Essen. Hohe Wangenknochen, Schmollmund: Alte Schönheitsideale werden durch neue ersetzt, so das Buch The New Beauty. Was Models und Experten dazu sagen.

Sie lächeln uns von Plakaten an und laufen fröhlich durch Werbespots: Androgyne Wesen mit Schnurrbart und Lidschatten, hippe Greise mit langen, weißen Bärten, junge Frauen mit Kurven, Drag Queens und Frauen checkig getupft mit Pigmentflecken. All sie gehören heute ganz selbstverständlich zu dem, was man als schön betrachtet. Schön bunt, schön anders. Was hätte man dazu wohl gesagt, als noch Topmodels wie Claudia Schiffer, Naomi Campbell oder Cindy Crawford die Standard-Gussform für weibliche Schönheit lieferten?

Im frisch erschienenen Bildband „The New Beauty“ bringt uns die New-York-Times-Autorin Kari Molvar auf den aktuellen Stand der Schönheitsideale – nicht ohne einen tiefen Blick in die Jahrtausende zu werfen, als noch Fruchtbarkeit und Versorgerqualitäten die alles bestimmenden Faktoren dessen waren, was als attraktiv galt. Und Molvar zieht als Kronzeugin eine Pulitzerpreis-dekorierte Kollegin zu Rat. Robin Givhan schrieb in einem Essay fürs Magazin „National Geographic“: „Die Schönheitsideale haben sich in den vergangenen zehn Jahren stärker verändert als in den 100 Jahren zuvor.“ Starke These! Aber:

Stimmt die These von der schnellen Veränderung der Schönheitsideale?

„Ich würde das nicht so unterschreiben“, zeigt sich Änne Söll (51) skeptisch. Sie ist Professorin für Kunstgeschichte mit Schwerpunkt Kultur- und Geschlechtergeschichte an der Ruhruni Bochum.

Schön divers, so geht Werbung heute: Drei Models mit unterschiedlichen Körpern posieren für die komfortable Wäsche der Firma Aisle (l.) - aus dem Buch „The New Beauty“.
Schön divers, so geht Werbung heute: Drei Models mit unterschiedlichen Körpern posieren für die komfortable Wäsche der Firma Aisle (l.) - aus dem Buch „The New Beauty“. © Gestalten Verlag | Lindsay Elliott

„Es gab in unterschiedlichen historischen Momenten starke Veränderungen im Schönheitsideal für Frauen und für Männer. Wenn man sich überlegt, dass die Männer etwa durch die französische Revolution und die Verbürgerlichung der Gesellschaften eine große Transformation durchgemacht haben, dass das adelige Schönheitsideal für die Männer in den Hintergrund und das nüchterne, bürgerliche Ideal in den Vordergrund tritt, ist das ein großer Unterschied. Es ist etwas verblendet, zu glauben, dass was man in den letzten zehn Jahren erlebt hat, eine besonders große Umwälzung ist. Man braucht ein größeres Geschichtsbewusstsein, um solche Veränderungen einschätzen zu können.“

Geschlechterdiskurs, LGBTQ, Black Lives Matter, alle haben Einfluss

Andererseits zeigt Söll auch Verständnis für diese „gefühlte Wahrheit“. „Durch die Geschlechterdiskurse, die Diskussion um LGBTQ und die ,Black Lives Matter‘-Initiative ist das Schönheitsideal in Bewegung geraten.“

Das Schönheitsideal ist immer ein Spiegel der Gesellschaft, so ist es kein Wunder, dass es bunter und vielfältiger geworden ist. Söll: „Wir haben eine lange Geschichte als Migrationsland, gerade im Ruhrgebiet, mit den Polen, Tschechen, Italienern und Türken. Und dadurch auch eine Form von unterschiedlichen Schönheitsidealen, die Teil der Gesellschaft geworden sind.“

Schön mit Zöpfen: Jeremy Rodney-Hall und Josef Amadu haben Frauen mit afrikanischen Wurzeln porträtiert, die ihre Haare traditionell geflochten haben - aus „The New Beauty“.
Schön mit Zöpfen: Jeremy Rodney-Hall und Josef Amadu haben Frauen mit afrikanischen Wurzeln porträtiert, die ihre Haare traditionell geflochten haben - aus „The New Beauty“. © Gestalten Verlag | Lensdude

Heute sieht man Plus-Size-Models, Männer müssen nicht mehr Kerl, Frauen nicht Vollweib sein: „Das Schlankheitsideal, das sich Anfang der 70er-Jahre durchgesetzt hat, ist definitiv vorbei. Das sieht man auch in der Werbung. Da gibt es die unterschiedlichsten Körper… Die Zwischentöne werden attraktiv, diese ambivalenten Körper, bei denen man sich schlecht entscheiden kann, ob sie männlich oder weiblich sind. Diese Unentschiedenheit ist für immer mehr junge Menschen wichtig. Es gibt immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene, die nicht auf ein Geschlecht festgelegt werden wollen“, sagt Söll.

Eine Model-Agentur für die „Besonderen Gesichter“

Einer, der in seinem Alltag ständig mit den unterschiedlichen Typen konfrontiert ist, ist Andreas Donat (40) aus Lüdenscheid. Er leitet mit seinem Kollegen Giuseppe Gennaro die Model-Agentur „Fame On Me“, die auch in Köln vertreten ist und etwa 150.000 Models in ihrem Portfolio führt. „Bei uns landen oft Kunden, wenn nicht die klassischen 90-60-90-Models gesucht werden. Wir haben einen sehr starken Fokus auf besondere Gesichter, auf Handicap-Models, People Of Colour, auf Asiaten, Tattoo-Models – Menschen, die nicht bei jeder klassischen Model-Agentur vertreten sind“, erzählt er.

