Bochum. Harte Rocker mit weichem Herz für die Ärmsten: Friseure der „Barber Angels“ schneiden Obdachlosen die Haare. Ein Besuch in Bochum.
Vor der Ko-Fabrik, einer Begegnungsstätte in der alten Bochumer Eisenhütte, hat sich eine Menschenschlange gebildet. Die Sonne kommt gegen die kalte Luft nach der ersten Frostnacht kaum an. Gerade sieben Grad Celsius zeigt das Thermometer. Männer und Frauen mit Rucksäcken und großen Taschen stehen neben der Suppenküche an. Sie warten auf ihren Gratis-Haarschnitt. Die „Barber Angels“ sind in der Stadt. An einem Montag. Wenn andere Salons frei machen, greifen sieben Friseure aus „NRW-West“ drei Stunden lang zu Scheren, Kämmen und Rasierern.
Fünf Jahre lebte sie auf der Straße. Das war in Köln. „Gleich mit 18 habe ich Drogen genommen“, sagt Angela. Danach ging es bergab: Heroin, Anschaffen für den nächsten Schuss, das ganze Programm. „In Bochum habe ich eine Therapie gemacht und wohne nun in einer WG“, fügt die 34-Jährige hinzu. Ein „Barber Angel“ hat ihre dunkelbraunen Haare wieder schön zurechtgemacht. Friseurbesuche sind so ziemlich das Letzte, was sich Angela und die anderen hier leisten können.
Der beste Lohn: die Dankbarkeit
Flügel haben die „Barber Angels“ nicht. Und sie tragen keine weißen Gewänder, sondern schwarze Shirts und Lederkutten mit bunten Abzeichen. Wie Rocker-Clubs. Doch damit haben sie nichts am Hut. Die Friseure, die sich dem Verein anschließen, tun gern Gutes. Sie helfen „den Ärmsten der Armen“. Ehrenamtlich an Sonn- und Feiertagen – oder eben an einem Montag wie diesen. „Der beste Lohn ist die Dankbarkeit unserer Gäste“, erklärt Carsten Ertmer-Geldermann. Der 47-jährige aus Reken ist „Orga-Angel“ und hat den Termin in Bochum auf die Beine gestellt.
In der Bruderschaft haben sich Männer und Frauen aus dem Friseurhandwerk zusammengetan. In sozialen Einrichtungen oder Bahnhofsmissionen empfangen sie Wohnungslose und Sozialschwache wie in einem Salon. „Wir treffen die Menschen in ihrem Umfeld“, so Carsten, der wie alle Helfer nur beim Vornamen genannt werden will. Petra, seine Ehefrau, hat blonde Locken und ein Engelslachen. Sie ist Friseurmeisterin und mit Herzblut zugange.
„Hier muss sich keiner schämen“
„Pöbeleien oder Ärger gab es noch nie“, sagt Carsten. Man kenne die Szene, um die viele einen Bogen machen. Männer und Frauen in unförmigen Jacken. Die mit ihren Habseligkeits-Tüten vor Kaufhäusern sitzen. Oder an Bahnhöfen. Manche schütten den Friseuren ihre Herzen aus. „Das ist hier wie sonst auch“, meint Petra. „Während wir schneiden, wird erzählt.“ Bei den „Barber Angels“ kommt zur Sprache, was sonst kaum einer hört. „Hier muss sich keiner schämen“, ergänzt Klaus. Der Friseurmeister aus Düsseldorf-Oberkassel ist seit 2019 dabei. Nun weiß er, wie Armut aussieht. Selbst auf der Kö. Oder gerade dort. Denn in Düsseldorf seien die Termine sogar stärker nachgefragt. In Bochum haben am Ende 38 Frauen und Männer die Haare wieder schön.
Ein Trinkgeld für die Friseurin
Zwei Einsätze pro Monat findet Monika (44) aus Vreden im Münsterland nicht zu viel. Die Friseurin ist seit einem halben Jahr im Team. „Schick“, sagt sie den Spiegel haltend und fährt einer Kundin mit der anderen Hand durchs Haar. Die Frisierte will ihre Geschichte nicht öffentlich machen. Doch höflich wünscht sie „schönen Advent“. Und steckt Monika einen Euro zu. „So ein Trinkgeld haut mich um“, sagt die Friseurin. Sie nimmt es aber als Spende. Denn die Ärmsten geben gern etwas zurück. „Du bist so lieb, dir wachsen die Flügel von allein“, habe ein Obdachloser ihr einmal gesagt.
Die Stimmung im improvisierten Salon am langen Holztisch in der Quartiershalle ist fröhlich. Für die Wartenden gibt es Kuchen. Und Kaffee zum Aufwärmen. Beides hat das Team vom Straßenmagazin „Bodo“ spendiert. Das Heft erscheint in Bochum und Dortmund. Was „Bodo“ und die Friseurengel verbindet: Beide stärken das Selbstbewusstsein der Bedürftigen. Die einen durch Arbeit, die anderen durch Haarschnitte und Gratis-Bartpflege, die es gerade wegen der Corona-Maskenpflicht nicht gibt.
Die Rente ist zu niedrig
„Ich kriege nur eine sehr niedrige Rente“, erzählt Karl. Im April war er zuletzt beim Friseur. „Haareschneiden kann ich mir nicht leisten.“ Für die zehn Euro könne man in Notschlafstellen wie dem „Carl-Sonnenschein-Haus“ in Oberhausen im Bett übernachten, Frühstück inklusive. Auch Corona-Schnelltests werden dort gemacht.
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„Wir arbeiten derzeit nach 2G“, betont Carsten. Ein ausgefeiltes Hygienekonzept soll die Gesundheit aller schützen. Im weiteren Sinne bedeuten die beiden „Gs“ hier eindeutig: geschnitten und glücklich. Die Haare waschen müssen sich die Gäste vor dem Schneiden selbst. Am Waschbecken im Vorraum des WCs steht Jacqueline aus Wattenscheid. Jemand reicht ihr ein Handtuch. Ein Engel in Lederkutte mit vielen Abzeichen legt ihr einen Umhang über die Schultern. Bei den „Barber Angels“ war sie schon öfter. Sie lebt von Hartz 4.
Bei einem ihrer Einsätze bediente Petra eine andere Frau mit schlimmen Brandnarben an den Händen. „Jemand hatte nachts ihr Matratzenlager in Brand gesetzt. Sie ist gerade noch wach geworden.“ Solche Schicksale machen den „Barber Angels“ eines klar: „Uns geht es so gut. Was wir hier machen, ist nur ein kleiner Beitrag.“
„So ein schönes Gefühl!“, sagt Angela am Ausgang. Dann tritt sie frisch frisiert, mit schwerer Tasche und Mischlingshündin Chica wieder auf die Straße.
„Barber Angels Brotherhood“ sucht neue Mitglieder: Friseure, die ehrenamtlich Obdachlosen und Bedürftigen die Haare schneiden. Über ein Jahr musste der Club wegen Corona pausieren. Gegründet wurde er 2016 von Claus Niedermaier, Friseur aus Biberach a.d. Riß. Insgesamt hat der Verein über 400 Mitglieder im In- und Ausland. In NRW sind etwa 50 Friseure in drei „Chaptern“ aktiv. Mehr Infos zu den „Barber Angels“ gibt es im Internet unter b-a-b.club