Essen. 2009 wurde die Schuldenbremse ins Grundgesetz geschrieben. Gut ein Jahrzehnt spätegilt sie vielen als Zukunftsbremse. Aber ist das wirklich so?
Politik auf Pump – das war seit Mitte der 70er-Jahre Regierungsalltag in Deutschland. Die Regierungen Schmidt, Kohl, Schröder und Merkel häuften einen dermaßen hohen Schuldenberg an, dass Bund und Länder 2009 schließlich zum Äußersten griffen: Sie beschnitten sich selbst und schrieben mit Zwei-Drittel-Mehrheit eine Schuldenbremse ins Grundgesetz. Ein gutes Jahrzehnt später gilt dieser Artikel 109 den meisten Ökonomen als Zukunftsbremse. Zumal Deutschland derzeit Geld geschenkt bekommt, wenn es neue Kredite aufnimmt statt wie früher hohe Zinsen zu zahlen.
Auch interessant
Ist demnach der sparsame Haushälter heute der Dumme? In der möglichen Ampel-Koalition pocht die FDP auf die Rückkehr zur schwarzen Null. Wäre es nicht klüger, möglichst viel billiges Geld aufzunehmen, um die Zukunftsinvestitionen etwa in Klimaschutz, den Umbau der Industrie und die Infrastruktur finanzieren zu können?
Wie sie ihren prallen Wunschkorb denn finanzieren wollen, ist derzeit die häufigste Frage an SPD, Grüne und FDP. Dass der Staat viele Schienen, Straßen und Datenautobahnen bauen muss, ist Konsens unter der Ampel. Ebenso, dass Energiewende und Klimaschutz einen kräftigen Schub brauchen, also zuerst viel Geld kosten. Da die FDP Steuererhöhungen ausschließt und auch keine neuen Schulden aufnehmen will, stellt sich die Frage nach der Finanzierbarkeit von selbst.
Ökonomen halten die Bremse für überholt
Auch interessant
Dabei halten angesichts negativer Zinsen für deutsche Staatsanleihen inzwischen sowohl nachfrageorientierte als auch marktliberale Ökonomen die Schuldenbremse in ihrer starren Form für überholt. Sie steht im Grundgesetz und verbietet dem Bund, Kredite in Höhe von mehr als 0,35 Prozent des aktuellen Bruttoinlandsprodukts (BIP) aufzunehmen, derzeit wären das rund 12,5 Milliarden Euro. Die Länder dürfen gar keine Schulden machen. Für Krisenzeiten gelten Ausnahmen, was 2020 zur Abwehr der Corona-Folgen zu einer Rekordkreditaufnahme von 218 Milliarden Euro führte und noch bis 2022 höhere Schuldenaufnahme erlaubt.
Der Wunsch, schnell wieder einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, erklärt sich aus der verschwenderischen Vergangenheit des deutschen Fiskus. Doch anders als die im Grundgesetz verewigte Zahl haben sich in den vergangenen Jahren alle anderen Parameter grundlegend geändert. Um die Jahrtausendwende zahlte Deutschland vier bis fünf Prozent Zinsen auf seine Kredite, die laufenden Zinsen und Tilgungen raubten dem Staat Spielräume, die dieser sich mit immer neuen Schulden kurzfristig zurückholte – und den künftigen Generationen aufhalste.
Heute ist es umgekehrt: Deutschland erhält auch bei langjährigen Staatsanleihen mehr Geld als es zurückzahlen muss, die Zinsen sind durchweg negativ, sie betrugen in diesem Jahr bisher im Schnitt minus 0,55 Prozent. Von Januar bis August hat die Finanzagentur des Bundes nach Ministeriumsangaben mit der Ausgabe von Staatsanleihen rund 4,25 Milliarden Euro „verdient“.