Marlon Mosby aus Mülheim: „Es ist egal, was die Menschen über mich denken, ich denke etwas Positives über mich selbst.“
Marlon Mosby aus Mülheim: „Es ist egal, was die Menschen über mich denken, ich denke etwas Positives über mich selbst.“ © Unbekannt | Kasper Fuglsang

Menschen halt wie Marlon Morsby (32). Der Jamaikaner, der seit vier Jahren in Mülheim an der Ruhr lebt, hat Albinismus, seine Haut ist hell mit ein paar dunkleren Sprengseln, seine Haare sind blond. „In meiner Heimat habe ich viel Diskriminierung erfahren. Aber trotzdem habe ich viel Selbstbewusstsein entwickelt. Ich habe gedacht: Es ist egal, was die Menschen über mich denken, ich denke etwas Positives über mich selbst. Seit ich hier angekommen bin, habe ich gemerkt, dass die Menschen immer gucken, denn wie ich aussehe, ist für viele Menschen nicht normal“, sagt er. Er machte aus seiner Besonderheit eine Stärke, mittlerweile hat er etwa in einem VW-Werbespot und mehreren Musikvideos mitgespielt.

Umwerfendes Aussehen und Ausstrahlung trotz Glatze

Model Leonie Brachthäuser (25) aus Lennestadt: „Tatsächlich war ich früher eher so ein Mauerblümchen. Und das hat mich jetzt viel stärker gemacht und selbstbewusster.“
Model Leonie Brachthäuser (25) aus Lennestadt: „Tatsächlich war ich früher eher so ein Mauerblümchen. Und das hat mich jetzt viel stärker gemacht und selbstbewusster.“ © Anna Frey | Anna Frey

Eine anderes Model von „Fame On Me“ hätte vielleicht vor Jahren trotz ihres guten Aussehens und ihrer positiven Ausstrahlung noch nicht so große Chancen gehabt: Leonie Brachthäuser (25) aus Lennestadt hat Alopezie – oder um es schlichter zu sagen: eine Glatze, zu der sie steht. „Ich habe schon früher gerne Fotos mit Freundinnen gemacht. Und dann habe ich Alopezia bekommen. Das habe ich jetzt seit vier Jahren. Ich wollte mich nicht verstecken und hab dann weiter auch immer mal wieder ein paar Bilder gemacht. Erst haben Fotografen auf Instagram mich angeschrieben – und so bin ich zum Modeln gekommen“, berichtet sie. Und die Glatze gehört einfach zu ihr: „Am Anfang sind mir noch die Blicke aufgefallen, aber mittlerweile fallen die mir gar nicht mehr auf. Tatsächlich war ich früher eher so ein Mauerblümchen. Und das hat mich jetzt viel stärker gemacht und selbstbewusster. Tatsächlich hat mir die Glatze nur Positives gebracht“, sagt sie und lacht.

Vom Rentner zum Best-Ager-Model

Peter Fischer (69) aus Zülpich: „Ab 65 wird es schon schwer. Aber durch meinen weißen Schnäuzer habe ich nun ein Markenzeichen.“
Peter Fischer (69) aus Zülpich: „Ab 65 wird es schon schwer. Aber durch meinen weißen Schnäuzer habe ich nun ein Markenzeichen.“ © Unbekannt | Nadine Michels

Auch das Alter ist heute kein Grund mehr, sich nicht vor die Kamera zu wagen. Peter Fischer (69) aus Zülpich etwa hat lange als Komparse für Filme gearbeitet, bis die Lüdenscheider Castingagentur ihn zum Best-Ager-Model machte: „Und wie der Deubel es will hat mich direkt das Bootshaus Köln gebucht“, sagt der fröhliche Rheinländer, der als „Social Peter“ für die Disko die Social-Media-Anfragen der Tanzwütigen beantwortet – im Videopodcast. „Ab 65 wird es schon schwer. Aber durch meinen weißen Schnäuzer habe ich nun ein Markenzeichen.“

Andreas Donat von „Fame On Me“ ist sehr zufrieden mit seinem vielfältigen Model-Angebot, das auch spezielle Anfragen bedienen kann. „In der Werbung ist es so, dass Firmen wie Puma und Adidas mittlerweile auch ein Handicap-Model dabei haben wollen, um zu zeigen: Wir legen wert auf Authentizität und Diversität. Bei manchen Fernsehformaten ist es heute oft sogar ein ,Must have‘.“

Selbst Germany’s Next Topmodel hat die Diversität entdeckt

Dem stimmt auch Kunsthistorikerin Änne Söll zu: „Die letzte Staffel von Germany’s Next Topmodel könnte man als Diversitäts-Staffel bezeichnen. Sogar dieses Format kann das krasse, alte und stark normierende Schönheitsideal nicht mehr durchhalten.“

Schönes Cover, schöner Band: The New Beauty.
Schönes Cover, schöner Band: The New Beauty. © Unbekannt | Gestalten Verlag

Natürlich kann man auch beobachten, dass diese Toleranz nicht überall auf Gegenliebe stößt, wie man derzeit in einigen osteuropäischen Nachbarländern beobachten kann, wo sich große Teile der Bevölkerung durch das diversere Schönheits- und Geschlechterbild verunsichert fühlen im eigenen Selbstverständnis. Da ist noch eine gute Strecke zu machen, wie Kari Molvar in „The New Beauty“ hinsichtlich der Diversität zitiert: „Wir befinden uns in einer besseren Position als eine Generation zuvor, aber in Utopia angekommen sind wir noch nicht.“

Kari Molvar: „The New Beauty“, Gestalten-Verlag, 288 S., engl., 39,95 €. Interessierte Models können sich bei „Fame On Me“ bewerben: casting.de