Siezen Sie noch oder duzt du schon? Ob im Büro oder im Geschäft - über die korrekte Anrede gehen die Meinungen auseinander.

Die haben es gut, die Briten. Klar, sie haben Linksverkehr und essen merkwürdige Sachen. Aber sie müssen sich nicht entscheiden, ob sie jemanden duzen oder siezen. Sie haben ja nur das Anrede-Pronomen „you“. Was angeblich dazu geführt haben soll, dass selbst der eigentlich zur „Fraktion Siezen“ gehörende, ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl dem US-Präsidenten Ronald Reagan einst gönnerhaft anbot: „You can say you to me.“

Helmut Kohl und Ronald Reagan: „You can say you to me.“
Helmut Kohl und Ronald Reagan: „You can say you to me.“ © imago stock&people | imago stock

Siezt du noch oder duzt du schon? Eine Frage, die viele Deutsche schon seit Jahrzehnten beschäftigt. Mit Ausnahme von Dieter Bohlen, zusammen mit Waldemar Hartmann und Horst Lichter die wohl größte Duz-Maschine des Landes. Der selbst ernannte Pop-Titan duzt sogar Ordnungskräfte, die ihm ein „Knöllchen“ wegen Falschparkens verpasst haben. Kostet normalerweise bis 500 Euro wegen Beamtenbeleidigung, in seinem Fall allerdings nichts. Das Duzen, befand ausgerechnet ein Hamburger Gericht, gehöre „zu seinen normalen Umgangsformen“. Es sei deshalb auch einem Beamten gegenüber nur als „Unhöflichkeit ohne ehrverletzenden Inhalt“ zu werten.

Von „Hömma“ und „Samma“

Im Ruhrgebiet wäre es wahrscheinlich nicht mal unhöflich. Wer „Hömma“ und „Samma“ sagt, der hat es nicht so mit dem „Sie“. Kommt durch den Bergbau, heißt es. Denn unter Tage duzt man sich. Ausschließlich und immer. „Wegen des Zusammenhaltes“, sagen alte Kumpel. Vor allem aber wohl, weil es schneller geht „Pass auf Jupp“, zu rufen als „Geben Sie acht, Herr Koslowski“. War ja gefährlich im Pütt. Jedenfalls weit gefährlicher als in den Ortsvereinen der SPD. Davon unbeeindruckt hängen die Mitglieder noch immer dem fast schon folkloristischen Zwang an, die anderen mit „Genosse“ und „Du“ anzusprechen.

Je nach Region gab und gibt es Mischformen der Anrede. Das „Sie“ als übliche Anrede unter Erwachsenen hat sich beispielsweise auf dem Lande in Bayern und in Tirol nie ganz durchgesetzt. Mehr als Familienname bei gleichzeitigem Duzen ist nicht zu erwarten: „Flötzinger, hol mal frisches Bier“. Dem so genannten „Münchner Du“ sehr ähnlich, aber bundesweit üblich ist das unter Verkäuferinnen im Einzelhandel verbreitete „Frau Schneider, kannst du noch ‘ne Kasse öffnen?“ Im Norden der Republik verwendet man das etwas steife „Hamburger Sie“. „Monika, haben Sie die Abschriften schon fertig.“

Ansonsten hat der Knigge, das Buch für gutes Benehmen, lange Zeit die Richtung vorgegeben. Darin steht: „Jede volljährige Person hat nach allgemeiner Auffassung ein Recht darauf, mit „Sie“ angesprochen zu werden. Dies ist die Regel, das „Du“ demnach die Ausnahme.” Wussten früher alle – außer Berliner Taxifahrern vielleicht.

Wieder mal die Hippies

Bis in den 1960er haben sich die meisten Deutschen an diese Regel gehalten. Dann fängt das flächendeckende Geduze an. Bei den Leuten, die damals „Hippies“ heißen, aber eigentlich Studenten sind. Meistens linke Studenten. Und da hat man bitteschön „hierarchiekritisch“ zu sein. Und sagt deshalb schon aus Prinzip niemals „Sie“. 2022 machen junge Menschen das auch, haben mit Systemkritik dabei aber nur selten was am Hut. „Duzen hat schon lange nichts mehr mit mangelndem Respekt zu“, findet die junge Kellnerin eines Biergartens. „Und die meisten älteren Menschen lächeln, wenn ich sie duze.“

Die meisten – aber nicht alle. In einer Umfrage, die RTL 2020 in Auftrag gab, erklären 56 Prozent der Befragten, Duzen sei für sie „vollkommen okay“. 28 Prozent wünschen sich sogar die völlige Abschaffung des „Sie“. Andererseits waren immer noch 40 Prozent – meistens Ältere – nicht sonderlich erfreut, wenn sie ungefragt geduzt werden.

