Emmerich/Essen. Die Bahn kommt – mit Modernisierung und Barrierefreiheit an Bahnhöfen nicht auf die Schiene: Jedes dritte Projekt im VRR-Bereich ist unfertig.
Bahnhof Emmerich, an der deutsch-niederländischen Grenze. Die Unterführung erwartet Besucher mit einer undefinierbaren schwarz-weißen Substanz, die sich in den Boden frisst, während an den Wänden hellbraune Schlieren nach unten ranken.
Der desaströse Zustand ist nicht das Problem für den 18-jährigen Sven Lodewick aus Emmerich. Lächelnd kommt er angeradelt, stoppt an dem Bahnhofsschild. Dann greift er vorsichtig nach vorne und nimmt das Vorderrad seines Handbikes ab.
Sven Lodewick hat eine spastische Tetraparese, also eine Lähmung, die ihm das Laufen ohne den Rollstuhl fast unmöglich macht. Seine Reise endet heute wie so oft an Gleis 2. Denn einen Aufzug zu Gleis 3 gibt es nicht, obwohl ihn die Deutsche Bahn seit vielen Jahren verspricht.
Umweg dauert 30 bis 60 Minuten länger
Wenn Sven vom Internat im Ruhrgebiet zur Familie nach Emmerich möchte, muss er über Kleve oder Emmerich-Elten fahren, dort gibt es keine Hindernis-Treppen. 30 bis 60 Minuten länger dauert das, fast jedes Mal. „Extrem frustrierend“, sagt Sven, der einfach nur eigenständig mobil sein will.
Noch im Jahr 2011 geht die Bahn laut eines Sachstands davon aus, dass am Bahnhof Emmerich 2013 alles fertig sein wird. Doch die wichtigen Aufzüge lassen auf sich warten. Aus Verwaltungskreisen heißt es, die Bahn habe noch 2018 versprochen, dass in 2020 gebaut werde.
Als 2019 plötzlich bekannt wird, dass sich der Bau schon wieder verzögert, platzt Lokalpolitikern aller Parteien der Kragen: Sie verabschieden eine Resolution, wollen die Bahn zum schnellen Handeln zwingen. Es dauert weitere acht Monate, bis die Bahn die Plangenehmigung beim zuständigen Eisenbahn-Bundesamt einreicht. 2021 soll gebaut werden: acht Jahre nach dem eigentlich vertraglich vereinbarten Ende der Arbeiten.
Der Bahnhof Emmerich ist Teil der 2008 unterzeichneten Modernisierungsoffensive 2 der Deutschen Bahn, kurz MOF2. Über 400 Millionen Euro schwer, den Großteil der Kosten übernehmen Land und Bund. Ursprünglich sind in dem Paket 108 Bahnhöfe, die bis auf wenige Ausnahmen bis einschließlich 2015 modernisiert und stufenfrei ausgebaut werden sollen.
Kein Einzelfall
Später kommen noch weitere Bahnhöfe dazu: Mit nun 117 Bahnhöfen ist die MOF2 eines der wichtigsten Projekte der Bahn. Dass der Zeitplan wie in Emmerich nicht eingehalten wird und sich Menschen mit Gehbehinderung jahrelang benachteiligt fühlen, ist kein Einzelfall.
Schon drei Jahre nach der Vertragsunterzeichnung ist im NRW-Landtag von überlasteten Ingenieurbüros und notwendigen Abstimmungsgesprächen die Rede. Bei jedem vierten Bahnhof wird es länger dauern als ursprünglich angenommen, so die damalige Prognose.
Wieder drei Jahre später, wieder im Landtag, wieder ein neuer Sachstand. Schon wieder gibt es schlechte Nachrichten: Statt der bis dahin vertraglich vereinbarten 77 Inbetriebnahmen kann die Bahn gerade einmal 28 vorweisen. Drei Viertel der Maßnahmen sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertig.
Und heute, weitere sechs Jahre später?
Wie eine Auswertung aller Stationen zeigt, hat von den im Jahr 2008 vereinbarten Stationen im Bereich des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr (VRR) jeder sechste noch kein grünes Häkchen.
Nimmt man die Bahnhöfe dazu, die bis 2014 zum Modernisierungsprogramm hinzugekommen sind, ist sogar jede dritte Station im VRR: unvollendet.
