Unna. Sozialwissenschaften droht das Aus an den Schulen. Das neue Fach: Wirtschaft-Politik. Sowi-Lehrer warnen vor den Folgen.

Das Schulfach Sozialwissenschaften ist in Gefahr, ganz vom Stundenplan in NRW zu verschwinden. Viele Eltern verstehen die Aufregung nicht. Sie begrüßen, dass mit dem neuen Fach „Wirtschaft-Politik“ die Ökonomie angeblich mehr in den Fokus rückt, damit aus den Kindern später auf dem Arbeitsmarkt etwas wird. Aber welche Folgen hätte es für junge Menschen, für die Gesellschaft, wenn es Sozialwissenschaften an den Schulen nicht mehr gäbe?

Die drei Säulen der Sozialwissenschaften an den Schulen: Wirtschaft, Politik und Soziologie.
Die drei Säulen der Sozialwissenschaften an den Schulen: Wirtschaft, Politik und Soziologie. © funkegrafik nrw | Anda Sinn

Redakteurin Maren Schürmann sprach mit ihrem ehemaligen Lehrer Jürgen Mohr (72), der vor über 25 Jahren den ersten Leistungskurs Sozialwissenschaften am Geschwister-Scholl-Gymnasium in Unna unterrichtet hat. Heute lehrt dort Mirja Logemann (42) das Fach in der Oberstufe. Aber wie lange noch?

Als das NRW-Schulministerium kürzlich verkündete, Sozialwissenschaften-Lehrer bräuchten eine Zusatzqualifikation, um das neue Fach „Wirtschaft-Politik“ unterrichten zu können, war der Aufschrei bei Lehrerverbänden und Universitäten groß. Was haben Sie über diesen Ansatz gedacht, Herr Mohr?

Jürgen Mohr Man hat das ja wieder zurückgenommen. Aber dass es überhaupt in Erwägung gezogen wurde, dass die Lehrkräfte mit der Befähigung Sozialwissenschaften noch eine Zusatzqualifikation für das neue Fach brauchen, ist hanebüchen. Das Fach Sozialwissenschaften ist viel breiter aufgestellt. Es besteht aus den drei Säulen Ökonomie, Politik und Soziologie.

Wirtschaftsthemen haben Sie schließlich schon immer gelehrt?

Jürgen Mohr Richtig. Nicht nur in der Oberstufe im Fach Sozialwissenschaften. Auch in der Sekundarstufe 1 wurde das unterrichtet. Da hieß das Fach Politik, aber eigentlich waren die Inhalte identisch mit den Bereichen, die das Fach Sozialwissenschaften abgedeckt hat.

Mirja Logemann Meiner Meinung nach ist das vor allem eine Wahlkampf-Idee der FDP, die mit dem Fach Wirtschaft geworben hat, ohne zu wissen, dass wirtschaftliche Aspekte im Fach Politik in der Mittelstufe oder im Fach Sozialwissenschaften in der Oberstufe schon deutlich vertreten sind.

Trotzdem soll der Fokus stärker auf die Wirtschaft gelenkt werden. Was hat es für Folgen, wenn die anderen Blickwinkel weniger berücksichtigt werden?

Logemann Bei der Politik denke ich zum Beispiel an das Institutionen-Wissen. Viele Leute können ja nicht mal sagen, wie die Bundeskanzlerin gewählt wurde, wie die Macht in Deutschland verteilt ist, wie die Europäische Union uns beeinflusst. Dass wir in dieser Zeit, in der wir über Fake News, Filterblasen und so weiter sprechen, darüber überhaupt nachdenken, politische Bildung in der Schule zu reduzieren, ist skandalös.

Mohr Soziologie ist auch wichtig. Es geht da um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, also wie gesellschaftliche Lebensbedingungen die Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen und wie man Fehlentwicklungen in der Gesellschaft entgegensteuern kann. Wenn das nur noch am Rande in den Unterricht einfließen soll, dann ist das eine Verarmung des Fachs.

Logemann Und wenn wir Ökonomie in einem sehr nutzenorientierten Sinne unterrichten, dann erziehen wir die Schüler auch, wie ich finde, zu einem sehr nutzenorientierten Denken. Ganz plakativ dargestellt: Welchen Zweck hat dieser Mensch, wenn er nicht arbeitet? Er nutzt nichts für die Gesellschaft. Da wird es echt gruselig.

