Essen. Andrea Gerk und Moni Port finden in „Ich bin da mal raus“ ihre „Ideen gegen den Optimierungswahn“. Ein herrliches Buch für alle, die Muße suchen.
Der Mensch ist eine Baustelle. Er denkt nur nicht ständig daran, vielleicht weil er fürchtet, nie so richtig fertig mit der Komplettsanierung zu werden. Doch keine Sorge: Es gibt ja schon genügend andere Menschen, ja sogar ganze Industrien, die Abhilfe versprechen. Und die den Menschen möglichst regelmäßig mit der Nase darauf stoßen, dass irgendetwas im Leben vermeintlich kaputt, unzulänglich oder schlicht unnormal ist. Er ist zu dick, zu faul, zu faltig; zu chaotisch, undiszipliniert, ja, wen wundert’s bei all den Defiziten, auch zu unentspannt… Und damit hat man noch nicht einmal angefangen, all das aufzuzählen, was es möglichst sofort zu verbessern gilt.
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ur wenige Trends haben in den letzten Jahren so viele Blüten getrieben wie die Optimierungsindustrie. Da sind die vielen Ratgeber zu den leidigen Themen Fitness und Diät, da ist der notorische Aufräum-Quälgeist Marie Kondo oder die allgegenwärtige Schönheitsindustrie, die einem das frisch von Bauch und Oberschenkel abgesaugte Fett am liebsten gleich an Gesicht und Po wieder unterspritzen möchte.
Jeder meint, er bräuchte ein Projekt
Wie gut tut es da, ein Büchlein wie dieses in die Hände zu bekommen, das eine Lanze bricht für all jene, die sich langsam etwas überfordert fühlen von all dem „Könnte, Sollte, Müsste“. Und das nicht nur federleicht und amüsant geschrieben, sondern auch augenschmeichelnd illustriert ist – und nicht so dick, dass man es gleich auf den „Lese ich später“-Stapel schieben möchte. Es heißt „Ich bin da mal raus: Ideen gegen den Optimierungswahn“. Die in Essen geborene Radiomoderatorin Andrea Gerk (53) hat gemeinsam mit der Illustratorin Moni Port (52) zusammengetragen, in welche Ecken und Nischen das Lebenstuning heute vorgedrungen ist – und das nicht erst in den vergangenen zwölf Monaten, seit wir vermeintlich alle so viel Zeit haben.
Denn klar, als damals der erste Lockdown kam, wähnten sich plötzlich viele im puren Zeitüberfluss – und kaum einer sagte: Jetzt kann ich Beine und Seele baumeln lassen. Jeder hatte plötzlich ein Projekt: Keller und Abstellkammer ausmisten, Schlafzimmer kacheln und die Küche rüber ins Wohnzimmer verlegen – und umgekehrt. Endlich Kiswahili per Videokurs lernen, mal wieder Cembalo spielen oder Nasenflöte – und am besten 100 Meter in unter 12 Sekunden laufen.
Produktives Aufschieben von unangenehmen Arbeiten
„In einigen Stadtvierteln von Berlin, etwa am Prenzlauer Berg, standen damals jeden Morgen wahnsinnig viele Kisten mit noch total hochwertigen Klamotten, Schuhen und Sachen herum. Die Leute haben wahnsinnig entrümpelt, und andere konnten sich da bedienen. Ich möchte mal gerne in diverse Wohnungen gucken, ob das jetzt wirklich da so tipptopp aussieht. Und es gab ja kilometerlange Schlangen an den Recyclinghöfen. Dagegen ist ja nichts zu sagen. Ich würde auch gerne mal meine Abstellkammer aufräumen. Ich habe leider nie Zeit dazu“, sagt uns Andrea Gerk am Telefon – und fast möchte man empört einwenden: „Was? Immerhin hatten Sie Zeit, ein ganzes Buch zu schreiben!“
Aber das ist ein Problem aus einer Schublade namens Prokrastination, also jenes Phänomens, das „ein nicht zeitmangelbedingtes, aber umso qualvolleres Aufschieben dringlicher Arbeiten in Verbindung mit manischer Selbstablenkung, und zwar unter Inkaufnahme absehbarer und gewichtiger Nachteile“ (Max Goldt) umfasst. Oder wie Gerk im Buch gesteht: „Ich selbst schreibe viel lieber diesen Text, als endlich die unverständlichen Formulare auszufüllen, die seit Wochen meinen halben Schreibtisch blockieren.“
Was sagt ein leerer Schreibtisch über den Menschen aus, der ihn benutzt?
