Moers/Düsseldorf. „Immer funktionieren funktioniert halt nicht“, heißt ein neues Buch. Die Experten geben darin Tipps, damit Menschen nicht mehr überfordert sind.
Cord Neubersch (45) arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in Moers, seine Schwester Judith Brückmann (37) ist Coach in Düsseldorf. Was ihre Klienten eint: Sie fühlen sich oft überfordert. Doch die beiden Experten wissen: „Immer funktionieren funktioniert halt nicht“. Unter diesem Titel haben sie einen Ratgeber verfasst, der Menschen zeigt, warum sie überfordert sind – und was sie selbst dagegen tun können.
Menschen rennen und rennen bis es irgendwann nicht mehr geht. Was sind die ersten Anzeichen einer Überforderung?
Brückmann Man merkt es immer dann, wenn man das Gefühl von Hilflosigkeit verspürt: Ich weiß gar nicht mehr, wie ich damit umgehen soll. Wenn zum Beispiel die Anforderungen im Job lange Zeit sehr hoch sind und ich das nicht mehr händeln kann. Oder man ist ständig in Kommunikationsbereitschaft, weil die sozialen Medien einen fordern. Man ist ratlos und kann nicht mehr auf die eigenen Fähigkeiten und Ressourcen zurückgreifen.
Ressourcen – was heißt das in diesem Zusammenhang?
Brückmann Sie stehen für den Kraftspeicher. Verschiedene Dinge können diesen Akku aufladen: meine Stärken, schöne Erlebnisse, erfolgreiche Momente. Alles, was meinen Akku auffüllt, macht mich widerstandsfähiger.
Gegenüber Stress?
Brückmann Stress ist nicht gleich Überforderung. Stress ist eine körperliche Reaktion, da werden Hormone ausgeschüttet und wir sind sofort konzentriert und wach. Das ist etwas Gutes, denn so bremse ich sofort, wenn ein Kind vor das Auto rennt. Ich bin für einen Moment angespannt. Wenn ich jedoch ständig angespannt bin, kann das zur Überforderung führen.
Neubersch Es wäre unrealistisch zu denken, wir könnten leben, ohne gefordert zu sein. Dass es mal zu viel wird, das ist menschlich. Problematisch wird es, wenn ich ständig meine persönlichen Grenzen überschreite und zum Beispiel körperliche Signale nicht beachte.
Tinnitus, Kopfschmerzen, Schlafstörungen – an was denken Sie da?
Neubersch Das beginnt schon mit unspezifischen Symptomen, wir werden schneller müde oder wir merken plötzlich, wir können nicht mehr alles richtig verarbeiten, also die Konzentration wird schwieriger. Oder ich brauche länger zum Einschlafen oder ich esse anders. Manche versuchen, innere Unruhe durch Essen auszugleichen.
Was kann man dagegen tun?
Neubersch Das Gute ist: Die Menschen können selbst viel bewegen, bevor es zu spät ist, also bevor die Überforderung dramatisch wird und es zu einer Diagnose kommt.
Brückmann Wichtig ist, dass man versteht, was einen in die Überforderung treibt und was einem auch helfen kann.
Was überfordert die Menschen am meisten?
Brückmann Das ist individuell verschieden. Es müssen keine objektiv hohen Anforderungen sein, die von außen kommen, wie die Pandemie. Es gibt auch eine subjektive Überforderung, die ist weit verbreitet.
Neubersch Ein Beispiel: Ein Geschäftsmann leistet total viel, dann kommt er nach Hause und soll die Kinder betreuen. Es kann sein, dass er damit stark überfordert ist. Er würde lieber 30 Überstunden machen, kein Problem. Aber die Arbeit zu Hause überfordert ihn.
Meist können überforderte Menschen das begründen: Wenn die Kinder größer wären, wenn ich einen anderen Chef hätte, wenn meine Frau mal an mich denken würde, dann wäre alles besser. Aber ist das so?
