Ruhrgebiet. Sind die Kinder zu laut oder die Menschen nebenan zu empfindlich? Eine Mutter erzählt von ihren Versuchen, Streit um Lärm zu schlichten.

Dies ist eine Geschichte ohne Happy End. Leider. Vielleicht ist es eine Geschichte mit open end. Oder auch eine never ending story. Es ist ein Bericht über einen Nachbarschaftskonflikt. Über die Lotterie des Zusammenlebens und die Frage, was Lebensqualität ausmacht. Und vielleicht auch darüber, welchen Stellenwert Kinder in unserer Gesellschaft haben. Möglicherweise ist es nur eine Geschichte über unterschiedliche Vorstellungen.

„Gute Nachbarn sind ein echter Schatz“, sagt ein ungarisches Sprichwort. „Die wahre Kunst der Voraussicht liegt in der Wahl der Nachbarn, nicht der Häuser“, ein chinesisches. Leider lernt man die Nachbarn aber meist erst nach dem Einzug kennen.

Mit dem Umzug fing es an

Dass es mit den neuen, bislang unbekannten, Nachbarn schwierig werden könnte, ahnte ich schon am Tag des Einzugs. Wir hatten eine Kette gebildet: Vom Möbelwagen bis zur neuen Wohnung im oberen Stockwerk eines Altbaus. Im ersten Stock, vor der Tür der neuen Nachbarn, war die Zwischenstation. Bis die Nachbarin, mittleren Alters, zur Tür hinausguckte und laut und böse zu verstehen gab, dass sie keine abgestellten Möbel oder Kisten vor ihrer Wohnungstür wolle. Ok.

Die Wohnung war für uns, Mutter und zwei Kinder, damals sechs und elf Jahre alt, eigentlich ein Glücksgriff: große Räume, nah zur Schule. Dabei hätten wir nicht zwingend umziehen müssen. Der Plan war, durch mehr Platz die Lebensqualität zu steigern.

Eine Wohnung sei keine Turnhalle

Kurz nach unserem Einzug klingelte es an einem verregneten Sonntagvormittag. Der Nachbar stand davor, der erwachsene Sohn, der mit seinen Eltern eine Etage tiefer wohnt. Die Wohnung sei ja wohl keine Turnhalle, dazu sollten wir doch bitte nach draußen gehen, der Spielplatz sei nicht weit und ob ich als gute Mutter nicht meinen Kindern frische Luft gönnen wolle. Ein verdutzter Seitenblick zeigte mir: Mein Sohn spielte friedlich mit seinen Matchbox-Autos in seinem Zimmer. Seine Schwester saß auf dem Sofa und hörte Musik über Kopfhörer. Mir fehlten die Worte. Nicht nur, dass ich den Grund für die Annahme, wir benutzten die Wohnung als Turnhalle, nicht finden konnte, ich fand den Mann auch übergriffig.

Ich schrieb einen Brief: Einladung zu Kaffee und Kuchen bei Sonnenschein im Garten. Dann könnten wir darüber reden, zu welchen Tageszeiten sie ein besonderes Ruhebedürfnis hätten und welche Geräusche sie störten. Ich wollte ihnen entgegenkommen, buk Kuchen, deckte den Kaffeetisch. Sie kamen nicht.

Nachbarn beschimpfen Kinder im Treppenhaus

In den nächsten Wochen beschimpften sie die Kinder im Treppenhaus, ab und zu klingelte einer von ihnen, meist der Sohn, um sich bei mir zu beschweren. Wenn ich der Nachbarin begegnete, fragte sie mich, warum ich meine Kinder nicht im Griff hätte. Mehrfach bat ich, ob man sich nicht mal zusammensetzen könnte, um in Ruhe miteinander zu sprechen. „Dafür haben wir keine Zeit“, war die Antwort. Stattdessen kam ein Brief: Neulich habe ein Wecker lange geklingelt, der Kleine sei nachts ins Bad gerannt, nach 22 Uhr gelte doch die Ruhezeit, eine Tür sei laut zugefallen, wenn wir um 6.30 Uhr aufstehen, sei das eindeutig zu früh. Sie fühlten sich massiv belästigt und beriefen sich auf den Grundsatz der nachbarschaftlichen Rücksichtnahme. Dieser Grundsatz verpflichtet zur Rücksichtnahme auf die „schutzwürdigen Interessen“ des anderen sowie zu einem „redlichen und sozialen Verhalten“.

Wir hätten alles zu unterlassen, was sie, die Nachbarn stören könnte. Keinen Besuch empfangen, keine Musik, nicht saugen (dann klopften sie regelmäßig mit dem Besenstil gegen die Decke), nachts nicht zur Toilette gehen. Ich schrieb erneut einen Brief, versuchte zu erklären, dass sich manche Dinge nicht vermeiden ließen, zum Beispiel die Schule zu einer bestimmten Zeit anfinge und ich mir meine Aufstehzeit nicht aussuchen könne. Außerdem schlug ich ihnen vor, sich die Kosten für eine besondere Schalldämmung zu teilen. Keine Antwort.

