Essen. Lebensberater Martin Wehrle schreibt in seinem Buch „Den Netten beißen die Hunde“, wie man seine Nettigkeit so dosiert, dass man glücklich wird.
Wer selbst ein netter Mensch ist, der denkt oft: Jeder mag nette Menschen! Dabei ist das ein weit verbreiteter, manchmal sogar fataler Irrtum. Denn oft werden nette Menschen nicht für voll genommen – oder gar als leichte Opfer angesehen, weil sie niemals Nein sagen und sich verbiegen, um anderen Menschen entgegenzukommen.
Der Lebenscoach Martin Wehrle (51) hat nun ein Buch geschrieben, das vielen Menschen die Auge öffnen dürfte: „Den Netten beißen die Hunde“ heißt der Ratgeber, der viele Gründe aufzählt, warum bedingungslos nette Menschen oft sogar als unsympathisch angesehen werden – und bei der Karriere scheitern. Wir sprachen mit ihm darüber, warum man dringend lernen sollte, seine Nettigkeit bewusst zu dosieren – und warum er mit dieser Forderung trotzdem keine Ellenbogen-Gesellschaft fördern will.
Herr Wehrle, sind Sie selbst zu nett? Oder wie sind Sie auf das Thema gekommen?
Martin Wehrle: Ich bin von Haus aus ein sehr sozialer Mensch. Und es gab ein paar Erlebnisse in meinem Leben, da habe ich gemerkt: Es ist von Vorteil, wenn ich die Nettigkeit in bestimmten Situationen dosiere. Als Karriereberater beobachte ich ganz häufig, dass nette Menschen bei Beförderungen nicht zum Zuge kommen. Man sagt ihnen dann: In dieser Position müssen sie sich auch durchsetzen können! Ich habe auch beobachtet, dass nette Menschen geringere Gehaltserhöhungen bekommen, weil sie einfach zu freundlich sind, ihre Führungskraft in Verlegenheit zu bringen.
Gilt das auch auf den privaten Bereich?
Natürlich. Ich höre oft: Ich tue alles Mögliche für andere. Ich helfe beim Umzug. Ich höre zu, wenn sie seelischen Kummer haben. Aber wenn ich mal was habe, stehe ich ganz oft alleine da. Daran habe ich gemerkt, dass viele Menschen im emotionalen Minus sind, nette Menschen, die es nicht verdient haben. Darum dachte ich: Denen muss ich ein paar Dinge weitersagen, die ich in mein Leben integriert habe.
Sie beschreiben, dass Ihre Nettigkeit Sie fast einmal das Leben gekostet hätte. Wie das?
Ich habe im Urlaub eine Mail von einer Klientin bekommen, die große Stücke auf mich hielt. Eigentlich reagiere ich im Urlaub nicht auf geschäftliche Mails. Aber dann kam dieser Hilferuf von ihr, es ging um ein Jobangebot, sie musste sich schnell entscheiden. Da habe ich entgegen meiner ursprünglichen Entscheidung einen Telefontermin zugesagt. Kurz vor dem Termin habe ich mich beim Abwaschen mit einem kaputten Kuchenteller fürchterlich in den Finger geschnitten. Es blutete wie verrückt. Mir war klar: Ich müsste eigentlich ins Krankenhaus, ein Handtuch war sofort vollgeblutet. Aber ich dachte: Du kannst die Klientin jetzt nicht hängen lassen. Also habe ich gewartet, gewartet, gewartet – und geblutet. Und sie rief nicht an! Erst viel zu spät habe ich in meine Mails geschaut, wo sie mir schrieb: „Meinem Kind geht es gerade ganz schlecht, deshalb muss ich den Termin leider verschieben.“
Haben Sie sich sehr geärgert?