Brückmann Sie nehmen eine Opfer-Haltung ein, geben die Verantwortung für sich ab, schauen nur auf die Sachebene: Die Kinder sind noch so klein, der Job fordert mich so stark. Es gibt aber Menschen, die diese Überforderung schon seit Jahren spüren – und da kann es nicht nur an der Situation liegen.
Woran liegt es dann?
BrückmannEs liegt vielleicht an den eigenen Glaubenssätzen. Wenn jemand aus einer Arbeiterfamilie kommt, in der viel geschuftet wurde, um gerade so die Existenz zu sichern, kann ein Glaubenssatz sein: „Mir soll es nicht so ergehen wie meinen Eltern.“ Er leistet ganz viel, ist erfolgreich, wohlhabend. Aber er hat vielleicht die Fähigkeit eingebüßt, gelassen zu sein, weil er immer getrieben war, einen Perfektionsdruck gespürt hat. Und dann sagt dieser Mensch: „Ich habe doch alles erreicht in meinem Leben. Wo ist das Problem?“ Er ist vielleicht sein ganzes Leben lang einem Glaubenssatz gefolgt, aber gar nicht seinen Bedürfnissen. Er hat womöglich einen kreativen Anteil in sich. Glücklich ist aber nicht derjenige, der erfolgreich ist, sondern, der sich sein Leben so eingerichtet hat, dass es für ihn passt. Deshalb ist es so wichtig zu wissen, was man braucht, um sich gut zu fühlen.
Und dann kommen Einwände: Ich würde ja gerne, aber das geht nicht, weil…
Brückmann Man muss schon die Verantwortung für sich selbst übernehmen und nicht meinen, die Verantwortung für andere übernehmen zu müssen. Wir werden nicht alle Bedürfnisse unter einen Hut bringen, aber wenn wir wissen, was wir brauchen, können wir das auch kommunizieren. Und rasten nicht aus, wenn wir nach einer anstrengenden Woche nach Hause kommen, der Partner sitzt auf der Couch und in der Wohnung herrscht das Chaos. Dann kann man auch schon vorher sagen: Die Woche wird stressig, bitte entlaste mich.
In Ihrem Buch nennen Sie Methoden, mit denen Menschen herausfinden können, was ihnen wichtig ist und was sie überfordert. Können Sie ein Beispiel nennen?
Brückmann Jeder Mensch hat Pi mal Daumen fünf Grundwerte, die sein ganzes Handeln bestimmen. Zum Beispiel Respekt, Vertrauen, Kreativität. Es ist gut zu wissen, was einen antreibt. Wenn nämlich einer dieser Werte zu kurz kommt, wird man unzufrieden. Das passiert häufig bei Eltern, wenn ihnen Freiheit oder Selbstbestimmung wichtig ist, sie sich aber die ganze Zeit fremdbestimmt fühlen. Eine Zeit lang ist das völlig okay. Aber dann sollte man sich Raum für Selbstbestimmung und Freiheit geben, einen Abend mit Freunden zum Beispiel. Dann fühlt man sich nicht so schnell überfordert.
Judith Brückmann, Cord Neubersch: Immer funktionieren funktioniert halt nicht – Über die tägliche Überforderung und die Kunst, bei sich zu bleiben, KiWi, 314 S., 16 €
>>> Coach oder Psychotherapeut – wer hilft wann?
Judith Brückmann und Cord Neubersch möchten mit ihrem Buch und ihrem Podcast „Psycho trifft Coach“ auch über ihre Arbeit aufklären, wer wann hilft.
„Der Coach sollte zuerst angesteuert werden“, sagt Neubersch, nicht nur wegen der Wartelisten bei Therapeuten. Ein Coach könne punktuell und schnell helfen, bei beruflichen Entscheidungen, bei Kommunikations- und Beziehungsproblemen, in Krisen. Zum Psychotherapeuten gehen Menschen bei einer Diagnose: Panikattacke oder Depression. Die Krankenkasse ersetzt jedoch nicht die Kosten eines Coachings. Brückmann: „Jeder seriöse Coach bietet kostenlos ein unverbindliches Vorgespräch an.“