Bochum/Ouagadougou. Rostige Nabelklemmen und lebensbedrohliche Beschneidungen – was eine Bochumer Hebamme (35) in Burkina Faso erlebte: Schönes und Schlimmes.

„Mutter werden in Burkina Faso“, sagt Jennifer Eisenhardt, „hat einen anderen Stellenwert als bei uns. Es ist vollkommen üblich, viele Kinder zu bekommen. Mutter werden in Burkina Faso heißt aber auch, unheimlich stark zu sein. Die Frauen bringen alle eine Geschichte mit, alle haben schon viel erlebt – und fast alle sind noch immer beschnitten.“

Anfang Februar reist die 35-jährige Hebamme mit ihrer Kollegin Jana Lammert aus Bochum nach Westafrika. Ihre Ziele: Das „Operndorf Afrika“, ein Kunst- und Kulturprojekt mit Krankenstation des verstorbenen Filmemachers Christoph Schlingensief, sowie ein Krankenhaus in der Hauptstadt Ouagadougou. Fast vier Wochen planen die beiden Frauen für den besonderen Trip ein. „Der Wunsch, als Hebamme ins Ausland zu gehen und eine andere Kultur kennenzulernen, war schon immer da“, sagt Jennifer Eisenhardt. „Ich wusste, dass ich nach Afrika will, die Inspiration für Burkina Faso kam durch Ärzte der ‚Ortho Hilfe Afrika e.V.‘, die einmal im Jahr dort operieren.“

Im Gepäck ausrangierte Geburtsbestecke

Die Zusagen der beiden Stellen kommen schnell, man freut sich auf die Frauen. Jennifer Eisenhardt und ihre Kollegin bereiten sich ausgiebig auf den Trip vor, erstellen etwa eine ausgeklügelte Packliste. „Wir haben überlegt, was vor Ort helfen könnte – zum Beispiel von mir ausrangierte, aber unbeschädigte Geburtsbestecke mit Nabelklemmen und so weiter, die wir hier nicht mehr benutzen dürfen, weil nur noch Einmalmaterial erlaubt ist. Auch Desinfektionsmittel, Handschuhe, Kittel, Berufskleidung war im Gepäck, weil wir nicht wussten, was alles vorhanden sein würde.“

Jennifer Eisenhardt hat sich in Afrika wieder verstärkt auf ihre erlernten Fähigkeiten der originären Geburtshilfe verlassen: Tasten und hören..
Jennifer Eisenhardt hat sich in Afrika wieder verstärkt auf ihre erlernten Fähigkeiten der originären Geburtshilfe verlassen: Tasten und hören.. © Privat

Doch kurz bevor es losgehen soll, erschüttern mehrere Terroranschläge den westafrikanischen Staat. „Eine Reisewarnung bestand schon die ganze Zeit, und wir hielten es uns offen, ob wir fliegen oder nicht. Aber weder in der Hauptstadt noch im ‚Operndorf‘ war etwas vorgefallen. Die Ärzte der Mission sagten uns, dass sie sich sicher fühlten. Deshalb haben wir es letztlich durchgezogen.“

Lebensmittel für zwei Wochen

Der Zahnarzt des Operndorfes holt die beiden Frauen am Flughafen ab, sie werden warmherzig begrüßt. Die Burkinabé sind sehr gastfreundlich. Nachdem alle drei die erste Nacht aus Sicherheitsgründen noch in der Hauptstadt verbringen, geht es am nächsten Morgen zum 30 Kilometer entfernten Ziel. Doch vorher wird eingekauft: „Unser Kollege sagte: ‚So, Mädels, ihr müsst jetzt für zwei Wochen Lebensmittel mitnehmen.‘ Er warf uns einen 4,5-Kilo-Reissack in den Einkaufswagen, wir packten noch etwas Gemüse und Marmelade dazu. Danach fuhren wir los.“

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Zwölf Tage bleiben beide zunächst in der Einrichtung und arbeiten in der Geburtshilfe mit. Der Kreißsaal wurde erst im November 2019 eingeweiht und gehört zu den vielen Krankenstationen (CSPS – Centre de Santé et de Promotion Social), die über das ganze Land verteilt sind, damit etwa Schwangere nicht die teils sehr weiten Wege in die Hauptstadt auf sich nehmen müssen.