Alle Investitionsvorhaben bequem finanzieren
„Aus rein ökonomischer Sicht wäre es selbstverständlich ratsam, die jetzige Marktkonstellation mit den ultra-niedrigen Zinsen zu nutzen, um sich jetzt am Kapitalmarkt großzügig Mittel mit möglichst langen Laufzeiten zu besorgen“, sagte Jens Südekum unserer Redaktion, Volkswirt an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er denkt an 30-jährige Bundesanleihen zu einem nominalen Zinssatz nahe null, „real also eher bei minus zwei Prozent“, so Südekum. Das Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums betont, dann „könnten alle Investitionsvorhaben der Ampel-Koalition in den Bereichen Digitalisierung und Klimaschutz bequem finanziert werden“.
Der reale Negativzins ergibt sich aus dem jährlichen Inflations-Ziel der EZB von zwei Prozent. Die Teuerung entwertet das Geld, das der Bund am Ende der Laufzeit zurückzahlen muss: Leiht er sich heute 10 Milliarden Euro für 30 Jahre, sind diese bei einer durchschnittlichen Inflation von zwei Prozent im Jahr 2051 im Vergleich zu heute nur noch gut die Hälfte wert – 5,52 Milliarden.
Damit stellt sich auch die Frage der Generationengerechtigkeit völlig neu: Waren hohe Kreditaufnahmen bei Sollzinsen über der Inflationsrate eine Hypothek für die jungen Generationen, könnten sie bei Negativzinsen Zukunftsprojekte anschieben, ohne dem Nachwuchs hohe Kreditlasten aufzubürden. „Eine Belastung kommender Generationen gäbe es nicht, im Gegenteil“, sagt Südekum.
Auch für Martin Beznoska, Experte für öffentliche Finanzen beim arbeitgebernahen Institut der Wirtschaft (IW Köln), hat sich mit der Nullzinspolitik der EZB das Argument der Generationengerechtigkeit gedreht: „Wenn wir den Investitionsstau in Deutschland mit günstigen Krediten jetzt auflösen, profitieren die künftigen Generationen davon.“
Für Beznoska steht fest: „Die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form ist zu restriktiv, sie lässt zu wenig Spielraum für die großen Herausforderungen, die Deutschland jetzt angehen muss. Sie müsste eigentlich reformiert werden.“ Er sieht Investitionen in die digitale und die Verkehrsinfrastruktur sowie in den Klimaschutz und die Dekarbonisierung der Industrie als entscheidende Weichenstellungen für die Zukunft. Und sagt: „Es wäre sträflich, das zu vernachlässigen, gerade weil die Investitionskosten durch die sehr niedrigen Zinsen derzeit so gering sind.“
FDP als Garant der schwarzen Null
Davor steht das Grundgesetz. Für eine Änderung der Schuldenbremse bräuchte es im Bundestag eine Zwei-Drittel-Mehrheit, also Stimmen aus der Union oder der AfD – beides eher unwahrscheinlich. Also braucht es Tricks und Phantasie, die festsitzende Schuldenbremse zu lockern, ohne sie anzufassen. Bei der Union war es Kanzlerkandidat Armin Laschet selbst, der bereits eine Idee dafür hatte: Ein aus Schulden gespeister Zukunftsfonds, der außerhalb des Bundeshaushalts gefüllt wird, sprich ohne die dafür geltende Schuldenbremse.
Das zahlte bereits in eine lange Zeit als wahrscheinlichste Konstellation geltende schwarz-grüne Koalition ein. Denn auch die Grünen wollen Investitionen insbesondere in die Energiewende und den Klimaschutz, aber auch die dafür notwendige Infrastruktur vom Schuldenverbot ausnehmen. Nun aber verhandeln die Grünen mit SPD und FDP über eine Koalition, und die Liberalen geben sich bisher als Garant für die Rückkehr zur schwarzen Null. Eingedenk ihres Wahlprogramms mit Steuersenkungen von 80 Milliarden Euro bei gleichzeitigem Festhalten an der Schuldenbremse eine interessante Volte.
