Viele Frage, viele Antworten und noch mehr Lacher. Vor 50 Jahren startete die Sesamstraße im deutschen Fernsehen.
„Der, die, das.“ Na, schon erkannt? „Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum?“ Ganz schön viele Fragen. Aber wir wissen ja: „Wer nicht fragt, bleibt dumm.“ Und? Richtig. Es ist die Anfangsmelodie der Sesamstraße. An diesem Sonntag vor 50 Jahren ist sie erstmals synchronisiert im deutschen Fernsehen zu sehen.
In den USA sind die Bewohner schon gut vier Jahre zuvor in die Straße gezogen, in der es aus Gullys qualmt und die Mülltonnen scheppern. Ein Szenario, das die Verantwortlichen in den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten Deutschlands zunächst ebenso zögern lässt wie die merkwürdigen Puppen, die dort gemeinsam mit Kindern und Erwachsenen aus aller Welt leben. Noch dazu mit dunkelhäutigen Erwachsenen, die große Afros tragen. „Nicht akzeptabel“ sei das, heißt es aus Bayern, wo man die Sendung deshalb nicht zeigt.
Grundsätzliche Bedenken aber gibt es bei Pädagogen im ganzen Land. Einige fürchten sogar, junge Zuschauer könnten nach Ansicht der Show aus ihren Kinderzimmern aus- und in den Ascheimer vor dem Haus einziehen – so wie es der notorisch schlecht gelaunte Oskar, einer der Lieblinge der Sesamstraße, im TV vorlebt.
Durchbruch ist nicht aufzuhalten
Langfristig kann das alles den Durchbruch des Programms nicht aufhalten. Nur wenige Monate nach ihrem Start ist die Sesamstraße die meistgesehene Kindersendung in Deutschland. Auch weil neben den Drei- bis Sechsjährigen immer öfter auch Eltern oder ältere Geschwister mit auf dem Sofa sitzen, wenn sie läuft. Die Sesamstraße ist zwar für Vorschulkinder gedacht, aber nicht nur für Vorschulkinder gemacht.
Neu ist die Art, wie hier das Wissen vermittelt wird. Lese- und Schreibübungen folgen auf Zeichentrick-Sequenzen und Einspielfilme. Alles ist schnell geschnitten, ist wie Werbespots ohne Werbung. Und nie so lang, dass die Aufmerksamkeit vor dem Bildschirm schwindet. Und dann sind da noch die Puppen. Sie sind die eigentlichen Stars jeder Ausgabe. Keine hin und her zappelnden Kasperl, keine hölzern hüpfenden Marionetten, sondern „Muppets“ – große, von Jim Henson erdachte Figuren, die meist nicht nur mit den Händen gespielt werden, sondern in die man förmlich hineinkriechen muss und die im realen Raum zusammen mit echten Menschen auftreten, als ob sie lebten.
Was sind das aber auch für Charaktere, die da über den Bildschirm fegen? Kermit, der Frosch, der redet, als bezahle man ihn pro Silbe. Der zu Ohnmachtsanfällen neigende Grobi oder das Krümelmonster, das jedes Gespräch nach kürzester Zeit mit der eindringlichen Forderung nach „Käksen“ abbricht und ohne Rücksicht auf Verluste verspeist, was ihm in die Finger kommt. Nicht zu vergessen der Vampir und Mathematik-Experte Graf Zahl – im Original „The Count“ gerufen, Sherlock Humbug, der beste Detektiv der Welt oder der „Der große Mumpitz“, ein vor sich hin dilettierender Zauberkünstler, dem kein Trick gelingt.
„Genaauu“
Und natürlich Schlehmil, ein windiger Händler in langem Mantel, der Zahlen, Buchstaben oder Luft verkauft. „He du“, beginnt er seine Gespräche. Und wenn sein Gegenüber fragt: „Wer? Ich?“, dann mahnt er „Pssst“, bevor er bestätigt „Genaauu“ und seine in der Innenseite des Trenchcoats verborgene Ware offeriert: „Möchtest du ein A kaufen?“
Die größten Puppenstars aber sind Ernie und Bert. Chaot, Nervensäge und nicht die hellste Kerze auf der Torte der eine; Ernst, altklug und penibel, der andere. „Ein seltsames Paar“ für Kinder, vereint durch ihre Frisuren, die aussehen, als würden beide beim Föhnen stets direkt in eine Steckdose fassen. Oft zerstritten, aber nie wirklich getrennt und seit vielen Jahren Helden der Homosexuellen in aller Welt – auch wenn die Produzenten der Show immer wieder beteuern, dass die beiden kein Paar sind. „Sie sind nicht homosexuell, sie sind nicht heterosexuell, sie sind Puppen. Sie existieren unterhalb der Taille nicht.“
Ein weiterer Baustein des Erfolges ist die Musik. Es wird viel gesungen in dieser Sendung. Und es sind Lieder, die man so schnell nicht vergisst. „Hätt’ ich dich heut’ erwartet, hätt’ ich Kuchen da“, trällert Ernie oder besingt sein „Quietscheentchen“. Der größte Hit aber und immer noch unglaublich witzig ist die Muppets-Version des Piero Umilianis Hit „Mah Nà Mah Nà ( ba debe dee)“, der eigentlich – was natürlich damals kaum jemand weiß - aus einem italienischen Softporno stammt.