Überall liegt roter Staub

Behandlungen sind kostenfrei, für Medikamente müssen die Patienten selbst aufkommen. „Wir haben viele Vor- und Nachsorgen gemacht, die Babys gewogen und werdende Mütter untersucht.“ Dabei stoßen die Expertinnen auf ungeahnte Schwierigkeiten, zum Beispiel sehr ungenaue Geburtstermine. „Bei einigen stand lediglich der Monat im Mutterpass. Das machte die Untersuchungen natürlich schwerer, weil wir nicht genau sagen konnten, ob sich das Kind im Bauch zeitgerecht entwickelt.“

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Geburten begleiten die beiden erst in der Klinik Paul VI in der Hauptstadt, ihrem zweiten Ziel – und erfahren dort auch, wie groß die Unterschiede zu Deutschland ausfallen. Angefangen bei der Hygiene: „Überall gibt es roten Staub. Auf den OP-Instrumenten, den Behandlungstischen, selbst in Behältern mit Deckel findet man ihn.“ Zur Entbindung bringen Patientinnen ihre eigene Bettwäsche und Tücher mit, weil es in den Kliniken kein Einmalmaterial gibt.

Rostige Nabelklemmen

„Das wirkt für uns im Vergleich erstmal alles sehr unsteril, aber es herrscht einfach ein anderer Standard.“ Natürlich werde in den Krankenhäusern auch desinfiziert, erzählt die Hebamme, rostige Nabelklemmen oder Geburtsbestecke seien allerdings auch zum Einsatz gekommen. „Trotzdem gibt es unter den Umständen nicht mehr Infektionen als bei uns“, sagt Eisenhardt. Ob und wie viele Komplikationen allerdings nach den Entbindungen auftraten, erfahren die deutschen Gäste nicht. Doch die Statistik spricht Bände: Die Sterblichkeit von Kindern zwischen 0 und 5 Jahre liegt in Burkina Faso bei 7,6 Prozent, in Deutschland dagegen bei nur 0,3 Prozent.

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Auch die Bedingungen unter denen die Frauen entbinden müssen, lassen sich in keiner Weise mit unseren vergleichen. „Es gibt einen ‚Salle d’áttende‘, einen Warteraum, in dem sich alle Frauen aufhalten, die Wehen haben. Jede Schwangere hat eine Begleitperson dabei, die draußen an einer Feuerstelle für sie kocht, weil es im Krankenhaus keine Verpflegung gibt. Und in den Kreißsaal kommen die werdenden Mütter erst zu Untersuchungen oder wenn die Presswehen beginnen.“ Allerdings ist der nicht wie bei uns besonders schön gestaltet. Im Krankenhaus, in dem Jennifer Eisenhardt aushilft, stehen drei Metallpritschen nebeneinander, nur durch mobile Sichtschutzwände getrennt. Das nötige Material wie Handschuhe, Infusionen oder Nahtmaterial müssen die Patientinnen zuvor im Klinikum selbst kaufen. „Und dann bekommen sie ihre Kinder quasi gleichzeitig und nebeneinander. Danach wird alles schnell versorgt, weil dann ja schon die nächste Mutter wartet. In den besonders geburtenstarken Monaten entbinden zwischen 20 und 40 Frauen täglich in diesem Kreißsaal.“

Keine Privatsphäre für die Patientinnen

Was den Hebammen aus Deutschland aber mehr zu schaffen macht als die Bedingungen im Kreißsaal, ist der Umgang mit den Patientinnen. „Die Privatsphäre der Frauen wurde überhaupt nicht geachtet. Es liefen zum Beispiel im Frühdienst zwölf Schüler mit dem Arzt mit, standen allesamt zwischen den Beinen der Frau und schauten sich die Beschneidungswunde an, um zu entscheiden, ob mit der Verletzung ein Kind auf natürlichem Wege geboren werden kann. Der Arzt, zwei Schüler und eine Hebamme untersuchten die Frau dann alle vaginal, im Anschluss wurde uns angeboten, dass wir auch noch einmal tasten dürfen. Wir haben ziemlich schockiert abgelehnt, weil wir die Frau vor weiteren Untersuchungen schützen wollten.“

