Herdecke. An vielen zerrt der Lockdown wie ein ein Ultra-Marathon. Der Laufpsychologe Michele Ufer kennt Tipps, wie man gut durch die Zeit kommt.
In der Corona-Krise schleppen wir uns mental von Woche zu Woche – und manchem kam schon der erste Lockdown wie ein Marathon vor. Nun stecken wir mitten im zweiten – und ein Ende ist erst weit am Horizont zu erahnen. Da muss man psychisch schon gefestigt sein, um motiviert und leistungsbereit über diese extrem lange Strecke von Herausforderungen und Entbehrungen zu kommen.
Wer könnte da ein besserer Ratgeber sein, als jemand, der schon öfter einen 250-Kilometer-Selbstversorger-Ultramarathon durch die Wüste gelaufen ist – mit einem 10-Kilo-Rucksack auf dem Rücken? Wir fragten Dr. Michele Ufer (48), Extremsportler, Sportpsychologe und Mentaltrainer im Hochleistungsbereich, welche Lehren man aus seinen Motivationsstrategien für Extremsportler ableiten kann, um vielleicht sogar geistig und körperlich gestärkt aus dem Lockdown mit seinen Kraftanstrengungen zu kommen.
Was ist im Moment für den normalen Menschen fordernder: Den normalen Alltag zu bewältigen oder sich sportlich weiter zu motivieren?
Ufer: Normal ist gut. Ich glaube, das kann man so pauschal nicht sagen, da die Rahmenbedingungen aktuell sehr unterschiedlich sind. Aber es gab eine Studie, die im Rahmen des ersten Lockdowns entstanden ist. Und da zeigte sich, dass die sportliche Aktivität bei denen, die sowieso Sport treiben, vielfach gar nicht nachgelassen, sondern sogar eher zugenommen hat, zumindest im Individualsport, der auch draußen möglich ist. Man hat es sogar gesehen: Die Parks und Wälder waren voll mit Sportlern. Und das ist auch gut so, denn wir wissen seit Urzeiten , dass moderater Sport ein ganz hervorragender Stresspuffer und gesundheitsförderlich ist.
Michele Ufer: Sport fördert neben der körperlichen auch die mentale Leistungsfähigkeit und Gesundheit
Sport fördert nicht nur die körperliche, sondern auch die mentale Leistungsfähigkeit und Gesundheit. Und man kann seine Motivation dazu vielleicht daraus beziehen, dass man möglichst gut durch diese Krise kommen möchte. Er bietet außerdem Möglichkeiten, wo wir uns selbst Ziele setzen, eigenverantwortlich Dinge anpacken, gestalten und erreichen können. Dieses Gefühl der Kontrolle, Experten sprechen von auch Selbstwirksamkeit, ist enorm wichtig.
Beruflich haben Sie ja sehr oft mit ambitionierten Sportlern in Wettkampfvorbereitungen zu tun. Hat die derzeitige Situation viele von ihnen in eine Lebenskrise gestürzt?
Lebenskrise klingt vielleicht etwas scharf, aber sicher ist die Situation oft sehr schwierig. Für einige von ihnen sind ja Lebensträume zerbrochen. Wenn ein Sportler jahrelang unter größtem Einsatz der zur Verfügung stehenden Ressourcen auf die Olympischen Spiele hingearbeitet hat und das plötzlich wegfällt, dann ist das natürlich sehr schade. Die Unsicherheit, der Frust, damit muss man erstmal umgehen können. Aber so schwierig die Situation auch sein mag, sie bietet oft auch Chancen. Um aber, statt in eine Schockstarre zu verfallen, handlungsfähig zu bleiben oder wieder zu werden, ziehe ich da gern einen etwas hemdsärmeligen Vergleich mit einer Herausforderung, die viele Sportler besser kennen: Verletzungen.
Das müssen sie etwas genauer erläutern…
Auch schwierige Sportverletzungen werfen einem ja Knüppel zwischen die Beine, bremsen womöglich komplett aus. Meistens dann, wenn man es gar nicht gebrauchen kann. Auch da zerplatzen womöglich Träume, zumindest rücken manch bedeutsame Ziele oft in weite Ferne. Aber man muss sich fragen: Ist das jetzt die endgültige Katastrophe oder kann ich die Situation vielleicht ganz anders nutzen, kann ich womöglich sogar gestärkt aus ihr hervorgehen? Es gibt da unterschiedliche emotionale Stadien, erst will man es vielleicht nicht wahrhaben, dann feilscht man innerlich um die Schwere bzw. Dauer der Verletzung, es entsteht Frust, vielleicht eine Art depressive Verstimmung. Erst, wenn man zum Punkt der inneren Akzeptanz kommt, ab dem sich auch ein Stück Entspannung einstellt, wird so ein Heilungsprozess mitunter richtig produktiv.
