Berlin. Hannah war sehr jung, als sie anfing, sich zu prostituieren. Eine Kunsttherapie hat ihr geholfen, ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten.
An einem Tag malt Hannah einen Schrank, an einem anderen Boxhandschuhe. Den Schrank hat sie ganz alleine in ihr Zimmer getragen. Da hat sie sich stark gefühlt, genau wie beim Boxen. Die Seiten ihres Tagebuches erzählen in Kinderbuntstiftfarben von allem, was Hannah Freude bereitet. Und von allem, was sie hinter sich gebracht hat. Auf einer Seite prangt das Wort „Frauenkampftag“ in großen roten Lettern. Darunter ein Schild: „Frauen sind keine Ware“. Hannah weiß, wovon sie spricht. Vier Jahre lang hat die heute 26-Jährige ihren Körper verkauft.
„Ich suchte mir Anerkennung bei Männern“
Spätestens, seit sie nach ihrem Ausstieg aus der Prostitution eine Kunsttherapie durchlaufen hat, bedeutet Malen für Hannah Therapie. Aber auch früher schon, als Kind, hat sie stundenlang gemalt. „Das war für mich Entspannung“, sagt sie und zeichnet das Bild eines trostlosen Zuhauses: ein Elternteil verstorben, der andere depressiv, gewalttätig.
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In einem Alter, in dem andere Mädchen gerade anfingen, sich zu schminken, traf Hannah sich mit älteren Männern. Viele lernte sie übers Internet kennen. „Ich begann sehr früh, mir Anerkennung bei Männern zu suchen und Orte, an denen ich mich sicher fühlte.“ Doch sicher war sie dort nie. „Sehr minderjährig“ vertraute sich Hannah Männern an, die sie ausnutzten und teils schwer missbrauchten. „Mit 16 habe ich angefangen, Drogen zu nehmen – jedes Wochenende, später auch in der Schule.“
Einer der Männer, mit denen sie sich traf und an dem sie gar nicht so recht interessiert war, lockte sie mit Kokain. Und bot ihr 200 Euro für Sex. „Das war für mich total viel Geld“, blickte Hannah zurück. „Ich wollte von Zuhause ausziehen, hatte eh Sex mit Leuten, die mir nicht gut taten. Da dachte ich: Kann ich auch Geld für nehmen.“ Mit 18 hatte Hannah genug zusammen, um auszuziehen. Nach Berlin. Da wollte sie schon immer hin.
Betroffene wendet sich an Ausstiegshilfe
In dem Job, den Hannah in Berlin annahm, fühlte sie sich überfordert. Nebenbei traf sie sich weiterhin mit Männern, die sie mittlerweile über Internetplattformen wie „Kaufmich.de“ buchten. Hannah bezeichnet das als „Sunny Side“ der Prostitution: „Ich hatte das Glück, dass ich nicht in der Armutsprostitution unterwegs war. Als Escort kam ich mit drei bis vier Treffen im Monat aus.“ Doch jedes bedeutete für Hannah ein neues Trauma.
Durch die Erfahrungen in ihrer Jugend weiß Hannah, wie man Täter zufriedenstellt: „Nicht Nein sagen, oder einfach mitspielen – weil es sonst noch mehr wehtun würde.“ Lange redete die junge Frau sich ein, dass das mit der Prostitution eine gute Sache sei. Leicht verdientes Geld. Es war nicht ihr Kopf, sondern ihr Körper, der nach vier Jahren den Dienst aufgeben wollte. Mit jedem Treffen wurden die Schmerzen unerträglicher.
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Hannah wandte sich an eine Ausstiegshilfe. Von einer Sozialarbeiterin erfuhr sie von einem Kunsttherapie-Projekt für ehemalige Prostituierte. „Mir wurde als Jugendliche eine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert“, erklärt Hannah, „deshalb befand ich mich zu diesem Zeitpunkt schon in Psychotherapie, aber da ging es eher um meine frühen Traumata.“ In der Kunsttherapie konnte sie sich ihrer Prostitutionserfahrung widmen.
Kunsttherapie bringt unterdrückte Gefühle zum Vorschein
Gemeinsam mit einer anderen Aussteigerin malte, gestaltete, pinselte Hannah unter Anleitung einer Therapeutin, was sie fühlte. In einer Übung sollten die Frauen „loslassen“. Hannah brachte ihre Wut auf die Leinwand: schwarze Pinselwische, pinke, gelbe, violette Kritzel, umrandet von verwischtem Orange. Wut auf ihr Umfeld, das Hannah lange das Gefühl gab, sie würde einen ganz normalen Job machen und auf „die vielen Freier, die sich gegen ihr schlechtes Gewissen einreden, Frauen würden es gerne machen“.