Auch Radiohörer werden geduzt

Duzt jeden: Dieter Bohlen
Duzt jeden: Dieter Bohlen © dpa | Daniel Bockwoldt

Knigge hin, Umfragen her - für das „Sie“ wird es seit einiger Zeit immer enger. Bei den Privatsendern im Radio ist das „Sie“ schon lange unbekannt, jetzt aber geht selbst WDR 2 verstärkt dazu über, seine Hörerinnen und Hörer zu duzen. „In Moderationen außerhalb von Talks werden die Hörer und Hörerinnen mit „Ihr“ und „Euch“ angesprochen, bestätigt eine Sprecherin auf Anfrage, „wenn es passt“.

Für viele sei WDR 2 eine Art Familienmitglied“ und die Moderatorinnen und Moderatoren „so etwas wie langjährige Bekannte“. Bei den Interviewpartnern bleibt es allerdings beim klassischen „Sie“. Also, „Guten Tag, Herr Lauterbach“ und nicht „Hallo Karl“. Hörer, die nicht geduzt werden wollen, müssen auf eine andere Frequenz umschalten. „Auf WDR 3, WDR 4 und WDR 5 wird nicht geduzt.“

Ikea war ein Vorreiter

In der Werbung gibt es diese Alternative nicht. Der schwedische Möbelkonzern Ikea ist hierzulande vor knapp 20 Jahren der Pionier. „Wann hast du das letzte Mal deine Matratze gewechselt?“ will er unter anderem wissen. Und wer eine Stelle antritt in der Welt der Zusammenschraub-Möbel, egal ob als Imbusschlüsselverwalter oder als Deutschlandchef, der unterschreibt ein Klausel, das man sich ab sofort duzt. „Schweden-Prinzip“ heißt das inoffiziell. Offiziell will man „ein Stück Schweden in die Welt tragen“.

US-Technologiefirmen wie Apple oder Google duzen ihre Kunden ebenfalls schon länger ganz selbstverständlich. Selbst deutsche Unternehmen wie die Discounterkette Aldi, der Outdoor-Ausrüster Globetrotter, die Sportmarke Adidas oder der Online-Händler Otto setzen mittlerweile auf die lockere Form der Anrede.

„Teste doch mal unseren neuen Rollator“

Wer bei einem Werbeblock im TV mal genauer hinhört, der stellt fest, dass er im Schnitt in drei Viertel aller Spots geduzt wird. „In der Radiowerbung ist das auch üblich sagt Julia Naskrent, Professorin für Marketing an der Hochschule für Oekonomie und Management in Siegen. Und es ist wohlüberlegt aus Sicht der Werbetreibenden, die damit einen persönlichen und zumeist positiven Bezug zum Kunden entwickeln wollen. „ Es wird meist geduzt, wenn das Produkt für eine jüngere Zielgruppe gedacht ist.“

Slogans wie „Teste doch mal unseren neuen Rollator“, funktionieren deshalb eher selten. „Das Gesamtkonzept muss immer stimmen“, sagt Naskrent. Dabei kann die Anrede „Du“ oder „Sie“ tatsächlich entscheidend sein. „Junge Leute hören oft gar nicht mehr hin, wenn sie in einer Werbung gesiezt werden.“ Natürlich werde es auch weiterhin Ausnahmen geben, glaubt Professorin Naskrent. „Aber grundsätzlich lässt sich der Trend zum Du nicht mehr umkehren.“

Und das gilt nicht nur für die Werbung. In jedem dritten deutschen Unternehmen wird bereits quer durch alle Hierarchien geduzt, ergab schon 2017 eine Studie der Unternehmensberatung Kienbaum und des Karriereportals Stepstone. Selbst Klaus Gehrig, Chef der Schwarz-Gruppe, zu der unter anderem Lidl gehört, erklärte per Mail, dass sich im Konzern künftig alle Mitarbeiter beim Vornamen anreden dürften: „Gruß, Klaus.“

Das Auswahlmodel ist populär

IHerbert Wehner: „Das können Sie halten, wie du willst.“
IHerbert Wehner: „Das können Sie halten, wie du willst.“ © picture-alliance/ dpa | Egon Steiner

Wirtschaftspsychologen der Hochschule Osnabrück haben in einer Befragung allerdings herausgefunden, dass das Anredemodell am populärsten ist, bei dem alle Beschäftigten die Wahl haben, wen sie siezen oder duzen. Eine Erkenntnis, die die 1990 verstorbene SPD-Minister-Legende Herbert Wehner, schon vor langer Zeit besaß. Wie man ihn ansprechen solle, wurde er einst von einem jungen Neugenossen gefragt. „Das können Sie“, antwortete Wehner, „halten wie du willst!“

Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei. Hier können Sie sich freischalten lassen. Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.