Menschen hängen in den Seilen und tun sich schwer, Ziele zu formulieren
So geht es gerade vielen Sportlern – und auch anderen Menschen: Die hängen in den Seilen, können nicht richtig planen. Es ist für sie schwierig, Ziele zu formulieren. Da lohnt ein Blick in die Resilienzforschung, die ja der Frage nachgeht: Wie können wir Krisen gut meistern? Wie kommen wir gut durch stressige Zeiten? Eine der Antworten ist: Indem wir immer an verschiedenen Dingen interessiert bleiben. Ein Sportler, der nur noch ein einziges Ziel beim Sport im Kopf hat, der hat natürlich ein Problem, wenn sein Plan plötzlich wegbricht. Es ist manchmal gut, nicht alles auf eine Karte zu setzen, sondern einfach ein bisschen breiter aufgestellt zu sein. Oder anders ausgedrückt: ein Blick dafür, was das Leben sonst noch lebenswert macht. Zurück zu Verletzungen als ein Beispiel für Krisen: da hat die Forschung gezeigt, dass durch den Einsatz von mentalen Trainingstechniken, wie die Arbeit mit inneren Bildern/Vorstellungen, Selbstgesprächen, Ansätzen zur Emotions- und Gedankenkontrolle etc. die Genesung 4 Mal so schnell verlaufen kann. Die gleichen Strategien, das konnte ich in einer eigenen Untersuchung zeigen, wirken sich allgemein auf die psychische Widerstandsfähigkeit aus und helfen dabei, besser durch Krisen zu kommen.
Und das gilt auch für die ganz normalen Menschen?
Auf jeden Fall. Ich habe gelesen, dass während des ersten Lockdowns unter anderem der Absatz von E-Pianos in die Höhe geschossen ist. Eine der Erkenntnisse aus der Resilienzforschung ist eben auch, dass wir selbst in schwierigen Situationen immer den Blick haben sollten für positive Dinge.
Kann man so etwas denn so ähnlich trainieren wie Klavierspielen?
Da sind wir beim Thema mentales Training. Es gibt ein Set an mentalen Techniken, die man ausreichend üben kann und die dann zu einer Routine werden. Das ist ein bisschen wie beim Autofahren. Bei den ersten Fahrstunden ist das noch super stressig, weil die bewusste Aufmerksamkeit auf alles gleichzeitig gelenkt werden muss, man schaltet, gibt Gas und lenkt, alles in ein und derselben Sekunde. Später, mit zunehmender Übung und Routine fällt es einem so leicht, dass man dabei noch quatschen oder eine Cola trinken kann. Man kann das lernen.
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Als mentale Bewältigungsstrategie empfehlen Sie – und das haben sie schon vor Corona getan – möglichst oft in einen Flow-Zustand zu kommen. Inwieweit kann mir das jetzt helfen?
Flow ist ja ein hochfokussierter Zustand, bei dem wir voll bei der Sache sind, regelrecht in ihr aufgehen oder gar versinken, wo wir selbst knifflige Herausforderungen unter Kontrolle haben, intuitiv wie auf Autopilot handeln, regelrecht die Zeit vergessen, alle Gedanken, die nicht mit der Tätigkeit zu tun haben, ausblenden, auch Sorgen und Ängste. Dieser Flow-Zustand hat sich gerade in einer beeindruckenden Studie aus Wuhan als wirksame Bewältigungsstrategie bei Quarantäne und Social Distancing erwiesen. Je länger Zeiten von Quarantäne und Social Distancing andauern, desto schlechter ist in der Regel das psychische Wohlbefinden.
