Essen. Kein Anschluss mehr von dieser Nummer. Die letzten Telefonzellen in Deutschland werden abgeschaltet. Warum sie früher so wichtig waren.
Offiziell war es das „TelH 78“: Höhe: 2,30 Meter, Grundfläche ein Quadratmeter, aus glasfaserverstärktem Polyester, mit 6 Einscheiben-Sicherheitsglasscheiben und rechts angeschlagener Tür – alles im Farbton: RAL 1005 – also „honiggelb“, erhellt von zwei 20 W-Leuchtstofflampen und ausgestattet wahlweise mit einem MünzFW 57 oder MünzFW 63. Die meisten Deutschen konnten das alles in einem Wort zusammenfassen: Telefonzelle. Ab dem 21. November werden die letzten abgeschaltet, den Anfang machen die Geräte mit Münzeinwurf.
Um ehrlich zu sein, gelbe Zellen mit Telefon darin gibt es schon lange nicht mehr. Bereits Mitte der 1990er Jahre wird sie – wenn überhaupt – nur noch in der Farbgebung Weiß, Grau und Magenta aufgestellt. Die letzte Gelbe in Deutschland steht auf der Insel St. Bartholomä im bayerischen Königsee – bis sie 2019 dort abgebaut wird.
Zwei Groschen für Klatsch und Tratsch
Die allererste Telefonzelle, Fernsprechkiosk genannt, ist angeblich 1881 in Berlin aufgestellt worden 1899 kommt der Münzfernsprecher auf, damals von Kulturhistorikerin als „radikaldemokratisches Medium“ bejubelt, weil nun endlich auch Menschen telefonieren können, die sich keinen eigenen Festnetzanschluss leisten können. Theoretisch jedenfalls. Praktisch kennen die meisten damals keinen, der schon ein Telefon hat.
Auch 15 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges besitzen erst vier von 100 Deutschen einen Anschluss. Selbst zehn Jahre später ist es immer noch nur jeder Dritte. Der Gang ins Telefonhäuschen gehört für viele zum Alltag. Wer anrufen muss, beim Arzt, in der Firma oder der Familie, der muss raus aus dem Haus und rein in die Zelle. Zwei Zehn-Pfennig-Stücke, Groschen genannt, wirft er in den Schlitz, kramt nach dem Zettel mit der zuvor notierten Telefonnummer und dreht dann die Wählscheibe. Wahlwiederholung gibt natürlich nicht. So kann es bei Ferngesprächen lange dauern, bis die Verbindung steht.
„Fass dich kurz“ steht auf großen Aufklebern in jeder Zelle. Aber viele Nutzer verstehen das nur als Vorschlag. Schließlich gibt es lange Zeit zumindest für Ortsgespräche keine Zeitbeschränkung für Klatsch und Tratsch. Sollen sie doch klopfen an der Scheibe und „Unverschämtheit“ rufen oder „andere wollen auch mal telefonieren“ – den erfahrenen Zellenbesucher lässt so etwas kalt. Es sei denn, der „andere“ ist 1,95 Meter groß und offensichtlich langjähriges Mitglied des örtlichen Fitness-Clubs.
Zu besten Zeiten gibt es mehr als 160.000 Telefonzellen
Das ändert sich bis in die frühen 1990er nicht. Zwar hat da fast jeder Haushalt in Deutschland längst einen eigenen Anschluss, unterwegs aber bleibt das gelbe Häuschen nicht nur die erste, sondern die einzige Wahl. Man weiß, wo eins steht in seiner Stadt und stets hat man mindestens zwei, später drei, Groschen dabei. Zu besten Zeiten gibt es mehr als 160.000 Telefonzellen in Deutschland. „Ruf an, wenn du gut angekommen bist“, sagen die Eltern. „Wo bleibst du“, fragen Teenager, wenn Freund oder Freundin nicht pünktlich am vereinbarten Treffpunkt erschienen sind. Und Außendienstler geben aus der Zelle ihre gerade geschriebenen Aufträge in die Zentrale durch, bevor sie zum nächsten Kunden eilen.
So öffentlich die Zelle auf den ersten Blick ist, so persönlich sind viele Gesprächen die in ihr geführt werden. Weil hier weder der doofe Bruder, noch der neugierige Ehepartner mithören kann, wenn man dem Freund, der gerade auf Klassenfahrt ist, ewige Liebe schwört oder der geheimen Affäre ein Treffen am Wochenende verspricht.