Vielfältig und bunt
Puppen und andere Bewohner der Sesamstraße zeigen den Kindern, wie man rechnet oder buchstabiert. Die jungen Zuschauer erfahren, wie sie richtig über die Straße gehen oder den Unterschied zwischen klein und groß. Aber sie lernen auch, wie sie sich behaupten können in der Welt. Lernen, dass Erwachsene nicht immer Recht haben oder dass sie sich melden müssen, wenn sie beim Brötchenholen an der Ladentheke übersehen werden. Und sie lernen tolerantes Verhalten. Denn die Erwachsenen, die hier auftreten, sind ebenso vielfältig und bunt wie die Puppen: Afroamerikaner, Hispanics, Asiaten und Amerikaner mit weißer Hautfarbe. Die Sesamstraße ist multikulti, lange bevor es das Wort gibt.
Eigene Einspielfilmchen hat die ARD von Anfang an gedreht. Nach fünf Jahren schafft sie auch eine eigene Umgebung – sauberer aber auch spießiger und damit langweiliger als im Original. Und sie schickt eigene menschliche Schauspieler in die Sesamstraße. Lilo Pulver, Henning Venske, Manfred Krug, Uwe Friedrichsen oder Horst Janson. Später sind auch Anke Engelke, Dirk Bach oder Annette Frier zu sehen. Irgendwann gibt es dann auch deutsche Puppen. Samson heißen Sie, Tiffy oder Herr von Bödefeld, haben bei Fans der ersten Stunde aber einen schweren Stand.
Von heiler Welt weit entfernt
Das macht aber nichts, denn die Zuschauerschaft der Show erneuert sich altersbedingt alle zwei bis drei Jahre. So fällt es nicht auf, dass auch viele Puppen und Menschen die Sesamstraße im Laufe der Jahre verlassen. Die Sendung selbst ist nach und nach ein wenig braver geworden und längst nicht mehr so anarchisch wie in den Anfangstagen. Von heiler Welt aber ist sie immer noch weit entfernt. Dafür ist sie nah dran am echten Leben. In Deutschland geht es mittlerweile weniger um Zahlen und Buchstaben als um Themen wie Corona, Klimawandel oder Flüchtlingskrise. In der israelischen Version werben Puppen für die Verständigung zwischen Arabern und Juden, und in den USA gibt es längst nicht nur dunkelhäutige Puppen, sondern auch eine autistische.
So hat sich die Sendung auch in Deutschland behauptet gegen all die TV- und Streamingkanäle, die rund um die Uhr Kinderprogramm senden. Im linearen Programm des Kinderkanals liegt erreicht sie bei Vorschulkindern immer noch über 20 Prozent aller Zuschauer, wenn sie läuft. Sie hat auch immer wieder besondere Ehrungen erfahren. In New York heißt ein Abschnitt der West 63rd Street mittlerweile ganz offiziell Sesame Street und erst vor drei Jahren hat die deutsche Post Sonderbriefmarken mit den Gesichtern der bekanntesten Puppen herausgegeben. Nur das Krümelmonster, so ist zu hören, ist nicht mehr ganz glücklich in seiner Straße. Um den Kindern in aller Welt gesünderes Essen nahe zu bringen, hat man nämlich seinen Speiseplan geändert.
Statt Kekse gibt es jetzt Blumenkohl.
Sesamstraße im TV
Die Sesamstraße gibt es täglich zu leicht wechselnden Sendezeiten frühmorgens und am frühen Abend auf dem Kinderkanal und/oder im NDR.
Unvergessliche Momente aus 50 Jahrensind an diesem Sonntag von 7.30 Uhr an im Ersten zu sehen. Sie können auch in der ARD-Mediathek abgerufen werden.
Und KiKA feiert ebenfalls an diesem Sonntag ab 17.35 Uhr „50 Jahre Sesamstraße:Die Geburtstagssendung“.
Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung.
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