Essen. Bischof Franz-Josef Overbeck blickt mit Sorge auf die große Unsicherheit bei den Menschen. Seine Weihnachtspredigt in Auszügen lesen sie hier.

Unsicherheit! – Diese Wahrnehmung beschäftigt mich seit Wochen und Monaten. Ich begegne so vielen unsicher gewordenen Menschen, so vielen, die ratlos und nachdenklich sind. Aber ich treffe auch solche, die deswegen meinen, scheinbar sichere Antworten gefunden zu haben, die unbeweglich für jede Form von Dialog und Auseinandersetzung geworden sind. Zeiten der Unsicherheit sind gefährliche Zeiten, weil manche Menschen scheinbare Sicherheiten oder einfache Lösungen versprechen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Zeiten der Unsicherheit sind aber auch eine Einladung, sich auf Ungewohntes einzulassen und gemeinsam mit anderen die Chance des Anfangs zu nutzen.

Bischof Franz-Josef Overbeck im Essener Dom. (Archivbild)
Bischof Franz-Josef Overbeck im Essener Dom. (Archivbild) © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Beides wird an den großen Herausforderungen deutlich, die wir gegenwärtig zu bestehen haben. Unsicherheiten bestimmen auch das kirchliche Leben, das immer weniger Menschen Halt geben kann, weshalb sich viele aus der Gemeinschaft der Kirche verabschieden. Erst recht gilt dies angesichts der Folgen des Missbrauchsskandals, der all das deutlich macht, was über viele Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg unsere Kirche unheilvoll geprägt hat und uns zu einer neuen Ehrlichkeit auffordert.

Es ist nicht zu leugnen, dass das schreckliche Unheil, das weltweit in unserer Kirche geschehen ist, nach grundsätzlichen Veränderungen verlangt: Es geht dabei um Fragen nach der Macht, um Fragen nach der Beziehung und der Güte von Partnerschaft, um die Frage nach Geschlechtergerechtigkeit und um die Frage nach den Berufungen in der Kirche. Dabei sind Veränderungen mit Unsicherheit verbunden, sie erschließen Neues und Unvertrautes.

Wer unsicher ist und Unsicherheit zulässt, der ist ein Mensch der Suche. Auf der Suche sind auch der Evangelist Lukas und viele der ersten Christengenerationen. Das weihnachtliche Evangelium, das wir in jedem Jahr in der Heiligen Nacht hören und das aus der Feder des Evangelisten Lukas stammt, ist nämlich aufgeschrieben für sogenannte ‚Heidenchristen‘, also Menschen, die den Glauben an Jesus Christus annehmen und aus vielen verschiedenen Traditionen, Religionen und Glaubensüberzeugungen kommen. Es sind Menschen, die auf der Suche sind, sich im Leben und in den Zeiten neu zu verorten. Das Weihnachtsevangelium des Lukas spiegelt diese Suche nach einem festen Punkt wider.

Gott wird Mensch

Darum geht es dem Evangelisten Lukas, wenn er von der konkreten Geschichte Jesu spricht. Gott bleibt keine Idee, verflüchtigt sich nicht in guten Gedanken. Gott wird Mensch. Er offenbart sich in der Geschichte, im konkreten Hier und Jetzt, im Menschen Jesus von Nazareth. Diejenigen, die sich neu Jesus zuwenden, erkennen in ihm den lebendigen Gott als Mensch: Den Gott, der mit ihnen geht, der ihnen nicht nur den Weg weist, sondern zum Weg wird, wie es später im Johannesevangelium (Joh 14,6) heißen wird.

Das Evangelium des Lukas ist zusammen mit der Apostelgeschichte ein Zeugnis des Neuen Testamentes von der Tröstung unsicherer Menschen durch den konkreten Gott, der in Jesus ein menschliches Gesicht erhält, in dem sich Gott selbst zeigt und ausdrückt. Nicht umsonst ist es Lukas, der die Suche Gottes nach dem Verlorenen als die Mitte seines Evangeliums herausarbeitet. Die drei Gleichnisse vom verlorenen Schaf, von der verlorenen Drachme und vom verlorenen Sohn (Lk 15) sind programmatisch. Jesus ist aber für Lukas der Heiland der Kranken und Notleidenden (vgl. Lk 2,11; 7,11-17). Lukas ist ein Anwalt der Frauen, da er betont, wie wichtig Frauen in der Nachfolge sind (vgl. Lk 8,1 f; 7,36-50).