Der Kreißsaal in einem Krankenhaus in der Hauptstadt Ouagadougou. Die Metallpritschen sind nur durch Sichtschutzwände voneinander getrennt und die Frauen entbinden direkt nebeneinander.
Der Kreißsaal in einem Krankenhaus in der Hauptstadt Ouagadougou. Die Metallpritschen sind nur durch Sichtschutzwände voneinander getrennt und die Frauen entbinden direkt nebeneinander. © Privat

In Afrika sieht die erfahrene Geburtshelferin zum ersten Mal, wie schwer Frauen durch Beschneidungen verletzt werden. „In einem Fall war die Patientin komplett verschlossen und wäre fast gestorben, weil die Menstruationsblutung nicht abfließen konnte. Seit 1996 ist die Beschneidung der äußeren Geschlechtsorgane in Burkina Faso verboten, doch sie wird in den ländlichen Regionen noch häufig durchgeführt. Die Prozedur selbst und ihre Folgen sind auch wahnsinnig gefährlich, vor allem unter der Geburt. Denn manchmal ist es gar nicht möglich, mit den beigebrachten Verletzungen ein Kind auf die Welt zu bringen. Und nicht alle Frauen können sich einen Kaiserschnitt leisten. Es ist einfach schlimm.“

Tastsinn und Gehör statt Technik

Doch Jennifer Eisenhardt nimmt auch schöne und wertvolle Erinnerungen mit zurück in die Heimat. „Es war wirklich beeindruckend, wie gut die Hebammen dort ihre Arbeit beherrschen. Wir verlassen uns hier mittlerweile auf so viel Technik und Gerätschaft. In Burkina Faso praktizieren die Geburtshelferinnen noch sehr die originäre Hebammentätigkeit und sind so gut darin, verlassen sich auf ihren Tastsinn und ihr Gehör.“

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Fähigkeiten, die auch Jennifer Eisenhardt beherrscht, und die sie in Afrika neu zu schätzen gelernt hat. „Ich vertraue mir selbst und meinen Händen wieder viel mehr. Davon profitieren auch die Frauen, die ich hier in Deutschland betreue. Ich weiß aber auch die Überversorgung, die es hier für Schwangeren gibt, teilweise wieder mehr zu schätzen. In Burkina Faso habe ich erlebt, wie Frauen und Kinder unter der Geburt oder im Wochenbett gestorben sind, meist, weil sie viel zu spät ins Krankenhaus kamen. In Deutschland finden so viele Untersuchungen statt, die vielleicht nicht alle notwendig sind. Aber dass ein Kind oder eine Mutter stirbt, wird mir hier so schnell nicht wieder begegnen.“

Burkino Faso

Burkina Faso, übersetzt Land des aufrichtigen Menschen, ist ein westafrikanischer Staat. Seine Unabhängigkeit erlangte das Land 1960. Bis 1984 wurde der Name Obervolta, den es in seiner Zeit als französische Kolonie erhielt, verwendet. Hauptstadt des rund 20,1 Millionen Einwohner zählenden Landes ist die Millionenstadt Ouagadougou.

Der vorwiegend flache Binnenstaat ist durch tropisches Klima und verschiedenartige Savannenlandschaften geprägt. In Burkina Faso werden etwa 60 einheimische Sprachen gesprochen. Der Islam ist neben den traditionellen Glaubensvorstellungen die meistpraktizierte Religion.

Burkina Faso gehört zu den ärmsten Ländern der Welt, zeichnet sich heute aber durch eine gewisse Stabilität der friedlich zusammenlebenden Ethnien aus. Regelmäßig wiederkehrende Dürreperioden sorgen oft für große Not der hauptsächlich als Bauern lebenden Bevölkerung.

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