Dortmund. Gestern waren Senioren Stützen der Gesellschaft, in der Coronakrise zählen alle zur Risikogruppe. Das führt zu Diskriminierung und Konflikten.
Jeden Tag walkt Karla Wesche-Thomas sieben bis neun Kilometer. „Ich habe seit 20 Jahren keine Erkältung gehabt“, sagt die Essenerin, die am Dienstag 65 wird. Sie sieht sich nicht als besonders gefährdet. „Ich fühle mich topfit – und mein Sohn erzählt mir, ich gehöre zur Risikogruppe. Da könnte ich verrückt werden.“
Vor wenigen Wochen waren viele Senioren noch große Stützen der Gesellschaft, sie haben auf ihre Enkel aufgepasst, gearbeitet oder sich ehrenamtlich engagiert. Jetzt sagen die erwachsenen Kinder: „Du musst Abstand halten! Wir kaufen für dich ein! Bitte bleib zu Hause!“ Mit der Corona-Krise gelten Ältere plötzlich als hilfsbedürftig und schützenswert – gleichgültig wie fit sie sind. Ab 60 Jahren werden sie pauschal ein Teil der Risikogruppe, die besonders gefährdet ist, an Covid-19 zu erkranken. Das verunsichert Senioren ebenso wie erwachsene Kinder, die sich auf einmal um die doch eigentlich oft gesunden Mütter und Väter ängstigen.
Alter ist nur ein Faktor, Vorerkrankungen zählen auch
„Gerade die Generation 60 plus und Menschen mit Vorerkrankungen sind von dem Virus besonders betroffen. Verzichten Sie deshalb auf Treffen mit Freunden, Bekannten oder der Familie“, schrieb Anfang April der Essener Oberbürgermeister Thomas Kufen in einem Brief, der ausschließlich an die älteren Bürger der Stadt ging. Ein Schreiben, aus dem viel Fürsorge spricht.
Doch solche Pauschalisierungen – Generation 60 plus – verändert auch unser Bild vom Alter, so Barbara Eifert, Sozialwissenschaftlerin am Institut für Gerontologie (Alterswissenschaft) an der Uni Dortmund, die sich wünscht, dass man sprachlich sensibel damit umgeht: „Das ist bedrückend, wenn in öffentlichen Diskussionen das Alter als Hauptargument genommen wird. Zum einen stimmt das nicht, zum anderen birgt das die Gefahr für Altersdiskriminierung“, so die 57-Jährige, die seit rund 20 Jahren die Landesseniorenvertretung NRW berät. Das chronologische Alter dürfe nicht das alleinige Kriterium für Ausschlüsse sein. Ob jemand besonders stark gefährdet ist, habe auch etwas mit Grunderkrankungen zu tun. „Es kommt auf die individuellen Voraussetzungen an.“
Brief vom Oberbürgermeister Thomas Kufen: Ich ermutige Sie, die Hilfe anzunehmen
OB Thomas Kufen schreibt weiter, dass er sich über die Solidarität in der Stadt freue: „Deshalb möchte ich Sie ermutigen, diese Hilfen anzunehmen. Lassen Sie Ihre Nachbarn, Freunde oder Freiwillige beispielsweise Ihre Einkäufe oder Hundespaziergänge übernehmen.“ Auch in anderen Städten ist die Hilfsbereitschaft groß. Doch Organisationen melden, dass es mehr Freiwillige gebe als Leute, die die Hilfe in Anspruch nehmen möchten. In Essen, erklärt die Ehrenamt-Agentur, kommt auf zehn Freiwillige nur ein Hilfesuchender.
