Essen. Klimawandel, Artenschutz, Ressourcenknappheit: Sozialpsychologe Harald Welzer hat einen Rat, wie wir diese Probleme auf einmal lösen können.
Der Buchtitel klingt, als wäre sein Verfasser sterbenskrank: „Nachruf auf mich selbst – Die Kultur des Aufhörens“. Doch was der renommierte Sozialpsychologe Harald Welzer (63) da formuliert, ist weder sein vorweggenommener Abschied von den Lebenden, noch die zeitige Ankündigung des Ruhestands. Es ist eine Anleitung dafür, wie wir persönliche und gesellschaftliche Herausforderungen konstruktiv bewältigen können. Im Zentrum steht dabei der Gedanke an die Endlichkeit. Das gilt sowohl für die Endlichkeit der Ressourcen und die Endlichkeit des Wirtschaftswachstums als auch für unsere ganz persönliche Endlichkeit. Dabei entwirft Welzer etwas, was man einen „Nachruf auf unsere Zukunft“ nennen könnte: Jeder (und auch unsere ganze Generation) sollte sich fragen, wie wir später, also vielleicht im Jahr 2500, von den dann Lebenden erinnert werden wollen. Wir sprachen mit Welzer darüber, wie wir das Ende der Welt vielleicht doch noch abwenden können – und darüber, wie er selbst knapp dem Tode entrann.
Herr Welzer, wie sind Sie zum Thema „Aufhören“ gekommen?
Welzer Ich habe schon länger vorgehabt, darüber zu nachzudenken, dass wir in unserer Kultur kein Konzept von „Endlichkeit“ haben. Der Erfolg unseres Kulturmodells seit der Aufklärung und Industrialisierung besteht ja darin, dass wir permanent Grenzen überschreiten oder weiter ausdehnen. Sei es in der Naturbeherrschung, sei es in der Gesundheit, sei es in der Wissenschaft. Das wird vielleicht am deutlichsten symbolisiert in den 60er-Jahren durch die Mondlandung. Es geht um permanente Grenzüberschreitung. Bei diesem Zentrum unserer Kultur hat die Idee keinen Platz, dass etwas tatsächlich eine Grenze hat, die man nicht mehr überschreiten kann. Sprich: dass die Dinge endlich sind.
Stellen wir uns vielleicht bewusst ein bisschen blind, wenn es um das Erkennen von Grenzen geht?
Das zeigt sich ganz deutlich dort, wo es um Wirtschaft geht. In jeder Fernsehdiskussion, in der Liberale anwesend sind. Wenn Sie da sagen „Es gibt Grenzen des Wachstums“, drehen die durch. In der Wirtschaft gibt es die Fahrrad-Theorie des Kapitalismus: Wenn man aufhört zu treten, kippt es um. Das Problem, das ich damit verbunden sehe: In dem Augenblick, wo wir mit Erderhitzung oder Artensterben zu tun haben, müssen wir mit deren Endlichkeit umgehen können. Aber wenn wir kein Konzept von Endlichkeit haben, können wir mit solchen Problemen nicht umgehen.
Sie selbst waren mit Ihrer Endlichkeit konfrontiert, als sie im vergangenen Jahr einen Herzinfarkt erlitten. Wie hat Sie das in Ihren Überlegungen beeinflusst?
Uns fehlt, was ich ein „vitales Konzept vom Tod“ nenne. Das ist der individuelle Niederschlag dessen, dass wir gesellschaftlich kein Konzept von Endlichkeit haben. Unsere Kultur tut alles dafür, dass das im Leben so gut wie nicht vorkommt. Mir ist aufgefallen, dass es selbst die Leichenwagen nicht mehr gibt. Es gibt stattdessen schwarze oder silberne Bullis, die von den Bestattern gefahren werden. Aber ich habe es eigentlich immer für einen Teil unserer Lebenswelt gehalten, dass so ein schwarzer Mercedes mit Ornamenten am Fenster vorfährt. Das gibt es anscheinend nicht mehr. Was auch für den Einzelnen die Tatsache, dass er oder sie sterben muss, zu etwas Unvorstellbarem macht. Sterben tun immer die anderen, aber nicht man selbst. Daher rührte meine große Überraschung, als ich selbst mit meinem Herzinfarkt konfrontiert gewesen bin.
Welche Lehren kann man aus so einem Grenzerlebnis ziehen?
