Er kam, er schimpfte und beleidigte jeden, der ihm in die Quere kam. Wie Ekel Alfred vor 50 Jahren das deutsche Fernsehen eroberte.
Alle, außer ihm, sind „doof“. Selbst in der eigenen Familie. Dort erst recht. Ehefrau Else (Elisabeth Wiedemann)? „Eine dusselige Kuh.“ Manchmal auch eine „dumme Gans“. Schwiegersohn Michael Dieter Krebs? „Ein anarchistischer Drecksack“ und Tochter Rita (Hildegard Krekel), na ja, „ist mit Hängen und Würgen durch die Mittlere Reife gerutscht“. Nur er selbst kann alles, weiß alles oder zumindest alles besser und hält sich ungeachtet seiner Körpergröße von 1,58 Meter für den Größten. Denn er ist Alfred.
Alfred Tetzlaff, „mit tee-zett, Sie Arschloch“, wie er auf Nachfragen gewohnt freundlich klarstellt. Heute vor 50 Jahren ist die Serie „Ein Herz und Seele“ erstmals im deutschen Fernsehen zu sehen – und straft ihren Titel schon in der ersten Folge Lügen.
Vorbild für die Serie kam aus England
Erschaffen hat die Figur der Drehbuchautor Wolfgang Menge („Das Millionenspiel“, „Smog“, Kressin-Tatort). Dabei soll er zunächst eigentlich nur die britische Erfolgsserie „Till Death Us Do Part“ übersetzen, die der Westdeutsche Rundfunk bei der BBC eingekauft hat. Aber schnell merkt der damals 50-Jährige. „Das funktioniert nicht.“
Also entschließt er sich, nur die Grundidee – vier Personen, zwei Generationen, zwischen denen es regelmäßig kracht – zu übernehmen, verlegt den Schauplatz aber aus dem Londoner Eastend in ein Reihenhaus in Wattenscheid – damals noch selbstständige Stadt. Für die Hauptrolle möchte Menge „jemanden, der zur Identifikation einlädt“. „Ein zwanzig Jahre jüngerer Henry Vahl wäre eine Idealbesetzung.“ Gert Fröbe kann nicht, Harald Juhnke will nicht. Er spiele „keinen Proleten“, lässt er mitteilen. Heinz Schubert, genannt „Schubi“, kann und will.
Eine Figur, zusammengesetzt aus Defiziten
Und der 48-Jährige, der zuvor als Brecht-Darsteller auf deutschen Bühnen brillierte, legt Tetzlaff als Giftzwerg an. Menge ist zunächst skeptisch: Er habe befürchtet, gibt er später zu, „dass die Reihe mit einer solchen unsympathischen Leitfigur keine lange Lebensdauer“ haben werde. Ein Irrtum ist das, aber ein nachvollziehbarer.
Familienserien in Deutschland heißen damals „Die Unverbesserlichen“ oder „Familie Hesselbach“. Zuschauer zwischen Alpen und Nordsee sind per TV zu Gast auf dem „Forellenhof“ oder halten bei „Salto Mortale“ den Atem an. Nun aber kommt Alfred Tetzlaff – eine Figur, zusammengesetzt aus den Defiziten vieler Menschen: borniert, juden-, fremden- und frauenfeindlich, intolerant, selbstgerecht und unbelastet von Manieren jeder Art.
„Das Sophokles-Schwert überm Kopf“
Er kuscht nach oben, tritt nach unten, ist feige und verlogen, derb und ordinär, sagt „Scheiße“ und macht das Wohnzimmer zum Stammtisch. Die Frau gehört an den Herd, ein Tritt in den Hintern zur Kindererziehung. Und wenn es ihm reicht, dann stellt er klar: „Wir sind hier in einem zivilisierten Haus und nicht im Puff von Orandaburundi.“
Das immerhin weiß Gattin Else. Vieles andere weiß sie nicht. Sie hält den „französischen Bundeskanzler“ Pompidou für den Mann von Madame de Pompadour, verwechselt Kurt Georg Kiesinger mit Henry Kissinger und die Watergate-Affäre mit der Schlacht bei Waterloo. Außerdem hat sie Schwierigkeiten mit Redewendungen und deshalb „immer das Sophoklesschwert überm Kopf“. Was aber für ihren Mann nicht ganz zu schlimm ist, denn: „Namen sind Schall und Qualm.“
Jeder wird beleidigt
Der Haustyrann in Hosenträgern wettert gegen alles und jeden. Und weil immer nur Stunden vor der Ausstrahlung aufgezeichnet wird, sind viele Lästereien tagesaktuell. Lieblingsopfer sind die Sozis, allen voran der „Mann mit dem Künstlernamen Willy Brandt“, den Alfred „Kellerkind aus Lübeck“ nennt. Aber auch viele andere bekommen ihr Fett weg. Kein Name ist zu groß, keine Minderheit zu klein, als dass Alfred sie nicht beleidigen könnte. Provokation als Programm. So etwas hatte es im Deutschen Fernsehen noch nicht gegeben.
