Essen. Fischbestände gehen aufgrund starker Überfischung zurück. Die EU will Reformen. Was Umweltverbände kritisieren und welche Alternativen es gibt.

Wer es bislang noch nicht wusste, konnte es letzten Sommer im Dokumentarfilm „Seaspiracy“ auf Netflix sehen: Haie und Delfine, die als Beifang halbtot wieder im Meer landen, Korruption und Sklaverei, Fischerei in Meeresschutzgebieten oder Gütesiegel, die angeblich nichts taugen. Es ist noch immer einer der meistgesehenen Filme des Streamingportals – und das, obwohl er auf dramatische Weise die Fischindustrie anprangert und dazu aufruft, den Fischkonsum gänzlich einzustellen.

„Die Trends sind leider alle richtig. Die Dramaturgie des Films aber halte ich für überzogen“, sagt Thilo Maack, Meeresbiologe bei Greenpeace. „Er spricht die westliche, vegane Klientel an. Aber 1,5 Milliarden Menschen sind in den unterentwickelten Ländern auf Fisch angewiesen. Diesen Menschen dürfen wir das Recht auf diese Nahrung nicht absprechen.“

Die Europäische Union ist der weltweit größte Fischimporteur

Im Prinzip würde die westliche Welt diesen Menschen den Fisch wegessen. Schließlich ist die Europäische Union der größte Fischimporteur weltweit. „Und jeder Deutsche isst durchschnittlich über 20 Kilogramm Fisch pro Jahr, das ist das Dreifache, von dem, was wir noch in den 50er Jahren gegessen haben.“

Die Nachfrage nach Fisch und Meerestieren ist enorm gestiegen, das Angebot aber sinkt kontinuierlich. Für Greenpeace, den WWF und den BUND stehen die Ozeane weltweit kurz vor dem Kollaps. „90 Prozent der kommerziell genutzten Fischbestände sind bereits bis an die Grenze genutzt oder überfischt“, sagt Maack.

Hier gibt es weitere Hintergrundgeschichten aus unserem Wochenend-Ressort.

Das Thünen Institut, das das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) berät, bezeichnet diese Aussage als Fehlinterpretation: „Zwei Drittel der marinen Bestände sind derzeit im grünen Bereich, und der Anteil der optimal genutzten Bestände ist über viele Jahre stabil geblieben. Aber natürlich sind auch 34 Prozent Bestände im schlechten Zustand ein erhebliches Problem, und der Anteil der Bestände im roten Bereich nimmt seit vielen Jahren zu, der unternutzten Bestände dagegen ab…“, heißt es dazu in einer Meldung.

Problem Überfischung: Immer größere Schiffe und Netze

Bei der EU gilt ein Fischbestand als überfischt, wenn der Fischereidruck höher ist, als Fisch nachwachsen kann. Fakt ist, je weniger Fisch in den Meeren zu finden ist, umso größer wird der Aufwand der industriellen Fischerei. Immer größere Schiffe, größere Netze und genauere Ortungstechnik werden nötig. In Mecklenburg-Vorpommern geben immer mehr Küstenfischer auf, weil die Hering- und Dorschbestände zu gering sind. In der Nordsee ist der Kabeljau auf ähnlich schlechtem Stand. Dabei verändert der intensive Fischfang auch die Evolution, wie es im World Ocean Review 2020 heißt.

Wenn vorwiegend die großen Fischen gefangen werden, pflanzen sich kleinere Fische fort, die aber weniger Eier produzieren und deren Sterblichkeit höher ist. Wie Modellrechnungen zeigen, dauert es Jahrhunderte, bis sich der Effekt der sogenannten fischereiinduzierten Evolution wieder umkehrt – selbst wenn man die Fischerei stoppen würde. Ein weiteres Problem stellt der illegale Beifang dar, durch den bereits der Schweinswal in der Ostsee sowie alle Hai-Arten und Rochen bedroht sind. Für Besserung sollte in der Europäischen Union die schon 2013 auf den Weg gebrachte Fischereiverordnung (GFP) sorgen.

MSC-Siegel erfüllt nur Mindeststandards

Das zentrale Ziel, erschöpfte Fischbestände bis 2020 wiederaufzubauen und die illegale Fischerei zu unterbinden, wurde jedoch verfehlt. „Die EU scheitert derzeit nicht nur daran zu erfassen, wie viel Fisch ihren Meeren tatsächlich entnommen wird, sie versagt zusätzlich dabei, die eigenen Regeln zur Kontrolle der Fischerei durchzusetzen“, sagt Stella Nemecky, Fischereiexpertin des WWF Deutschland.