Die Lehren sind eigentlich fast banal. Eine wichtige Kategorie in unserem Leben ist „Beziehung“, also dass die Menschen, die wir gut finden, uns auch gut finden. Am Lebensende sprechen die Menschen darüber, dass sie vielleicht ihren Sohn zu wenig beachtet haben. Aber dass man so etwas erst im ultimativen Moment reflektiert, muss nicht sein. Das kann man im Leben vorziehen, man kann sich fragen: Wer will ich gewesen sein? Ich kann die Dinge benennen, die mir wichtig sind. Ich kann quasi diesen Nachruf auf mich selber schreiben, einen Nachruf auf ein noch zu lebendes Leben. Dann habe ich etwas, woran ich mich orientieren kann.
Konkretisieren Sie das bitte noch einmal…
Praktisch übersetzt bedeuten diese Überlegungen: Wenn jemand eines Tages eine Grabrede über mich halten soll, was sollte darin stehen? Wenn ich dann überprüfe, ob ich alles tue, damit so ein Nachruf mal Wirklichkeit wird, kann ich sehen, ob mir das gelingt, oder ob ich mich davon entfernt habe.
Sie sprechen auch vom Wagenheber-Effekt, dass eine neue Generation immer auf dem aufbaut, was die Vorgänger-Generationen erreicht haben. Heißt das, wir sind heute gar nicht klüger als die Generation unserer Großeltern?
Natürlich sind wir heute nicht klüger als die Leute vor 100 Jahren, es wäre Blödsinn, das zu denken. Jedes neugeborene Wesen setzt schon in der Welt an, die seine Vorgänger geschaffen haben. Wir sind Kulturwesen. Diese Kulturen schaffen Werkzeuge, die unsere Lebensmöglichkeiten meistens verbessern. Das kann aber in die Hose gehen, wenn die Kultur ein Inventar bereitstellt, das gar nicht weiterführt. Dann sollte man damit aufhören – und einen neuen Pfad einschlagen.
Sie empfehlen, das Konzept, einen Nachruf auf eine noch zu lebende Zukunft zu schreiben, auch auf große Probleme wie Klimawandel, Artenschutz und die Endlichkeit der Ressourcen anzuwenden. Kann darin eine Lösung liegen?
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Das glaube ich schon. Wir haben ja gegenwärtig eine Phase, wo wir Wirtschaft nicht als Mittel, sondern als Zweck verstehen. Wirtschaft muss brummen. Und das tut sie nur, wenn sie wächst. Aber eigentlich hat die Wirtschaft eine dienende Funktion. Da muss sie auch wieder hinkommen. Am Ende geht es ja darum: Wie stellen wir das Erreichen bestimmter Werte und Normen sicher? Konkrete Beispiele: Wie können wir Menschenrechte einhalten? Wie können wir Ideale wie Gerechtigkeit verfolgen? Wie können wir Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen erreichen? Das sind die übergeordneten Ziele. Die kann ich mit bestimmten Formen von Wirtschaft besser oder schlechter erreichen. Wir sollten danach fragen, welche Form von Gesellschaft wir sein wollen.
Könnte eine Bewegung wie Fridays For Future dazu etwas beitragen?
Vor dem Zwangs-Stopp durch Corona musste man attestieren, dass es bisher keine soziale Bewegung gegeben hat, die so schnell so erfolgreich gewesen ist. Bei den Fridays For Future ging es unheimlich schnell, weil sie sich wahnsinnig gut organisiert haben und unglaublich gut argumentieren können – und damit auf die Straße gehen. Das ist faszinierend. Ich gehe davon aus, dass sie als Bewegung zumindest nicht verschwinden werden.
Was wären drei Dinge, mit denen wir am besten sofort aufhören?
Das erste ist ganz simpel: Man sollte ein Tempolimit einführen und mit dem Rasen aufhören. Wenn ich die Maxime habe, dass es auf jede 0,1 Grad Klimaerwärmung ankommt, dann ist das unumgänglich. Eine Maßnahme, die sofort wirkt – und kein Geld kostet. Das zweite: Man muss mit dem Verdrängen aufhören und Realitäten anerkennen. Wir haben mit dem Klimawandel kein Zukunfts-, sondern ein Gegenwartsproblem. Das dritte: Man muss mit dem Glauben ans Wachstum aufhören, denn Ökonomen und Wirtschaftsberater müssen einsehen, dass endloses Wachstum in einer endlichen Welt nicht möglich ist.
>>>„Ein Nachruf auf mich selbst“
Harald Welzer beschäftigt sich als Soziologe und Sozialpsychologe mit gesellschaftlichen Problemen und Entwicklungen – und war lange Jahre am kulturwissenschaftlichen Institut in Essen und der Privatuniversität Witten/Herdecke tätig. Sein Buch „Ein Nachruf auf mich selbst – Die Kultur des Aufhörens“ (S. Fischer, 288 Seiten, 22 €) liefert wichtige Denkanstöße für Politiker, Ökonomen und Aktivisten, wie man die großen Probleme unserer Zeit angehen kann.