Wollen die Zuschauer so etwas sehen und hören? Sie wollen, wie sich schnell herausstellt.
Ein erstes Indiz ist, dass die Zuschauerschaft des zeitgleich laufenden Magazins „Panorama“ bald um ein Viertel geschmolzen ist, während „Ein Herz und eine Seele“ im Dritten Programm ungefähr das Zwanzigfache der dort üblichen Sehbeteiligung erreicht. Nach der sechsten Folge bittet der WDR sein Publikum um eine Beurteilung des neuen Formats. Knapp 1700 Schreiber, darunter ganze Schulklassen, Belegschaften und auch eine „Interessengemeinschaft Alfred“ zeigen sich begeistert: „Alfred ist sogar mehr Gebühren wert.“ Nur wenige Zuschauer sind entsetzt über die „Schweinereien“ des giftigen Gernegroß.
Peter Zadek bittet Serienteam ins Theater
Peter Zadek, Hausherr im Bochumer Schauspielhaus, erkennt das enorme Potenzial und holt das Serienteam zu Nachmittagsvorstellungen auf seine Bühne. Beim WDR wächst unterdessen die Menge der Briefe, in denen Fans Sender und Autor um Manuskripte bitten, um den Familienklatsch auf Betriebsfeiern und Klassenabenden nachzuspielen.
Am Silvesterabend des Jahres 1973 wechselt die Serie in das Erste Programm. Produziert wird weiterhin vor Studiopublikum auf einer mehr als schlichten Kulissenbühne. Mit wenigen Handlungsplätzen, meist fokussiert auf Küche, Wohnzimmer oder die anrufbare Telefonzelle vor dem Haus. Immerhin, auf dem geänderten Sendeplatz wird die Reihe farbig – und noch erfolgreicher. Schon zur Folge zwei in der neuen Umgebung schalten 60 Prozent aller Zuschauer ein.
Ein neues rechtes Spießertum?
Kein Spruch aus der Mottenkiste des deutschen Machos, den Menge nicht herausholt, kein Klischee, auf das er verzichtete, um es bis ins Absurde zu überhöhen. Damit bloß jeder merkt, dass alles nur Spaß ist. Deutschland lacht auch, doch manchem bleibt das Lachen bald im Halse stecken. „Tetzlaff, als abschreckendes Beispiel entworfen, wird zu einer Figur, mit der sich viele – zumindest streckenweise – identifizieren“, warnt etwa der Schriftsteller und Schauspieler Franz Xaver Kroetz.
Psychologen, Soziologen und Politologen fragen sich: Begreift jeder Zuschauer die Ironie, erkennt er die Satire? Oder machen sich viele Alfreds Proleten-Weltbild zu eigen? Ja, wird dieser Tetzlaff womöglich sogar zum Sprachrohr eines neuen rechten Spießertums?
Ganz unbegründet ist die Sorge auf den ersten Blick nicht. „Endlich mal einer, der sagt, wie es ist“, sagen manche Zuschauer laut im Wohnzimmer und etwas leiser im Büro. Bei einigen wenigen Verwirrten verschwimmen anscheinend sogar die Grenzen zwischen Figur und Darsteller. Sie grüßen Heinz Schubert, der weit weg von jedem rechten Gedankengut ist, auf der Straße mit Hitlergruß, obwohl der Schauspieler bei jeder Gelegenheit beteuert. „Ich bin nicht Alfred, ich spiele ihn nur.“
Was wurde aus Frau Suhrbier?
Um die Bedenkenträger ruhig zu stellen, lässt der WDR eine Studie über die Auswirkungen auf das Publikum erstellen. „Eine Identifikation mit Alfred hat nie stattgefunden“, kommt dabei heraus. Zumindest nicht beim überwiegenden Teil der Zuschauer. Menge überrascht das nicht. Ein Mann, der hilflos vor seinem kaputten Fernseher sitzt, es nicht einmal schafft, seinen Ofen zum Brennen zu bringen, die Füße in der Salatschüssel wäscht und seine Fußnägel am Küchentisch schneidet? „Mit dieser Figur wird sich kein Nazi identifizieren“, ist der Drehbuchautor überzeugt.
So geht es weiter mit der Familie Tetzlaff. Als man ihn aber irgendwann dann doch bittet, seine Texte politisch zu entschärfen, schmeißt der knorrige Erfolgsautor nach 25 Folgen hin. Im November 1976 krakeelt Alfred zum letzten Mal über den Bildschirm. Was bleibt sind unzählige Wiederholungen und ein ungeklärtes Schicksal.
Oder weiß irgendjemand, was aus der oft erwähnten, aber nie gezeigten Frau Suhrbier geworden ist?
Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung.
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