Herdecke/Lünen. Viele Familien in NRW wollen nicht mehr in der Stadt, sondern auf dem Land leben. Familie Kriener hat den Schritt gewagt. Über ihr neues Leben.
Nur eine einzige Straße schlängelt sich durch das hügelige Tal. Ein leichter Wind sorgt an diesem heißen Sommertag für etwas Abkühlung, im Schatten döst ein großer Hund. Ben (9) und Ida (7) versuchen, die Hühner zu fangen, während ihre kleine Schwester Ruby (2) auf der Schaukel durch die Luft fliegt. Wer auf der Terrasse von Familie Kriener sitzt, könnte meinen, es habe ihn in den Urlaub nach Bayern verschlagen.
„Wir sind hier von der ersten Minute an glücklich gewesen“, erzählt Julia Kriener (35). Im März 2020, nur eine Woche vor Beginn des ersten Corona-Lockdowns, ist sie mit ihrer Familie aus einer Kleinstadt bei Tübingen nach Herdecke gezogen. Ihr Mann Thorben ist hier aufgewachsen. Seine Eltern leben im Obergeschoss des Hauses, für das Julia und Thorben Kriener ihr Zuhause in der Stadt aufgegeben haben.
Studie belegt: Landleben wird immer attraktiver
Weg aus der Stadt, raus aufs Land: Mit ihrer Entscheidung sind die beiden längst nicht allein. „Heute entscheiden sich mehr Menschen für ein Leben auf dem Land als vor zehn Jahren“, heißt es in einer aktuellen Studie des „Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung“.
Gut zwei Jahrzehnte lang habe es die Menschen vorwiegend in die Großstädte getrieben, die ländlichen Regionen verloren Einwohner. Doch bereits bevor die Pandemie das Leben vieler auf den Kopf stellte, gewannen Dörfer, Kleinstädte und ländliche Randlagen wieder an Attraktivität. Gründe dafür gibt es laut Studie viele: Die Städte werden immer voller und teuer, die Arbeitswelt immer digitaler, die Sehnsucht nach Freiraum und Natur immer größer.
Raus aus der Kleinstadt, rein ins Grüne in NRW
„Meine Großeltern waren verstorben und der Platz war da. Julia und ich waren von unseren Eltern beide weit weg und wollten gerne Familienanschluss“, sagt Thorben Kriener. Kennengelernt hatte er seine Frau in Heidelberg. Die beiden lebten gemeinsam in Stuttgart, bevor sie in eine Kleinstadt bei Tübingen zogen.
„Das war es zwar auch ländlich, aber ich hatte immer die Sehnsucht, richtig auf dem Land zu leben“, sagt Julia Kriener im Rückblick. „Wir hatten da keinen richtigen Garten, der war vielleicht so groß wie das hier“, ergänzt Tochter Ida und zeigt auf die Terrasse. Die Siebenjährige liebt das Leben außerhalb der Stadt – vor allem wegen ihrer Tiere und der Rehe, Dachse, Füchse und Raubvögel, die sie hier beobachten kann.
Leben auf dem Land in NRW: „Die Kinder können hier einfach ungezwungen sein“
„Für uns war das genau das Richtige zur richtigen Zeit“, sagt ihre Mutter. Die Möglichkeit, aufs Land zu ziehen, habe außerdem ihre Familienplanung beeinflusst: „Ich glaube nicht, dass wir ein drittes Kind hätten, wenn wir das hier nicht in Aussicht gehabt hätten. Die Kinder können hier einfach ungezwungen sein.“
Die Corona-Pandemie hat laut Julia Kriener zwar keine direkte Rolle bei den Umzugsplänen der Familie gespielt, „aber wir haben während der Pandemie oft gedacht, wie gut es ist, dass wir das gemacht haben. Wir haben die Freiheit und den Platz, den wir hier haben, sehr genossen.“
Corona-Pandemie treibt Stadtflucht an
Dass der Ausbruch der Pandemie die Sehnsucht nach einem Leben auf dem Land zwar nicht allein verursacht, ihr aber einen „kräftigen Schub verpasst“ hat, stellt auch die Studie des Berlin-Instituts sowie eine Umfrage des ifo-Instituts aus dem Jahr 2021 fest.
Befragt wurden Personen, die in absehbarer Zeit die Großstadt verlassen wollten. Fast die Hälfte der Befragten gab an, dass die Pandemie ihre Umzugspläne beeinflusst habe. So war es auch bei Niklas Demme. „Ich dachte, jetzt zieh’ ich’s durch“, sagt der 28-Jährige rückblickend.
Junger Duisburger zieht aufs Land: „Schmacht nach Natur“
Er lebte und arbeitete als selbstständiger ITler in Duisburg – bevor die Pandemie ihn im September 2021 dazu trieb, raus aus dem Ballungsraum und rein ins Grüne zu ziehen, nach Lünen. „Das Grau der Wohnblocks und den ganzen Tag die Lkws, das hat mich nicht glücklich gemacht“, sagt Demme. Ihm sei es wichtig gewesen, einen „Ausgleich zur Arbeit“ und „Entschleunigung“ zu finden. „Schmacht nach Natur“, nennt er das Gefühl, das ihn antrieb.
„In der Stadt gilt die Grundeinstellung, dass alles schnell gehen muss. Das war nichts mehr für mich.“ Nach einer Alternative im Grünen, „aber nicht zu sehr ab vom Schuss“, habe er gesucht. In der Kleinstadt wurde er fündig.
Von Duisburg aufs Land: Gemeinschaft statt Einsamkeit
Nun wohnt er gemeinsam mit einem Hund aus dem Dortmunder Tierheim in einer großen Wohnung – in einem ehemaligen Schloss, Wald und Wasser in unmittelbarer Nähe. Den großen Garten teilt er sich mit neun weiteren Mietparteien.
Viele seiner Nachbarinnen und Nachbarn sind längst zu Freunden geworden. „Hier habe ich sogar Freundschaft gefunden. Das gibt es in der Großstadt nicht. Und ich wusste gar nicht, dass ich das vermisst habe.“
Obwohl er nicht mehr inmitten Hunderttausender Menschen lebt, fühle er sich in der Kleinstadt insgesamt weniger einsam, sagt Demme: „In der Stadt hatte jeder nur sich selbst im Auge. Die Leute auf dem Land sind ganz anders drauf.“