Als Hannah zeigen sollte, was sie braucht, malte sie in Wachsmalstiften eine Familie in einem Haus, umgeben von einem blühenden Garten. „Wie sehen mich die anderen?“, fragte eine andere Übung. Ihrer Maske aus Ton gab Hannah dicke rote Lippen, ein eingefrorenes Lächeln. Auch, wenn ihr nicht alle ihre Werke gut gefielen, konnte sie sich darauf einlassen, bekam positives Feedback – ohne Bewertung: „Die Kunsttherapie hat mir wieder Selbstvertrauen gegeben.“
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Manche der Techniken waren Hannah „ein bisschen zu aufregend“. Zum Beispiel, als sie Farben mischten, die Töpfe umdrehten und über die Leinwand laufen ließen. Kontrolle abgeben – das fällt Hannah auch heute noch schwer. „Aber es ist dann doch sehr schön geworden.“ So schön, dass zwei Bilder sogar Käufer fanden, bei einer anonymisierten Ausstellung in einer Berliner Bar. Dass jemand ihre Bilder kaufen wollte, war für Hannah etwas Besonderes: „Das Selbstwertgefühl ist im Keller, man hat das Gefühl, man kann nur in der Prostitution bestehen.“ Aus dieser Haltung heraus etwas zu schaffen, das andere wertschätzen und dafür einen symbolischen Betrag zu bekommen, beschreibt sie als wichtigen Teil des Therapieprozesses.
Aussteigerin: Prostitution basiert auf Traumata
Hannahs Erfahrung nach schauen Teile der Gesellschaft auf Frauen in der Prostitution herab. Andere verherrlichen sie. Bei der Ausstellung merkte sie zum ersten Mal: „Es gibt doch auch Leute, die nicht so festgefahren sind.“ Vor allem in einer Sache wünscht sich Hannah mehr Verständnis: „Ich würde mich freuen, wenn endlich mehr Bewusstsein entstehen würde, dass verschiedene Arten von Prostitution schädlich für die betroffenen Frauen sind.“ Denn auch Frauen wie sie, die sich freiwillig prostituieren, litten darunter und könnten von einer Therapie profitieren – egal, ob sie ihre Gefühle malen oder darüber sprechen.
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Kann Prostitution jemals selbstbestimmt sein? Nein, ist Hannah überzeugt. Selbst Frauen, die nicht von Dritten gezwungen würden, stünden in einer gewissen Abhängigkeit. Studien legen nahe, dass ein hoher Anteil der Prostituierten vortraumatisiert ist, also in der Vergangenheit sexuellen Missbrauch erfahren hat. Hannah ist eine von ihnen. Ein anderer Aspekt, gibt sie zu bedenken, ist das Geld. „Auch finanzielle Abhängigkeit ist Abhängigkeit“, findet die 26-Jährige. „Abgesehen davon glaube ich nicht, dass man Konsens erkaufen kann.“
Heute arbeitet Hannah im Sozialwesen. Sie hat ihr Studium nachgeholt, nimmt längst keine Drogen mehr. Das Freudetagebuch, das ihre Kunsttherapeutin ihr empfohlen hat, führt sie nicht mehr so regelmäßig wie früher, aber doch immer mal wieder. Dann holt sie die Buntstifte heraus, setzt sich auf ihr Bett und malt: ihre Lieblingsbuchhandlung in Neukölln, ganz oft ihre Mahlzeiten. Gerade hat sie sich eines ihrer Bilder ins Zimmer gehängt. „Nicht, weil es so schön ist, sondern weil die Kunst etwas in mir ausgelöst hat – einen Gedanken, über den ich mich sehr gefreut habe.“
>> Prostitution und psychische Gesundheit
- Seit der Corona-Pandemie ist die Zahl der gemeldeten Prostituierten in Deutschland zurückgegangen. Hat das Statistische Bundesamt im Jahr 2019 noch rund 40.400 Prostituierte erfasst, waren es 2021 nur noch 24.000. Nicht angemeldete Gewerbe und Zwangsprostitution werden in der Statistik nicht erfasst, die Dunkelziffer wird von Experten als sehr viel höher eingeschätzt.
- Erhebungen zur psychischen Gesundheit von Prostituierten gibt es in Deutschland bislang kaum. Eine Untersuchung des Bundesfamilienministeriums zu Gewalt gegen Frauen von 2004 hat ergeben, dass Prostituierte im Vergleich zu anderen Befragten besonders häufig schon in in der Vergangenheit Gewalt erlebt haben. Mit dem aktuellen Projekt „PsychSex“ sammelt die Berliner Charité Daten zur Prävalenz psychischer Störungen unter Prostituierten.
>>Ausstiegshilfen
- Frauen, die aus der Prostitution aussteigen möchten, können sich an das „Netzwerk Ella“ wenden. Alle Infos unter www.netzwerk-ella.de.
- Eine weitere Anlaufstelle ist „Solwodi“ (Solidarity with Women in Distress). Der Verein betreibt 19 Fachberatungsstellen und mehrere Schutzhäuser in ganz Deutschland. Alle Infos unter www.solwodi.de.
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