Ein Bahn-Sprecher bestätigt den Befund für ganz NRW: Von allen 117 MOF2-Maßnahmen seien zwar 92 abgeschlossen, aber 15 noch im Bau und zehn Bahnhöfe erst in der Planung.
Auch in Moers kam es zu Verzögerungen
„Im Bau“ ist bis vor kurzem auch der Bahnhof in Moers. Ursprünglich soll hier 2015 alles fertig und stufenfrei sein. Schon lange zuvor hatte die Stadt Moers eine Modernisierung des Bahnhofs selbst geplant – mit neuen Aufzügen. Dann grätscht die Deutsche Bahn mit ihrer Modernisierungsoffensive dazwischen. Die Stadt baut also den Personentunnel aus, die Bahn macht die Aufzüge. „Ab diesem Zeitpunkt gab es eine ganze Reihe von Verzögerungen“, sagt Lokalpolitiker Mark Rosendahl von der SPD, Vorsitzender des zuständigen Ausschusses.
Die städtischen Arbeiten sind im Frühjahr 2019 fertig und „hatten keinen Einfluss auf Zeitpläne im Bauablauf zum Ausbau der Aufzüge der DB“, versichert die zuständige Firma auf Anfrage. 2017 vermisst die Bahn laut einem städtischen Bericht zwar die Schächte für die Aufzüge. Doch offenbar nicht gründlich genug, wie ein E-Mail-Verkehr nahelegt, der der digitalen Sonntagszeitung zugespielt wird. Erst verspricht die Bahn, die Aufzüge würden im Dezember 2019 in Betrieb gehen. Im Dezember 2019 dann keine Aufzüge, dafür wieder eine E-Mail: Bei den Arbeiten habe sich herausgestellt, „dass für die Montage der Aufzüge weitergehende Anpassungen an den vorhandenen Schächten erforderlich sind“.
Später werden auch noch wichtige Teile von der Baustelle gestohlen. Als die Aufzüge vor wenigen Tagen endlich eingebaut werden, verzichtet die Bahn gerne auf größere Öffentlichkeit: keine Feier, keine Pressemitteilung. Auf unsere Anfrage lehnt die Bahn ein Interview aus „terminlichen Gründen“ ab, man bedauere aber, dass es „bei einzelnen Projekten durchaus zu Verzögerungen“ gekommen sei. Dennoch: „Mehr als die Hälfte aller 701 Bahnhöfe in NRW hat die DB in den letzten zehn Jahren ganz oder teilweise modernisiert.“ Fast 600 Maßnahmen an rund 380 Bahnhöfen seien in der Zeit umgesetzt worden.
Düsseldorf klagt gegen die Bahnpläne
Weder modern noch barrierefrei ist der Bahnhof Düsseldorf-Oberbilk. Der Landtagsabgeordnete Rainer Matheisen von der FDP fragt in der sogenannten Bahn-Sprechstunde im Landtag regelmäßig nach, wann der Bahnhof endlich in Angriff genommen werde. Die Stadt Düsseldorf reicht 2015 wegen Sicherheitsbedenken Klage gegen die Bahn-Pläne ein: Die Treppen seien zu schmal geplant gewesen, der Personentunnel wegen des neuen Aufzugs zu eng, erklärt die Stadt auf Anfrage. Die Bahn habe eine „gleichzeitige Benutzung des Tunnels durch Dritte“, also die Besucher der nahe gelegenen Konzerthalle, außer Acht gelassen.
Die Stadt macht ein Gegenangebot: Der Aufzug soll an eine andere Stelle verlegt werden. Doch wie ein internes Bahn-Dokument zeigt, stößt dieser Vorschlag wegen gegensätzlicher DB-Richtlinien auf wenig Zustimmung. Die Bahn kommt der Stadt lediglich um einige Zentimeter Treppenbreite entgegen. „Keine weiteren Zugeständnisse“, heißt es in dem Dokument, die Fronten sind spätestens ab da verhärtet.
Nach Jahren gewinnt die Bahn den Prozess im September 2019 vor Gericht. Seitdem ist vor Ort jedoch weiterhin nichts passiert. Wieso das Unternehmen überhaupt erst im Jahr 2014 die Plangenehmigung beim Eisenbahn-Bundesamt einreicht, bleibt schleierhaft.