Mit zunehmender Quarantäne-Dauer verstärken sich Ängste und Sorgen
Mit zunehmender Dauer verstärken sich Ängste, Sorgen, depressive Verstimmungen, Gefühle von Einsamkeit und ungesundes Verhalten. Flow-Erleben kann diesen Zusammenhang aufbrechen oder zumindest stark abschwächen. Die Ergebnisse aus China zeigen, dass das Wohlbefinden von Menschen in Quarantäne umso besser ist, je mehr Flow sie erleben. Je mehr die gewählten Tätigkeiten Flow herbeiführen, desto geringer sind negative Gefühle, depressive Stimmungen und ungesundes Verhalten, desto stärker sind positive Emotionen und gesundes Verhalten ausgeprägt. Personen in einer längeren Quarantäne, die überdurchschnittlich hohes Flow-Erleben hatten, fühlten sich insgesamt nicht schlechter als Personen, die noch nicht in Quarantäne waren.
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Und was ist außerhalb solch einer Quarantäne-Situation?
Im beruflichen Alltag etwa gilt das Gleiche: Flow wirkt sich positiv auf die Motivation aus, auf das Betriebsklima und auf die Leistungsfähigkeit von Teams. Es kann also als eine Bewältigungsstrategie sehr mächtig sein.
Gleichzeitig warnen Sie vorm übermäßigen Konsum von sozialen Medien. Warum?
Soziale Medien sind ein totaler Flow-Saboteur. Schon allein durch die ständigen Benachrichtigungen. Flow bedeutet ja, möglichst fokussiert auf eine Sache zu sein und alles andere auszublenden. Das geht nicht, wenn ständig Facebook, Instagram oder meine Mails bimmeln. Ein weiteres Problem ist, dass die Selbstdarstellung der Menschen dort sehr selektiv ist. Man vergleicht seine eigenen Leistungen und seine Lebenssituation zumindest unbewusst ständig mit denen von anderen, auch beim Laufen. Und, wenn unzählige Sportler noch besser, schneller weiter, lockerer laufen, ist meine Marathon-Zeit oder zurückgelegte Distanz womöglich gar nichts mehr so viel wert. Zumal all das Positive, das in sozialen Medien gepostet wird, nicht unbedingt die ganze Wahrheit ist.
Wie komme ich denn möglichst gut in einen Flow?
Es gibt eine Reihe von Strategien und es muss nicht unbedingt durch Sport sein. Sport ist natürlich ein exzellentes Medium, weil man mehrere Fliegen mit einer Klappe schlägt. Wenn man moderat Ausdauersport betreibt, steigert das die allgemeine Fitness und es ist eine super Möglichkeit, in einen Flow-Zustand zu kommen. Wenn man es richtig anstellt. Dabei kann es sehr hilfreich sein, wenn man meditative Selbstgespräche führt. Es ist gut, wenn man von seinen Ängsten und Sorgen mal etwas Abstand findet. Ich habe das erst gestern gemacht, indem ich eine Stunde Wandern war – und mir dabei synchron zu Schrittfrequenz und Atmung gesagt habe, dass ich ruhig und gelassen bin…
Mit mediativen Selbstgesprächen raus aus dem Gedankenkarussell
Selbst wenn ich in dieser Zeit vielleicht eine vollkommen inhaltsfreie Form von Selbstgespräch führe, bei der ich z.B. nur ganz bewusst innerlich immer wieder von eins bis vier zähle, bringt mich das mit der Zeit schon aus meinem Gedankenkarussell raus – denn es füllt meinen Geist in dieser Zeit aus. Man kann sich auch komplette Selbstgesprächs-Kombinationen zurechtlegen, die mir helfen und hochfunktional bestimmte Gedanken und Körperreaktionen hervorrufen. Aber das ist dann schon die Masterclass des Mentaltrainings. Das Ganze kann man mit entsprechender Übung irgendwann so gut, dass man sich damit in eine flow-artige Trance beamt – und Flow wiederum, habe ich ja schon ausgeführt, ist eine extrem effektive Bewältigungsstrategie.
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Dr. Michele Ufer aus Herdecke hat sich als Coach, Extremläufer und Sportpsychologe einen Namen gemacht. Eines seiner zentralen Themen ist die mentale Stärke. Neben wissenschaftlichen Publikationen hat er eine Reihe von populärwissenschaftlichen Titeln veröffentlicht, darunter „Flow-Jäger: Motivation, Erfolg und Zufriedenheit beim Laufen“, Delius Klasing, 160 Seiten, 24,90 € und „Mentaltraining für Läufer: Weil Laufen auch Kopfsache ist“, Meyer & Meyer Sport, 280 Seiten, 19,90 € sowie "Limit Skills - Die eigenen Grenzen respektieren, testen, überwinden", Delius Klasing, 160 S., 24,90 €. www.micheleufer.com
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