Es gibt Eltern, die sagen: „Ist doch super, wenn die Kinder mehr Wirtschaft lernen, dann haben sie bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt.“ Was sagen Sie dazu?

Logemann Ich kann die Eltern zwar verstehen, aber das Ziel der gymnasialen Oberstufe ist, die Schüler zu befähigen, danach an die Uni zu gehen und zu studieren. Und wie gesagt: Natürlich schaut man sich mit den Schülern die wirtschaftlichen Aspekte an, aber dann ist es wichtig zu gucken, welche Auswirkungen hat das auf den politischen oder den sozialen Bereich. Wenn es da keinerlei unterrichtliche Auseinandersetzung mehr gibt über solche Aspekte, wie die soziale Ungleichheit und was man dagegen tun könnte, dann fehlt die Möglichkeit, sich in die Lage von anderen Menschen in der Gesellschaft hineinzuversetzen, also so etwas wie Empathie. Und das halte ich für brandgefährlich, weil unsere Gesellschaft bereits gespalten ist.

Mohr Schüler müssen die Zusammenhänge verstehen. Sie müssen begreifen, dass die Art und Weise, wie man wirtschaftet und wie man Politik macht, Auswirkungen hat auf alle möglichen gesellschaftlichen Bereiche, wie die Verarmung von Bevölkerungsteilen in der Welt oder die Zerstörung der Umwelt.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir damals in Ihrem Leistungskurs intensiv darüber diskutiert haben, was wichtiger ist: Zuerst die Umwelt zu retten oder die sozialen Missstände auszuräumen. Und dann bekam man etwa von Mitschülern zu hören: „Sowi ist doch nur ein reines Laberfach“.

Mohr (lacht) Richtig ist natürlich, dass das ein Fach ist, das sehr viel mehr von der Diskussion lebt als meinetwegen Chemie. Also wenn man so gesehen das Diskutieren und den Austausch unterschiedlicher Meinungen als Labern bezeichnen will, dann ist es ein Laberfach. Aber ich glaube, es ist eher ein Fach, bei dem es darum geht, verschiedene Positionen in einer offenen Diskussion miteinander abzugleichen und darüber zu einer Meinungsbildung zu kommen.

Logemann In der ersten Stunde in der Oberstufe sage ich meinen Schülern, es geht mir nie darum, dass ihr meine Meinung trefft, ihr könnt jede Meinung haben, die verfassungsgemäß gedeckt ist. Wichtig ist, dass ihr eure Meinung auf der Grundlage dessen, was wir im Unterricht erarbeitet haben, bildet, also argumentativ begründet. Das ist das Besondere an Sowi, die Diskussion und diese Kontroversität, weil es die Gesellschaft widerspiegelt. Das ginge auch verloren, wenn es kein Sowi mehr gäbe, dass junge Menschen nicht mehr in der Lage sind, sich eine Meinung zu bilden.

Nun wird die Debatte neu befeuert durch die Ankündigung, der Lehramtsstudiengang Sozialwissenschaften soll ersetzt werden durch: Wirtschaft-Politik. Das verunsichert Studierende. Sie befürchten, dass es ihnen erschwert wird, als Lehrer zu arbeiten.

Mohr Ich sehe überhaupt keine Notwendigkeit, das zu ändern.

Logemann Verrückt ist, dass wir bereits heute Lehrermangel in diesem Fach haben.

Befürchten Sie, Frau Logemann, dass Sie Sowi künftig auch nicht mehr in der Oberstufe unterrichten können? Ich habe beim Schulministerium nachgefragt, da heißt es, die Änderungen würden sich allein auf die Sekundarstufe 1 beziehen. Aber es wäre ja der logische Schritt, das Fach abzuschaffen. Wenn es keinen Sowi-Lehramtsstudiengang mehr geben sollte, wird es ja auch irgendwann keine Sowi-Lehrer mehr geben.

Logemann Ob das so kommen wird? Ich weiß es nicht. Das ist eine Sache, die wahrscheinlich dann erst wirksam wird, wenn die jetzigen Siebtklässler in der 11. Klasse sind, also im ersten Jahr der Oberstufe. Und bis dahin ist ja noch ein bisschen Zeit und auch noch eine Wahl. Und die Schulpolitik steht ja bei Wahlen gerne zur Disposition.