Essen. Sie haben Dinge erlebt, die sich viele von uns im Traum nicht vorstellen können: Warum die Angst vor Corona mit dem Alter abnimmt.
„Die Zeit, die Zeit, die Zeit“, wiederholt Dieter Graumüller am Telefon. „Sie läuft mir davon.“ Treffen mit der Familie, Besuche im Theater oder Fahrradfahren an der Nordsee – all das fällt in diesen Zeiten flach. Stattdessen sitzt der 80-Jährige zu Hause, ein ganzes Jahr ist bald verstrichen. „Wenn man 30 oder 40 ist – was ist da schon ein Jahr?“, fragt er. Mit 80 sei die Zeit, die ihm bleibt, jedoch begrenzt.
Ältere Menschen gehen ganz unterschiedlich mit der Corona-Pandemie um. Während die einen nicht verstehen, warum ihre Liebsten sie nicht mehr in den Arm nehmen, sperren sich andere aus Angst in den eigenen vier Wänden ein.
„Ich hoffe, dass der ganze Spuk bald vorbei ist“, sagt Dieter Graumüller aus Dortmund, der bereits sehnlichst auf Post von der Stadt wartet. Sobald möglich, möchte er sich gegen Corona impfen lassen. Zwar erledigen er und seine Lebensgefährtin die Einkäufe noch selbst. Den persönlichen Kontakt meidet das Paar aber sehr. „Ich habe keine Angst vor dem Virus, ein bisschen Demut vielleicht“, sagt der gelernte Maschinenschlosser. „Aber ich will die letzten Jahre noch genießen.“
„Ich bin alleinstehend in jeder Hinsicht“
Das Telefon ist für ältere Menschen in der Pandemie häufig die einzige Möglichkeit, in Kontakt zu bleiben. Genau das ist Karl-Heinz Bialdiga, der seit fünf Jahren in einem Pflegeheim in Mülheim lebt, vor kurzem kaputtgegangen. „Es funktioniert einfach nicht mehr“, sagt der 92-Jährige. Doch auf einen Anruf der Kinder wartet der „Chef“, wie er von den Pflegern liebevoll genannt wird, ohnehin vergebens. „Ich habe keine Familie“, sagt er. „Ich bin alleinstehend in jeder Hinsicht.“
„Ich habe keine Angst vor Corona“, erwähnt er im Nebensatz. „Dafür habe ich zu oft dem Tod ins Auge geblickt.“ Und damit meint er weder den erlittenen Herzinfarkt, noch den Riss in seiner Lunge vor gut einem Jahr. Auch in seinem Heim spiele Corona nur eine Nebenrolle. „Wir waren hier schon immer sehr abgeschottet, sehr behütet“, sagt der Senior, der die erste Corona-Impfung bereits hinter sich gebracht hat. Zwar würden die Bewohner regelmäßig auf das Virus getestet. So manch einer wisse aber gar nicht, „was da draußen eigentlich los ist“.
Karl-Heinz Bialdiga hat ein bewegtes Leben hinter sich. Er ist in Berlin aufgewachsen. Mit zwölf besuchte er die Napola, eine nationalsozialistische Eliteschule, auch Adolf-Hitler-Schule genannt. Seine Eltern kamen bei einem Bombenangriff im März 1945 ums Leben. Bialdiga wird im Mai selben Jahres von russischen Soldaten gefangen genommen. Auf dem Weg ins Gefangenenlager kann er fliehen, kommt mit einer Schussverletzung davon. Er war Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei (SED) und der Freien Deutschen Jugend (FDJ) – „um zu überleben“, sagt er heute.
Er begleitete Bertolt Brecht auf einer Theatertournee nach Westdeutschland, bekam als kleiner Junge gelegentlich eine Mark von Heinz Rühmann zugesteckt und kutschierte Erich Honecker zu seiner Freundin Margot Feist. „Was ich nie geschafft habe, ist eine Familie zusammenzuhalten“, bedauert der 92-Jährige. Doch man merkt, genau die fehlt ihm heute.