Das mit dem Schreibtisch ist ein altes Problem in vielen Büros und neuerdings auch Homeoffices. Aufgeräumt und sauber sollte er sein – und auch gegen dieses Mantra moderner Büro-Ästhetik spricht Gerk sich aus und führt einen intellektuell unzweifelhaften Mitstreiter ins Feld: „Wenn ein unordentlicher Schreibtisch einen unordentlichen Geist repräsentiert, was sagt dann ein leerer Schreibtisch über den Menschen aus, der ihn benutzt?“ Der das gesagt hat, war Albert Einstein, der mit seinen Theorien zwar unseren Kosmos und die Vorstellungen von Raum und Zeit geordnet hat, aber offenbar vor dem eigenen Schreibtisch kapitulieren musste.
Die Idee zum Buch entstand, als Moni Port sich tatsächlich an Marie Kondos Aufräum-Philosophie stieß. Das Kondo-Geschäftsmodell passte zu gut zu all den wuchernden Ratgebern, die vorgeben zu wissen, wie man sein Leben optimiert.
Antwort auf das ständige Bimme-limme-limm der Tracker? Nichts tun!
Der Stress ist ja heute auch gewaltig: Bimme-limme-limm, hier spricht der elektronische Terminkalender, in 15 Minuten beginnt die nächste Besprechung. Bimme-limme-limm, hier ist die Fitness-Watch, Dir fehlen heute noch 3000 Schritte. Bimme-limme-limm, die To-do-Liste hat noch fünf unerledigte… Ein gutes Beispiel für solch digitalen Druck liefert derzeit die Amerikanerin Jenny Odell, die beschreibt, wie sich junge Menschen den sozialen Medien beugen, in denen ständig gefordert wird, das Leben zu optimieren. Titel ihres Büchleins: „Nichts tun“ – kein Wunder, dass es auf dem Weg zum Bestseller ist.
Den Digitaltrend kann Andrea Gerk derzeit in der eigenen Familie beobachten, ausgerechnet ihre Tochter hat sich gerade einen Fitness-Tracker zugelegt – und Muttis Einwand „Ich habe doch gerade ein Buch geschrieben über diesen Quatsch“ dringt zu einer Elfjährigen eben nicht so richtig durch, weil die sich eben eher an Youtubern und anderen Influencern orientiert. Vielleicht hätte Gerk ja einfach ein Video dazu hochladen sollen…
Stromlinienförmig wie Maschinen
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Vielleicht muss man auch nur älter werden, um Gerks Plädoyer für die Unvollkommenheit zu schätzen zu wissen: „Warum wollen wir glatt und stromlinienförmig wie Maschinen sein und bewundern zugleich niemanden mehr als all die exzentrischen Künstler, Abenteurer, Erfinder und Popstars, zu deren Hits wir nie die Nächte durchgetanzt hätten, wenn sie damals regelmäßig ihre Abstellkammer aufgeräumt hätten und jeden Abend pünktlich um 23 Uhr ins Bett gegangen wären?“, schreibt sie. Sie sei umgeben von lauter seltsamen, kauzigen Personen, die Popstars und Schauspieler hätten nie etwas Großes geschaffen, wenn sie ihr Leben nach einem Fitness-Tracker ausgerichtet hätten.
Einfach mal eine Not-to-do-Liste führen
Und sie kommt im Buch zu einem anderen, charmanten Schluss: „In Wahrheit gibt es nichts Langweiligeres als den durchtrainierten, glattgebürsteten, rotwangigen Erfolgsmenschen, der sein Leben mit sämtlichen Selbstoptimierungsstrategien auf Vordermann gebracht hat.“
Ohne den vielen Ideen vorgreifen zu wollen, wie man zu einer Wiederentdeckung der Langsamkeit kommen kann, seien hier ein paar der Stichpunkte verraten: Das Handy ignorieren, eine Not-to-do-Liste führen, die Post ungeöffnet lassen, sich für die eigenen Fehler feiern – oder bis mittags im Bett liegen bleiben. Auch für diese Tätigkeit fand sie prominente Schützenhilfe, bei Marcel Proust am Beginn seiner „Entdeckung der verlorenen Zeit“: „Zärtlich drückte ich meine Wange an die schönen Wangen des Kopfkissens, die in ihrer Fülle und Kühle wie die Wangen unserer Kindheit sind.“ Auch mit so viel bettschwerer Poesie kann man sich erfolgreich den selbstauferlegten Zwängen unserer Zeit entziehen...
Andrea Gerk und Moni Port: „Ich bin da mal raus: Ideen gegen den Optimierungswahn“ Kein & Aber, 288 Seiten, 15 Euro (erscheint am 6. April)