An Vorschlägen aus der Wissenschaft mangelt es nicht. Das IW etwa hält die Schuldenbremse grundsätzlich für sinnvoll und rät mittelfristig dazu, es mit der Neuverschuldung nicht zu übertreiben. Das Institut schlägt daher vor, „jährlich bis zu 50 Milliarden Euro in eine Investitionsgesellschaft“ zu stecken. Diese solle dann zwar dem Bund gehören, das Geld aber eigenständig verteilen können, sprich vor dem direkten Zugriff der jeweiligen Regierung geschützt sein. Nur so sei sichergestellt, dass dieses Geld wachstums- und zukunftsorientiert ausgegeben werde und nicht zum Stopfen aktueller Haushaltslöcher.
„Man könnte im Jahr 2022 einen kräftigen Schluck aus der Pulle nehmen, denn da ist die Schuldenbremse wegen Corona noch ausgesetzt“, sagt der Düsseldorfer Volkswirt Südekum, „oder man lagert die Verschuldung auf öffentliche Unternehmen aus, die bei der Schuldenbremse nicht berücksichtigt werden.“ Was er davon hielte? „Dies sind alles gangbare, aber juristisch heikle Wege. Wenn wir ehrlich wären, würden wir das Grundgesetz ändern und die Schuldenbremse reformieren.“
Hohe Renditen aus Zukunftsinvestitionen
Beide Wirtschaftswissenschaftler betonen, von den schuldenfinanzierten Zukunftsinvestitionen selbst hohe Renditen zu erwarten – sprich mehr Steuereinnahmen durch zusätzliches Wachstum etwa im Ökostromsektor und in der Digitalwirtschaft. „Je höher das Wachstum, desto weniger Gewicht haben die Schulden“, sagt Beznoska. Langfristig solle die Schuldenquote von aktuell über 70 Prozent des BIP wieder „in Richtung 60 Prozent“ gedrückt werden, rät er. Das gehe auch mit neuen Krediten, wenn die Wirtschaft schneller wächst als der Schuldenstand.
Dafür, dass Investitionen in Klimaschutz und Infrastruktur sich für den Staat rentieren, gibt es keine Garantien, aber viele Modellrechnungen. In diesem Jahr füllt die Bundesregierung den Energie- und Klimafonds mit 27 Milliarden Euro. Die Beratungsfirma McKinsey hat hochgerechnet, dass Deutschland eine Billion Euro zusätzlich investieren müsste, um bis 2045 klimaneutral zu werden, das wären durchschnittlich 40 Milliarden Euro mehr pro Jahr. Bis sich das auszahlt, werde es dauern: McKinsey sieht den Wendepunkt im Jahr 2038, von da an werde das Wachstum sich beschleunigen – und das BIP bis 2070 um 2,5 Prozent größer sein als ohne aktive Klimapolitik, prognostiziert McKinsey. Im Vergleich zum Nichtstun entstünden 830.000 zusätzliche Arbeitsplätze.
Geringer Temperaturanstieg, weniger Kosten
Groß wären auch die gegenüber einem ungebremsten Klimawandel gesparten Folgekosten. Allein die Rückversicherer zahlen schon heute weltweit rund 200 Milliarden Dollar jährlich für klimabedingte Schäden, sie erwarten einen Anstieg zwischen 35 und 50 Prozent bis 2050. Eine Erderwärmung um 2,5 Grad statt 1,5 Grad würde laut OECD die Bruttoinlandsprodukte im globalen Durchschnitt um jährlich 0,4 Prozent drücken, in Deutschland wären das aktuell rund 15 Milliarden Euro, die der Finanzminister sparen könnte. Das liegt in der Mitte verschiedener Prognosen für Deutschland.
Nicht einberechnet sind zu sparende Ausgaben für die Klimaanpassung. Hochwasserschutz, Dürreentschädigungen, Dämmung privater und öffentlicher Gebäude bis hin zu einer flächendeckenden Klimatisierung etwa der Klassenräume und Krankenhauszimmer wird etliche Milliarden verschlingen – je geringer der Temperaturanstieg, desto weniger.
Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung. Jetzt gratis unverbindlich testlesen - hier geht’s zum Angebot:GENAU MEIN SONNTAG