Viele Formen von Unsicherheit

Die vielen Formen von Unsicherheit öffnen unseren Blick auf den Sinn von Weihnachten. Die bei Lukas berichtete Geburt Jesu zeigt Maria und Josef als Menschen auf schweren Wegen, die Unsicherheiten aushalten müssen. Maria kann Jesus nicht in gesicherten Verhältnissen, sondern nur in einem ungeschützten und zugigen Stall zur Welt bringen (vgl. Lk 2,7). Ähnliches gilt auch für die Hirten auf dem freien Feld, die sich angesichts der Erfahrung des Göttlichen fürchten und unsicher werden (vgl. Lk 2,9-10). Sicherheit werden diese Hirten später erstaunlicherweise in einem Kind finden, das eigentlich erst recht Zeichen des Unsicheren par excellence ist. Ein Kind hat nie aus sich heraus Sicherheit, muss sich geborgen wissen in den Armen seiner Eltern, braucht deren Hege und Pflege, Schutz und Orientierung.

In unsicheren Zeiten ist es geboten, Mut aufzubringen, nach Schutz zu suchen und sich selbst nicht zu verlieren. Es ist paradox: So wie Unsicherheit ein Ausdruck von Schwäche und Verlorenheit ist, so ist Unsicherheit eine Einladung, in dieser Schwäche wahre Stärke zu erkennen. Es geht um jene Stärke, sich neu zu orientieren, sich neu auf die Welt einzulassen und den Glauben als ganzer, vernunftbegabter Mensch zu entdecken.

Neue Suche nach Sicherheiten

Für viele ist der Glaube heute identisch mit oft nicht mehr verstehbaren, manchmal magischen, manchmal aus fernen Zeiten kommenden Formen von Religionsausübung, die den Menschen unserer Tage nicht mehr entsprechen. Sie betreffen oftmals auch die gesellschaftliche Form des Lebens als Kirche und als Gemeinschaft der Glaubenden. Dafür gibt es viele alltägliche Beispiele. So finden wir uns wieder auf einer neuen Suche nach Sicherheiten in unserer komplexen, digitalen und globalen Welt.

Dabei Menschen der Vernunft zu bleiben, die in unsicheren Zeiten den Blick für das Segensreiche der Wissenschaften behalten, ist eine wichtige Aufgabe. Mich sorgt, dass nicht wenige Menschen der Versuchung erliegen, vorschnell und gegen jede Vernunft auf die trügerische Sicherheit einfacher und vermeintlich eindeutiger ‚Wahrheiten‘ zu vertrauen, die häufig keinen Kompromiss und keinen Dialog mehr zulassen. Wird Unsicherheit nur als Schwäche verstanden, die bloß man schnell überwinden werden muss, kann dies viele in den Abgrund reißen.

Die Chance des Anfangs

Ganz anders sieht es aus, wenn sie auch als Chance des Anfangs begriffen wird. Dann kann Unsicherheit einen Perspektivwechsel ermöglichen, um in der Schwäche neu unsere Stärke zu entdecken, die sich zeigt in einem Leben, das Gerechtigkeit üben will für die Schwachen und Verlorenen, das selbstlose Nächstenliebe umsetzt. Das ist zutiefst christlich!

Unsicherheit kann gefährlich werden. Unsicherheit kann Mut machen – als Ausdruck der Suche nach dem Verlorenen, nach dem Wahren und dem Guten, das wir Gott verdanken.

Nicht umsonst erzählt Lukas, dass die Hirten von der Freude an Gott erfüllt werden, der sie mit der Erfahrung seiner Gegenwart in Jesus beschenkt hat. Der Weg von Unsicherheit zur Freude mag weit sein, aber er führt uns Christen über Jesus und seine menschliche Bescheidenheit, die uns stark macht. Ich bin sicher: Dies ist eine demütige Stärke, die Kraft gibt für Neues. Dies ist die Stärke aller, die Weihnachten feiern. Ihnen allen ein gesegnetes Fest.

=>> Weihnachtsgottesdienste 2021

Bei den Weihnachtsgottesdiensten gibt es spezielle Corona-Regeln, die je nach Gemeinde anders aussehen können. Im Essener Dom gilt die 2G-Regel. Zudem ist eine Anmeldung notwendig: bistum-essen.de