Ja klar, im ersten Moment schon. Der Arzt im Krankenhaus hat mich richtig gescholten. Er hat gesagt: „Warum sind Sie nicht früher gekommen? Sie hätten ja durchaus verbluten können mit so einer Wunde!“ Nach meinem Ärger wurde mir aber sofort klar: Die Klientin hat sich absolut richtig verhalten, weil sie ihre Bedürfnisse und die ihres Kindes ernst nimmt. Und ich habe mich falsch verhalten, weil ich meine Bedürfnisse hinter ihre gestellt habe. Das war mir eine Lektion, die ich nie wieder vergessen habe.
Aber immerhin sind nette Menschen doch besonders beliebt…
Eben nicht. Es gibt eine Studie von der Washington State University, die besagt: Nette Menschen in Gruppen sind erstaunlich unbeliebt. Ein Grund dafür: Die weniger Netten fühlen sich unter Druck gesetzt. Also, wenn ich in der Schlange im Supermarkt jemanden vorlasse, dann geraten die anderen unter Druck, es auch zu tun. Eine zweite interessante Beobachtung: Die weniger Netten vermuten hinter der Nettigkeit irgendwelche verdeckten Absichten. Wenn jemand nett ist und jede Überstunde mitmacht, dann denken die nicht: Das ist aber ein freundlicher Mensch, der hier für seinen Chef in die Bresche springt. Sondern die sagen: Guck mal, der schleimt sich beim Chef ein, der will unbedingt eine Beförderung. Das heißt, die Nettigkeit wird oft negativ interpretiert. Und darum muss sie gerade in geschäftlichen Situationen dosiert sein.
Was sind Mittel, um sich aus der Nettigkeitsfalle herauszubringen?
Punkt eins: Ich muss mich selber respektieren. Dann strahlt das nach außen. Und Punkt zwei: Grenzen setzen. Ich muss dem anderen ganz genau sagen, wie weit er gehen darf und wo meine Grenze ist. Ich sollte dem Nachbarn, der zu nachtschlafender Zeit regelmäßig mit der Bohrmaschine oder dem Laubbläser Lärm macht und mich aus dem Bett jagt, das auch deutlich sagen – und ihm Grenzen aufzeigen. Zudem sollte man lernen, in den richtigen Momenten Nein zu sagen. Was auch sehr wichtig ist in jedem Miteinander: Ich sollte immer darauf achten, ob es ein gesundes Geben und Nehmen ist. Also wenn ich für Kollegen oder Lebenspartner was mache, ist das total in Ordnung. Wenn die Kollegen oder Lebenspartner dann bei der nächsten Gelegenheit auch etwas für mich tun, dann ist das gesundes Geben und Nehmen.
Wie kann man praktisch seine Nettigkeit dosieren und bewerten?
Ich lade dazu ein, ein Tagebuch zu führen. Schreiben Sie jeden Abend eine Situation zum Thema Nettigkeit auf, in der Sie finden, sich zu nett verhalten zu haben, und denken Sie, wie Sie sich gern anders verhalten würden. Etwa so: Heute habe ich dem Wunsch meiner Mutter zugestimmt, für sie einzukaufen, obwohl ich eigentlich keine Zeit hatte. Falls sie morgen noch mal fragt, werde ich sagen: In zwei Tagen gehe ich ohnehin einkaufen, dann bringe ich was mit. Wenn ich das ganz konkret mache, habe ich auch ganz konkrete Ziele. Diese kleinen Schritte führen wirklich zu einer Weiterentwicklung. Sie führen dazu, dass ich mich dann stimmiger verhalte und einfach auch zufrieden mit mir selber bin.
Brauchen wir nicht eigentlich mehr Nettigkeit in der Gesellschaft und nicht weniger?
Ich sage ganz bewusst nicht: Seid nicht mehr nett und fahrt die Ellenbogen aus. Wir haben nämlich genug Leute mit harten Ellenbogen, davon brauchen wir nicht noch mehr. Aber ich sage: Überlege gut, zu wem du nett bist und in welcher Situation. Denn wenn die Nettigkeit dir selber schadet, dann ist sie einfach nur schlecht – das ist dann eine ungesunde Nettigkeit.