Älteren Menschen fehlt der persönliche Kontakt
Der fehlende persönliche Kontakt macht auch Uwe Möbius aus Witten zu schaffen. Der 64-Jährige engagiert sich im Senioren-Netzwerk Wisel, kurz für „Wittener Senioren Leben“, und bringt normalerweise zahlreiche Menschen über 50 an einen Tisch. Doch ob Wandern, Kegeln oder gemeinsam Kaffee trinken – „derzeit fällt alles flach“, bedauert er. Nur über Whatsapp liest er ab und zu, was die anderen so machen.
Uwe Möbius, der nicht nur wegen seines Alters zur Risikogruppe gehört, trifft Familienangehörige und Freunde derzeit kaum noch. „Es ist nicht so, dass ich angsterfüllt durch Leben gehe“, sagt der Ingenieur im Ruhestand. Aber die Sorge, sich und damit auch andere mit dem Virus anzustecken, sei eben da.
Neben dem Wocheneinkauf gehen Uwe Möbius und seine Frau viel spazieren, sortieren Dinge aus, „was man so eben macht, wenn man viel zu Hause ist“, sagt er und lacht. „Ich glaube, Deutschland war noch nie so aufgeräumt wie in diesem Jahr.“
„Ich habe wirklich Angst davor“
Heike Scheffler dagegen ist besorgt. Zu Beginn der ersten Corona-Welle habe ihre Hausärztin sie angerufen und gesagt: „Passen Sie auf, Frau Scheffler, sie gehören zur Risikogruppe.“ Die Essenerin: „Da war ich erstmal bedient. „Ich bin doch noch eine junge Seniorin.“ Erst wenige Monate zuvor sei sie 60 geworden. Und trotzdem: „Ich möchte es nicht kriegen“, sagt sie. „Ich habe wirklich Angst davor.“
Im März und April, als Corona sich in Deutschland breitmachte, ging sie kaum raus. Die Einkäufe ließ sie sich liefern, kleine Besorgungen erledigte ihr Mann. „Im Sommer haben wir uns mal draußen mit Freunden zum Picknick getroffen“, erzählt Heike Scheffler, die sich ehrenamtlich für das Essener Theater Ruhrpott-Revue engagiert.
Das Weihnachtsfest feierten sie und ihr Mann jedoch allein, in Decken eingekuschelt auf dem Zeltplatz. Ob der Impfstoff ihr die Sorgen nimmt? „Ich denke nicht“, sagt Scheffler skeptisch.
„Wenn’s passiert, dann passiert’s“
Auch Brigitte Böcker aus Essen vermisst die persönlichen Treffen sehr. Tochter und Enkel sieht die 77-Jährige nur noch selten – und wenn, dann mit Maske und Abstand. „Früher kam mein Enkel rein und Oma bekam ein Küsschen“, das waren unbeschwerte Zeiten. „Das fehlt so.“ Dabei weiß die Seniorin: Ihre Liebsten wollen sie nur schützen.
Brigitte Böcker selbst hat keine Angst vor dem Virus. „Wenn’s passiert, dann passiert’s“, sagt sie mit lockerer Stimme. „Ich habe schon ganz andere Sachen erlebt.“ Im Alter von vier Jahren seien sie und ihr Vater an Typhus erkrankt. Mehrere Wochen habe sie in einem Isolierhaus in Quarantäne verbracht – getrennt von den Eltern.
Nur das Pflegepersonal habe einige Male am Tag die Tür aufgeschlossen und das Licht im abgedunkelten Raum eingeschaltet. Obwohl Brigitte Böcker wegen der Fieberkrämpfe oft nicht bei Besinnung gewesen sei, erinnere sie sich noch genau an die Angst, die sie als kleines Mädchen gespürt hat.
Heute, sagt Brigitte Böcker, könne man sich so etwas nicht mehr vorstellen. Nicht nur, dass sich die Menschen zu Hause frei bewegen könnten. Die Quarantäne damals sei „konsequenter und sicherer“ gewesen, meint Brigitte Böcker. „Als ich nach zwei Monaten nach Hause durfte, konnte ich kaum noch laufen“, erzählt sie. Ihre kleinen Finger waren ganz steif und verkrampft.
Deshalb kann die Essenerin den Unmut nicht verstehen. „Wir sind doch trotz allem nicht eingesperrt“, sagt sie. „Wir haben immer noch das Fenster.“ Und wenn es nur die Vögel am Himmel sind, die man beobachten könne. Denn selbst die habe sie aus dem vergitterten Fenster des Isolierhauses damals nicht gesehen.
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