Landtagspolitiker Matheisen hat für das Trauerspiel am Bahnhof Oberbilk kein Verständnis: „Ich erwarte von der Bahn und der Stadt, dass man sich an einen Tisch setzt, statt sich zu verklagen.“ Damit mehr Menschen vom Auto auf die Bahn umstiegen, „müssen Barrierefreiheit und Aufenthaltsqualität gewährleistet sein“. Beim derzeitigen Zustand vieler S-Bahnhöfe sei das nicht zu erwarten.
Sperrungen müssen lange vorgeplant werden
Erfolglose Ausschreibungen, Klagen und notwendige Vorarbeiten Dritter seien häufige Gründe für Verzögerungen, betont die Bahn auf Anfrage nur allgemein. Sperrpausen, also Zeiten, in denen kein Zug fährt, müssten bis zu drei Jahre im Voraus angemeldet werden.
Probleme bereitet auch der kleine Bahnhof Essen Stadtwald. Nur wenige Meter von einer Seniorenresidenz entfernt, fehlt der Aufzug für das Gleis Richtung Hauptbahnhof. Ursprünglich will die Bahn vor acht Jahren zwei Aufzüge einbauen. Doch offenbar fällt der Bahn erst spät auf, dass das gar nicht funktionieren kann. Denn der Zugang zu einem der Aufzüge gehört nicht der Bahn, sondern den knapp 80 Eigentümern der Residenz.
Posse um Nutzungsrechte in Essen
Es beginnt eine Posse um Nutzungsrechte und Verträge, bis der Bezirksbürgermeister im April 2013 laut Protokoll die Zustimmung der Eigentümer verkündet. Der Aufzug solle ein Jahr später installiert werden. Das Eisenbahn-Bundesamt teilt auf Anfrage aber mit, dass die Plangenehmigung durch die Bahn erst Ende August 2019 eingegangen sei. Dazwischen liegen sechs Jahre Ärger für Rollstuhlfahrer, Senioren und Menschen mit schwerem Gepäck.
Die Bahn hält dagegen: Zum Ende des Jahres würden in fast 80 Prozent der NRW-Bahnhöfe „die Bahnsteige ohne Stufen vom öffentlichen Raum erreichbar sein“. Allein in diesem Jahr würden Modernisierungsmaßnahmen an 49 Stationen abgeschlossen werden, unter anderem für den neuen Rhein-Ruhr-Express (RRX). 39 RRX-Stationen seien bereits modernisiert, weitere 13 im Umbau.
Rollstuhlfahrer Sven Lodewick aus Emmerich hat in all den Jahren die Geduld verloren und Konsequenzen gezogen: Er macht jetzt den Autoführerschein, der Behinderung zum Trotz. Was zuerst fertig ist – der Führerschein oder der versprochene Aufzug am Emmericher Bahnhof – das weiß er nicht.
Weg und Wille
Damit ein Bahnhof von der Deutschen Bahn als „barrierefrei“ klassifiziert wird, muss eine Reihe von Merkmalen erfüllt sein. Dazu gehören: der stufenfreie Zugang zum Bahnsteig, ein höhengleicher Einstieg in den Zug, taktile Blindenleitstreifen und Lautsprecheranlagen. Laut Bahn erfüllen 58 Prozent der Bahnsteige in Deutschland die Merkmale für Rollstuhlfahrer. Für Menschen mit Sehbehinderungen oder Blinde sind es nur 13 Prozent der Bahnsteige. Bei gehörlosen Menschen liegt der Wert bei 92 Prozent.
Der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr berechnet eigene Statistiken für seine 297 Stationen. Laut VRR-Stationsbericht 2019 waren nur 41 Prozent der Bahnhöfe barrierefrei. Sie waren also stufenlos zu erreichen und hatten einen niveaugleichen Einstieg in den Zug.
Die Bahn und die Verkehrsverbünde haben sich im vergangenen Jahr darauf geeinigt, langfristig einen niveaugleichen Einstieg vom Bahnsteig in den Zug zu ermöglichen. Das Ziel: Bis 2030 sollen 90 Prozent der Fahrgäste ohne Höhenunterschiede in den Zug einsteigen können.Quellen: Deutsche Bahn, VRR
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