen Wehrmacht. Viele sehen heute in dieser sogenannten „Turing-Bomb“ den ersten Computer.
Letztes Beispiel: Ein vom US-Verteidigungsministerium ab den 70er-Jahren entwickeltes Navigationssatellitensystem ermöglichte es Soldaten, sich in der Wüste von Nahost zurechtzufinden; heute findet dank GPS jedermann den schnellsten Weg zur nächstgelegenen Tankstelle.
Die Geschichte der Medien als Geschichte umfunktionierter, in den zivilen Markt eingesickerter Militärtechnologie lesbar zu machen, war das große Projekt des 2011 verstorbenen Germanisten und Medienwissenschaftlers Friedrich Kittler. Der bezeichnete selbst Rockmusik noch als „Missbrauch von Heeresgerät“ – wegen der dafür unerlässlichen, einst für kabellose Feldkommunikation entwickelten Verstärkertechnik. Zuspitzungen, die in der Forschung nicht unwidersprochen geblieben sind, die aber mitten im Wettrüsten die Augen öffneten für eine ganz und gar zeitgemäße Lesart des bekannten Heraklit-Spruchs vom Krieg als Vater aller Dinge.
Missbrauch von Unterhaltungselektronik
Heute tragen (unter anderem) russische Soldaten hoch entwickelte Medienverbundsysteme in ihren Hosentaschen und machen damit einen Missbrauch von Unterhaltungselektronik in bislang unbekanntem Ausmaß möglich. Und dass nicht nur passiv bei der Ortung des Feindes. Die Sicherheitsexpertin Ulrike Franke spricht deswegen von einer „Privatisierung des Krieges“ und meint damit die auffällig vielen, nicht-staatlichen Unternehmen, die der Ukraine ihre Dienste zur Verfügung stellten, die meisten davon aus dem Big-Tech-Bereich und ohne Militärbezug. Zugleich ermögliche die Ukraine durch Online-Fundraising und digitale Rekrutierungskampagnen Individuen weltweit, Einfluss auf das Kriegsgeschehen zu nehmen, weswegen Franke zu dem Schluss kommt, „dass militärtechnologische Innovation nicht mehr primär im staatlich-militärischen Bereich stattfindet“. Ein historisches Novum.
Rückendeckung aus dem Silicon Valley
Einige Beispiele: Russland attackiert gezielt die Infrastruktur der Ukraine. Dass die Verwaltung des Landes trotzdem weiter funktioniere, habe es Cloud-Diensten wie Amazon Snowball zu verdanken. Staatliche Internetseiten griffen auf mächtige Google-Server zurück und machten damit sogenannte Denial-of-Service-Attacken, bei denen Webseiten mit massenhaften Zugriffen gezielt außer Betrieb gesetzt werden, unmöglich. Überhaupt sei eine stabile Internetverbindung ohne Elon Musks Starlink-Satelliten nicht aufrechtzuerhalten, gibt Franke zu bedenken. In all diesen Fällen seien Privatfirmen präsent, die durch staatliche Akteure gar nicht zu ersetzten seien.
Näher am Kriegsgeschehen sind die Softwareprodukte von Palantir, das 2004 unter anderem von PayPal-Mitbegründer Peter Thiel ins Leben gerufen wurde. Geschäftsführer Alex Karp behauptete gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, seine Software sei „für den Großteil des Targetings in der Ukraine verantwortlich“ – also für die Zielerfassung. Das Unternehmen nutzt dazu unter anderem Satellitenbilder und Informationen von Wärmesensoren und modelliert mithilfe künstlicher Intelligenz Karten des Schlachtfelds – und das kostenlos. „Jeder Krieg ist eben auch eine Geschäftsmöglichkeit“, sagt Ulrike Franke. Verglichen mit Google und Amazon ein eher ,klassischer’ Akteur, denn zu Palantirs Kunden gehört auch das US-Verteidigungsministerium; früher hätte man vom militärisch-industriellen Komplex gesprochen, zu dem dieser Tage eben auch Big-Data-Spezialisten gehören.
