Essen. Junge Menschen kennen sie kaum noch, Ältere aber verbinden unzählige Erinnerungen mit ihr. Und die Musik-Cassette lebt noch immer.
Eigentlich war die Musik-Cassette (MC) schon lange totgesagt. Doch sie lebt noch immer. Ob Ed Sheeran, Taylor Swift oder Adele – sie alle bieten ihre neue Alben auch auf Cassetten an. Gebrauchte Tapes erzielen beim Verkauf teilweise hohe zweistellige Summen. Und das MC-Revival könnte noch weiter an Fahrt aufnehmen. Denn im nächsten Jahr feiert das Plastikrechteck seinen 60. Geburtstag.
Erfunden worden ist die Compact-Cassette vom niederländischen Philips-Ingenieur Lou Ottens. Ende August 1963 stellt sein Arbeitgeber Philips auf der Internationalen Funkausstellung IFA das erste Gerät vor, das sie abspielen kann – den „Taschen-Recorder 3300“. Ein Kunststoffkasten, kaum größer als eine Zigarrenkiste aber mit revolutionären Fähigkeiten. Auf den kleinen Cassetten, in denen ein Band mit einer dünnen eisenhaltigen Oberfläche auf zwei kleine Spulen gewickelt ist, kann man 2 x 30 Minuten Musik oder Sprache aufnehmen und anschließend über einen Lautsprecher wiedergeben.
Die Deutschen lernen den Bandsalat kennen
Knapp 300 Mark kosten die ersten Modelle, für damalige Verhältnisse ein Vermögen. Es dauert dann auch, bis die neue Technik Einzug in den Alltag der Deutschen hält. Mitte der 1970er aber ist die Cassette zum echten Konkurrenten für Vinyl-Singles und Lps geworden – auch weil sie in den seit 1968 erhältlichen Auto-Cassettengeräten auch unterwegs für Unterhaltung sorgt.
Es ist allerdings auch die Zeit, in der die deutschen einen neuen Salat kennenlernen: Den Bandsalat. Denn so kompakt und robust die Kassette auch ist, manchmal verheddert sich das Magnetband in der Mechanik des Abspielgerätes. Profis greifen dann zum Bleistift, stecken ihn in ein Loch der Kassette und wickeln es mittels Drehen des Stiftes wieder auf, sofern es nicht gerissen ist
100 Millionen Leercassetten pro Jahr verkauft
40 Millionen bespielte Exemplare wandern allein 1976 über die Ladentheken. Dazu kommen zum Entsetzen der Musikindustrie rund 100 Millionen Leercassetten. Mit ihnen nimmt die deutsche Jugend auf, was sie sonst kaufen müsste. Die ausgeliehene LP vom Kumpel oder die Hitparade aus dem Radio.
Wobei letzteres regelmäßig zu Dramen in Familien führt. Weil Mütter und Väter die unangenehme Gewohnheit haben, immer dann ins Zimmer zu platzen, wenn Sohn oder Tochter nach stundenlangem Warten gerade mit Mittel- und Zeigefinger die Record- und Play-Taste des Recorders gedrückt haben, um ihren Lieblingshit aus dem Äther mitzuschneiden. Das erklärt, warum so viele in jener Zeit aufgenommenen Abba- oder Queen Songs auf der Cassette mit der Zeile beginnt: „Kommst du jetzt mal zum Abendessen.“
Der Walkman macht die Musik so mobil wie nie
Probleme, die es ein paar Jahre später dank der Entwicklung von Recordern mit eingebautem Radio oder neuartigen Überspielkabeln kaum noch gibt. Dafür gibt es nun, was man später Mix-Tapes nennen wird. Cassetten also, auf denen man seine Lieblingsmusik aneinanderreihen kann, wie man möchte. Oder mit denen man – „extra nur für dich aufgenommen“ – mit den Highlights der eigenen Plattensammlung das Herz der Freundin zum Schmelzen bringt.
Die frühen 1980er Jahre, sie werden dann zu den goldenen Jahren für die Kompakt-Cassette. Denn 1979 hat Sony seinen Walkman auf den Markt gebracht, der die Musik noch mobiler – dank der mitgelieferten Kopfhörer – und auch privater macht als je zuvor. Und in den Kinderzimmern zaubert Bibi Blocksberg, trötet Benjamin Blümchen und lösen die „Drei Fragezeichen“ ihre Fälle fast immer auf Cassette. Dann kommt die CD. Und die Cassette geht. Binnen weniger Jahre fällt ihr Marktanteil ins Bodenlose.