Dabei ist so eine Zelle meistens gar kein schöner Ort. Heiß und stickig im Sommer, feuchtkalt und mit beschlagenen Scheiben im Winter. Es müffelt auch gerne mal darin. Nach Pommes und Bier, nach Schweiß und viel schlimmeren Dingen. Und immer öfter ist irgendetwas kaputt.
Alles auf eine Karte gesetzt
Denn die Telefonhäuschen locken Diebe und Vandalen. Was sie anrichten hat die Post 1982 einmal zusammengefasst. Demnach wurden in diesem Jahr 49.000 Schäden an Halterungen und Wählscheiben verzeichnet und rund 18.000 Glasschäden. Knapp 8000 Hörer wurden gestohlen, 1270 Münzbehälter entwendet und 276 Zellen gleich komplett zerstört.
Die steigende Zahl von Diebstählen ist einer der Gründe, warum die Deutsche Bundespost Ende der 1980er Jahre flächendeckend Kartentelefone einführt. Das lässt nicht nur die Zahl der Aufbrüche zurückgehen. Da die Karten auch für Werbezwecke genutzt werden, steigt die Zahl der Motive darauf in die Zehntausende. Und mit ihr auch die Zahl der Sammler, die sich die Karten kaufen ohne sie je abzutelefonieren.
Erfindung des Handy macht die Zelle überflüssig
Das Ende der Telefonzelle kommt erst schleichend, dann immer schneller. Der Feind heißt Handy. Je mehr Menschen auch in Deutschland seit Mitte der 90er Jahre ihre Telefonzelle in der Hosentasche mit sich führen, desto weniger werden die Häuschen benötigt. Mit der Einführung des Euro erleben sie zwar noch einmal eine Renaissance, weil Touristen nun von ihnen aus telefonieren können, ohne Geld umzutauschen und Handy-Telefonate in die Heimat damals noch sehr teuer sind. Doch auch das ist schnell wieder vorbei.
Anfang 2022 stehen noch etwa 14.200 (Magenta)-Telefonzellen in Deutschland. Wahrscheinlich wären sie schon längst verschwunden, hätte die Telekom nicht bis vor einem Jahr den gesetzlich verankerten „Versorgungsauftrag zur Versorgung der Bevölkerung mit Telefonzellen“ erfüllen müssen. Nun geht es nur noch um Wirtschaftlichkeit und wenn so eine Zelle dauerhaft weniger als 50 Euro Umsatz pro Monat macht, ist sie nicht mehr rentabel. Die meisten, heißt es bei der Telekom, machen gar keinen Umsatz mehr. Deshalb werden sie nun abgeschaltet und bis 2025 nach und nach abgebaut.
Ganz verschwinden werden die Zellen nicht – zumindest nicht die gelben. Denn sie sind begehrt, werden der Telekom nach jedem Abbau aus den Händen gerissen. Nun stehen sie als Bücherschränke auf Schulhöfen und in Fußgängerzonen oder von Tüftlern zur Dusche, Mini-Kaffeebar oder –disco umgebaut in Gärten und Partykellern.
Wo soll sich Superman jetzt umziehen?
Allen, die sich keine gekauft haben, bleiben Erinnerungen. Und die Erkenntnis, dass die Welt ohne Telefonzellen eine andere gewesen wäre und sein wird. Im echten Leben, vor allem aber in Film und Fernsehen. Wie hätte Agent Maxwell Smart alias „Mini Max“ in sein Büro kommen sollen, wenn nicht durch einen als Telefonzelle getarnten Aufzug? Wie Besucher ins Zauberministerium des Harry-Potter Universums?
Wohin hätte sich Tippi Hedren in Hitchcocks „Die Vögel“ vor dem Kamikaze-Schwarm wilder Möwen retten können, wenn nicht in eine Telefonzelle? Und womit bitteschön will Dr. Who künftig durch Zeit und Raum reisen? Vor allem aber: Wo soll sich Superman künftig unerkannt umziehen, wenn mal wieder der Planet gerettet werden muss?
Dieser Artikel ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei. Hier können Sie sich freischalten lassen. Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.