Mobilisierung der Crowd
„Heute können Sie aus Kanada am heimischen PC eine Crowdfunding-Kampagne starten und so als Individuum Einfluss auf das Kriegsgeschehen nehmen.“ Tausende von Drohnen seien so bereits finanziert worden. „Menschen, die mit dem Krieg eigentlich nichts zu tun haben, sammeln so Millionen ein“, sagt die Sicherheitsexpertin Franke. Soziale Medien ermöglichten es Privatmenschen auf der ganzen Welt „am Krieg teilzunehmen“ – monetär oder ganz direkt, schließlich kämpft in der Ukraine auch eine Internationale Legion.
Damit einher geht die direkte Kommunikation von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Der Mann im T-Shirt (manchmal mit dem Aufdruck „United24“ – einer Crowdfunding-Kampagne) ist seit Kriegsbeginn dank Konferenzsoftware überall präsent: ein direkter Effekt des anderen großen Innovationsbeschleunigers, der Corona-Pandemie. Der ehemalige Schauspieler, der vor seiner politischen Karriere in der Rolle des ukrainischen Präsidenten berühmt geworden war, sitzt zur richtigen Zeit im richtigen Amt: Wie erfolgreich wäre wohl die Kommunikationsstrategie seines Vorgängers, des grauen Funktionärs Petro Poroschenko gelaufen? Selenskyj wirbt unentwegt um Unterstützung und andressiert dabei neben Staaten direkt deren Bürgerinnen und Bürger – auch dies eine Form von Individualisierung des Kriegsgeschehens.
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Krieg mit Hobbydrohnen
Jeder Krieg ist eine Materialschlacht. Die Nato-Staaten sehen sich aktuell außer Stande, die Munitionsnachfrage der Ukraine zu decken. Eindrücklich ist auch die Zahl der Drohnen, die das Land zur Zielerkennung, aber auch für direkte Angriffe verschleißt. 10.000 sind es dem britischen Thinktank RUSI zufolge – jeden Monat. „Wir lernen wieder, dass ein Krieg wahnsinnig viel Material verbraucht“, kommentiert Franke die Zahl. Die Ukraine profitiere jetzt von den Erfahrungen einer bereits 2014 von Hobby-Informatikern gegründeten Drohneneinheit.
Einst für den Kampfeinsatz konzipiert, passierten die größten Entwicklungsfortschritte bei Drohnen über lange Zeit in militärischen Forschungseinrichtungen, im großen Stil eingesetzt wurden sie etwa im US-amerikanischen Anti-Terror-Krieg. Um das Jahr 2000, erläutert Franke, habe sich schlagartig enorm viel getan: 2007 kam das erste iPhone auf den Markt, im Bereich Sensorik, Datenübertragung, Speicherung gelangen große Fortschritte, und plötzlich war die Drohne auf dem zivilen Markt angekommen – mit den üblichen Effekten: Drohnen ließen sich immer einfacher bedienen und wurden durch Massenherstellung sehr viel billiger als ihre militärischen Vorgänger. Wovon jetzt das ukrainische Heer profitiert, das massenweise Hobby-Drohnen vom chinesischen Weltmarktführer DJI importiert. Die werden dann vor Ort mit Abwurfeinrichtungen und Sprengsätzen versehen – und fertig ist die Kampfdrohne.
Not macht erfinderisch
Beispiele ließen sich noch viele weitere finden. Aber wie kommt es eigentlich, dass die Ukraine in so starkem Maße auf zivile Technologie zurückgreift? Not macht erfinderisch, könnte eine Erklärung lauten: Was die Ukraine von ihren westlichen Partnern nicht geliefert bekommt, muss sie eben selbst basteln. In englischsprachigen Medien kursiert dafür der Begriff „MacGyver-ing“.
Eine zweite Erklärung setzt bei der Marktmacht von Big Tech an: Google, Amazon und Co. dominieren einen weltumspannenden Markt und verfügen über derart enorme Investitionsressourcen, dass staatliche Beteiligungen, Einbindung in Militärprogramme, die Ausstattung von Heeren an Attraktivität verloren haben. Frühere Gamechanger haben beim Militär laufen gelernt; die heutigen kommen ohne diesen Umweg aus und sind direkt marktgängig – und gelangen über Umwege eventuell doch noch aufs Schlachtfeld.
Die Frage, gibt Franke zu bedenken, die sich privatwirtschaftliche Entwickler deswegen heute stellen sollten, lautet: „Könnte auch unser Produkt im nächsten Krieg zum Einsatz kommen und wie wollen wir uns dazu verhalten?“
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