Stars veröffentlichen ihre neuen Alben auch auf Band
n den letzten Jahren aber ist sie ins Bewusstsein vieler Menschen zurückgekehrt – nicht zuletzt aufgrund ihrer Erwähnung in Filmen wie „Guardians of the Galaxy“ oder der in den 1980er-Jahren spielenden Serie „Stranger Things“. Seit einiger Zeit ist sogar von Comeback die Rede. Das mag ein wenig hochgegriffen sein aber die Cassette lebt.
Allein in England gingen im vergangenen Jahr knapp 190.000 MC über die Ladentheken. In Deutschland hat der Bundesverband Musikindustrie keine Zahlen parat. Sie seien so gering, dass sie nicht mehr erhoben würden, heißt es auf Anfrage. „Umsatztechnisch sind sie nicht mehr relevant für den Markt“, bestätigt ein Sprecher. Das heißt allerdings nicht, dass es kein Interesse mehr an ihnen gibt. Im Gegenteil: Ob Coldplay, Ed Sheeran, Billie Eilish, Adele oder AC/DC – die großen englischsprachigen Stars bringen ihre aktuellen Alben alle als Cassette auf den Markt, wenn auch manchmal nur im eigenen Online-Shop.
In Köln gibt es einen Tape Club
Und bei Ebay etwa wechseln MC – genau wie Abspielgeräte - immer öfter und teils für hohe zweistellige Summen den Besitzer. Selbst gebrauchte Leer-Cassetten sind dort gefragt. Kaum jemanden wundert das weniger als Frank Paustian, vom Kölner Tape-Club. Seit Jahren schon trifft er sich jeden Sonntag mit Gleichgesinnten in der Kölner Südstadt, um Musik vom Band zu hören. „Für uns war die Cassette nie weg.“ CDs und Streaming-Dienste sind nur hinzugekommen und werden von den meisten Club-Mitgliedern auch genutzt. „Aber Cassetten“, sagt der 53-jährige, sind etwas ganz anderes.“
Sie bespielen sie vor den Clubtreffen mit Liedern aus ihrer meist großen, oft auch ausgefallenen Schallplattensammlung. Mal frei Schnauze, mal nach einem vorgegebenen Motto. „Das Jahr 1969“ zum Beispiel. Oder „Songs, in denen es um Klopapier geht“. „Da gibt es mehr als man denkt“, hat Paustian festgestellt. Gemeinsam sitzen sie dann auf einer langen Bank und hören Musik vom Band.
Vorspulen ist verpönt: „Wir hören ganz bewusst“
Dabei wandelt sich eine der Schwächen der Cassette zu einer Stärke. Man kann ein Lied nicht nach ein paar Sekunden wegwischen, wenn es einem nicht gefällt. Klar, vorspulen geht, ist aber ungenau. „Das machen wir auch nicht“, sagt der Kölner. „Wir hören.“ Ganz bewusst und in voller Länge. Das haben auch etwas mit Entschleunigung zu tun. „Und dann reden wir über die Songs.“ Genau das, glaubt Paustian, mache für viele Menschen auch den Reiz der Musikcassette aus. „Man beschäftigt sich mehr mit der Musik.“
Mittlerweile veröffentlichen einige Club-Mitglieder dann auch eigene Songs – natürlich auf Tapes, die sie über Portale wie „Bandcamp“ unter die Leute bringen. Das ist weitaus günstiger als eine Vinyl-Lp pressen zu lassen und durch die oft kleine Auflage im besten Fall auch ein Sammelobjekt.
Immer mehr junge Leute entdecken die MC
Ganz verschwinden, ist Paustian überzeugt, werde die Cassette so schnell dann auch nicht. Nicht nur, glaubt auch die Sprecherin einer großen Elektromarktkette, weil sie für viele Menschen mit Erinnerungen verbunden ist. Sondern auch, weil diese Menschen in einer immer digitaler werdenden Welt etwas zum Anfassen haben und wieder eine echte, physische Sammlung ihrer Lieblingsmusik besitzen wollen. „Vor allem junge Leute entdecken auf alten Tapes für sie neue Musik“, weiß Paustian. Und das tun sie dort billiger, als auf Schallplatten. „Gutes Vinyl ist ja richtig teuer geworden.“
Nur Musik-Cassetten-Vater Ottens hat nach Einführung der CD bis zu seinem Tod im vergangenen Jahr nicht mehr zum Tape zurückgefunden. Die neue Technik sei viel besser, hat er bei jeder Gelegenheit erzählt. Ein Lob, das wenig wundert. Die CD hat Ottens nämlich auch erfunden.