Ich ermahnte die Kinder permanent

Und ich probierte es mit noch mehr Nachdruck, alles zu vermeiden, das sie stören könnte: Wenn die Kinder Besuch hatten, trieb ich sie bei Wind und Wetter nach draußen. Ich kaufte neue Teppiche für alle Räume, machte keine Youtube-Workouts mehr, saugte nur noch mit dem Rohr, hörte keine Musik mehr, besorgte uns neue Hausschuhe, ermahnte die Kinder permanent: Nicht trampeln, nicht rennen, keine über den Boden hüpfenden Dinos. Bis wir dann doch Übernachtungsbesuch von einer befreundeten Familie mit drei kleinen Kindern bekamen.

Wir waren den ganzen Tag draußen, aber als es Zeit war, ins Bett zu gehen, bewegten sich eben doch alle durch die Wohnung. Wutentbrannt stand der Nachbar vor der Tür. Wenn ich so weitermachte, brüllte er, ihn permanent zu ärgern, ihn gar durch die Lärmbelästigung krank zu machen, dann würden Köpfe rollen. Da informierte ich die Vermieter. Sie versprachen, sich zu kümmern. Doch nach wie vor sprechen – oder schreien – die Nachbarn die Kinder im Treppenhaus an. Wenn meine Tochter auf ihrer Klarinette übt, was sie nur selten tut, kommt von unten Heavy-Metal-Musik in einer Lautstärke, dass sie ihre Töne nicht mehr hören kann.

>> Experten sagen: „Kinderlärm ist zu tolerieren“

Sabine Mosler-Kühr (55), Rechtsberaterin und stellvertretende Geschäftsführerin des Mietervereins für Bochum, Hattingen und Umgebung bringt es auf den Punkt: „Wenn man eine gute Beziehung zu den Nachbarn hat“, sagt sie, „dann weiß man: Da will einem keiner was Böses. Wenn nicht, wird oft unterstellt, dass alles Handeln gegen sie gerichtet ist.“

Der Bochumer Mieterverein übernimmt keine rechtlichen Vertretungen, bei denen Mieter mit Mietern streiten. „Wir dürfen anderen Mietern nicht schaden“, ist der Grundsatz. Aber Mosler-Kühr gibt Ratschläge: „Meistens raten wir dazu, mit den Nachbarn oder den Vermietern direkt zu sprechen. Und in dem Moment, in dem sie wirklich sprechen, wirkt das meist schon deeskalierend.“ Der beste Weg sei, sich gegenseitig anzusprechen und zu schauen, wie man sich entgegenkommen kann. Aber meist sei es sehr schwierig, die Parteien an einen Tisch zu bekommen. „Kreischende Kinder, schreiende Eltern, Kinderwagen im Hausflur: In solchen Dingen wird man schnell sehr empfindlich“, sagt die Rechtsberaterin. „Aber man muss unbedingt Ruhe walten lassen. Eine Spirale der Aggression muss unbedingt vermieden werden.“

Nachtruhe zwischen 22 und 6 Uhr

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Natürlich gilt eine gesetzliche Nachtruhe zwischen 22 und 6 Uhr. Für motorisierte Gartengeräte ist sie noch länger: Rasenmäher und Laubbläser müssen zwischen 20 und 7 Uhr ausgeschaltet bleiben – und sonntags ganztägig. Aber alltägliche Geräusche, die Kinder verursachen, werden nur in seltenen Extremfällen als Lärm angesehen. Eine Klage einer älteren Dame auf Mietminderung wegen massiver Lärmbelästigung hatte das Landgericht Berlin 2016 abgewiesen. Begründung: Laut Bundes-Immissionsschutzgesetz, also dem Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche oder Erschütterungen, gilt Kinderlärm – auch von Kitas und Spielplätzen – grundsätzlich als zulässig. Nur in Extremfällen, zum Beispiel wenn Kinder in der Wohnung Rollschuhlaufen, können Nachbarn einen Unterlassungsanspruch durchsetzen.

In jeder Stadt oder Gemeinde und dort für jeden Bezirk gibt es eine Schiedsperson, die für außergerichtliche Schlichtungsverfahren, vor allem bei Nachbarschaftsstreitigkeiten, zuständig ist. Sie wird vom Rat gewählt und ist ehrenamtlich tätig. Manfred Neumann ist für Bochum-Querenburg und teilweise -Stiepel im Einsatz und sagt ebenfalls: „Das erste Geheimrezept ist immer, miteinander zu reden. Aber ruhig und besonnen.“ Seine Aufgabe sei meist, für einen Perspektivwechsel zu sorgen. Seit 26 Jahren führt der 62-Jährige das Ehrenamt bereits aus und hat einiges erlebt. „Oft ist der eigentliche Grund für Streitigkeiten ein ganz anderer.“ Mit Nachdruck sagt er: „Kinderlärm muss geduldet werden. Es gibt immer Leute, die sich aufregen, aber die Rechtslage ist eindeutig: Kinderlärm ist zu tolerieren. Es sei denn, es ufert extrem aus.“