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Derzeit blieben 75 Prozent der gesamten EU-Fischereiflotte weitgehend unterhalb des Radars der Fischereibehörden, weil Schiffe unter 12 Meter Länge von der Pflicht eines Systems zur automatischen Ortung befreit seien. Das sind 49.000 europäische Fangschiffe, deren Position und Fangbewegungen nicht nachvollziehbar sind. Sie und andere Organisationen kritisieren schon jetzt den Gesetzesentwurf für die geplante Reform der Verordnung.

Als Kontrollmechanismus soll eine elektronische Fernüberwachung der Fangschiffe eingeführt werden. Das heißt, Fangschiffe mit einer Gesamtlänger über 24 Meter müssen dann über eine Kameraüberwachung verfügen. Damit würden allerdings nur 4 Prozent der deutschen Fangboote kontrolliert. „Es wäre am besten, wenn auf allen Fangschiffen Kameraüberwachung stattfinden würde, um gleiche Chancen und gleiche Bedingungen für alle Fischer zu gewährleisten. Und auch, damit sich nachhaltige Fischer ihre Nachhaltigkeitssiegel ehrlich verdienen können“, fordert Nemecky.

Verbraucher und Fischproduzenten wünschen sich Nachhaltigkeit

Denn Nachhaltigkeit wünschen sich nicht nur Verbraucher, sondern auch Fischproduzenten. Doch das weltweit bekannteste und am meisten verbreitete Gütesiegel, das „Marine Stewardship Council“ (MSC), erfüllt nach Ansicht von Umwelt- und Meeresschutzorganisationen schon lange nicht mehr den Anspruch eines nachhaltigen Standards. Derzeit stammen rund 14 Prozent der weltweiten Fangmenge von Fischereien mit MSC-Zertifikat.

„Damals waren es ernsthafte Bemühungen, die Fischerei zu verbessern“, sagt Nemecky, „aber es hat nicht funktioniert. Bei den Kriterien, den Kontrollen – da verliert das MSC-Siegel an Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit.“ Der WWF, als damaliger Mitbegründer des Siegels, empfiehlt es Verbrauchern dennoch, weil es bislang keine Alternativen gäbe. Vor allem das sogenannte „Shark-Finning“ ist ein Streitthema: Obwohl beim MSC seit Jahren als verboten verankert, wirft Greenpeace den MSC-Flotten eine weiterhin große Toleranz vor. Bei dieser Praxis wird Haien die Rückenflosse abgetrennt, für die am chinesischen Markt sehr hohe Preise erzielt werden.

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. © dpa | Paul Zinken

Die EU ist Hauptlieferant für Haifleisch und Rochen in die ostasiatischen Märkte. Nach Angaben des WWF sterben bis zu 100 Millionen Haie und Rochen jedes Jahr in der Fischerei. Dabei zählen sie zu den am stärksten bedrohten Meeresbewohnern. „Fisch ist für mich Bestandteil eines ökologischen Systems und nicht nur eine Nahrungsressource. Alle Arten sind entscheidend für die Gesundheit der Meere“, sagt die WWF-Meeresexpertin Nemecky.

Aquakultur: Vom Heilsbringer zum Wunderkind

Als Heilsbringer galt die letzten Jahre Fisch aus Aquakulturen. Mittlerweile stammen etwa die Hälfte aller Fische, Krebse und Muscheln auf dem Weltmarkt aus einem Aquakulturbetrieb. Was anfangs als Lösung gegen die Überfischung gesehen wurde, ist heute ein Umweltproblem. Die offenen Netzfarmen – zum Beispiel bei den Lachskulturen in den norwegischen Fjorden – halten meist unnatürlich große Populationen.

Die Ausscheidungen der Fische ebenso wie das meist eingesetzte Antibiotika belasten die umgebenden Ökosysteme. Generell wenig sinnhaft scheint die Aufzucht fleischfressender Fische in dieser Form: „Denn zum einen werden die in Aquakultur gehaltenen Fische mit Jungfischen aus Wildbeständen gefüttert oder sogenannte Müllfische als Fischmehl verfüttert. Damit steigt unweigerlich der Druck auf die freilebenden Fischbestände“, erklärt der Meeresbiologe Maack.

Für jedes in den Fischfarmen produzierte Kilogramm Lachs beispielsweise würden 2,5 bis 5 Kilogramm wildlebender Fisch als Nahrung benötigt. Für Thunfisch seien es sogar 20 Kilogramm Fischnahrung für ein Kilogramm Aquakultur-Thunfisch. Eine andere Wahl sind mittlerweile Meeresfische, die an Land in geschlossenen Salzwasser-Systemen gezüchtet werden. Dabei landen Abwässer nicht in der Umwelt, sondern werden biologisch gereinigt. „Diese Systeme sind allerdings sehr energieaufwendig und daher CO2-problematisch. Warum nicht lieber Spiegelkarpfen aus der Lausitz? Das sind Pflanzenfresser und sie werden seit vielen Jahrzehnten umweltunproblematisch gezüchtet“, fragt daher Thilo Maack.