Karla Wesche-Thomas zu diesem Angebot: „Das würde ich nicht wollen. Ich halte den nötigen Mindestabstand, ich habe die Maske auf und ich gehe einkaufen – ja, sicher!“
Das passt nicht zur Vorstellung vom aktiven Alter
„In dem Moment, wo ich mir helfen lasse, gestehe ich ja eine Schwäche ein“, sagt Barbara Eifert. Und diese Schwäche passe nicht zu unserer heutigen Vorstellung vom aktiven Alter. Viele ältere Menschen empfinden sich nicht als alt. Selbst wenn sie mehrere Vorerkrankungen haben, sehen sich einige nicht als gefährdet. „Das ist auch ein Schutzmechanismus“, so Eifert. Es mindert die Angst, wenn man sich nicht zur Risikogruppe zählt.
„Für viele Menschen gehört das zum Rhythmus des Lebens, regelmäßig einkaufen zu gehen“, sagt Familientherapeutin Anke Meissner aus Düsseldorf. Man könne die Hilfe nur anbieten, so die 51-Jährige. Aber wenn jemand weiterhin selbstbestimmt und unter allen gebotenen Vorsichtsmaßnahmen, vom Abstand halten bis zum gründlichen Händewaschen, für sich sorgen möchte, könne man das nicht verbieten. „Hilfe ist nicht auf Augenhöhe“, sagt Eifert. Selbst wenn der gute Wille, einen anderen zu schützen, dahinter steht, kann das als Bevormundung empfunden werden.
Ärger mit Mutter und Vater, weil die Sorge groß ist
Für erwachsene Kinder ist das ein Dilemma. Viele möchten ihre Eltern schützen, aber nicht alle wollen beschützt werden. Sie arbeiten im Homeoffice, betreuen die Kinder, bangen um ihre Existenz – und dann machen sie sich nun noch Sorgen um die Eltern. Hatten sie Mutter und Vater bisher als Fels in der Brandung wahrgenommen, kommt ein weiterer Aspekt hinzu, den man bisher erfolgreich verdrängt hat: „Nämlich der Gedanke, dass meine Eltern sterben könnten“, so Meissner. „Und das macht Angst.“
Dieses Gefühl, sich kümmern zu müssen, entsteht sonst erst, wenn Eltern gebrechlich sind und nicht mehr für sich sorgen können. „Das beginnt nun viel früher“, hat die Systemische Therapeutin beobachtet. „Da sorgen sich schon Kinder, deren Mütter und Väter erst zwischen Mitte 50 und 60 sind und deren Eltern auch noch leben. Und die sind dann ganz irritiert, wenn sie feststellen, wie sich das anfühlt, wenn die jüngere Generation in so einer Sorge möglicherweise überreagiert.“
Dass Karla Wesche-Thomas zurzeit ihren Enkel nur über Videotelefonie sehen kann, findet sie am schlimmsten. Aber sie versteht die Vorsicht auch und lenkt den Blick aufs Positive: „Bei uns gibt es ja keine Ausgangssperre. Wir können uns bewegen.“
Ohne Streit durch die Krise - Familientherapeutin gibt Tipps
Was können erwachsene Kinder tun, wenn sie sich um die Eltern sorgen und sich wünschen, dass sie etwa nicht in den Supermarkt gehen, aus Angst, sie könnten sich mit dem Virus anstecken?
Ich muss sicher sein, dass meine Eltern alle Fakten, die ich für wichtig halte, auch wirklich wissen. Wenn sie sagen: ,Das wissen wir alles, das haben wir berücksichtigt.’ Dann kann ich sagen: ,Ich mache mir Sorgen um Euch, ich habe Angst um Euch.’ Dann können sie überlegen, es mir zuliebe nicht zu machen. Aber wenn sie dann trotzdem eine andere Entscheidung treffen, dann muss ich das akzeptieren.
Und wenn die erwachsenen Kinder die Eltern bedrängen: ,Wir bringen alle Opfer, damit ihr gesund bleibt.’ Wie können Ältere damit umgehen?
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Wichtig ist, dass die Eltern erkennen, was dahintersteckt: In der Regel sagen die Kinder das nicht aus Böswilligkeit, sondern aus Liebe. Die Älteren können ihre Bedürfnisse mitteilen und welche Vorsichtsmaßnahmen sie treffen, etwa dass sie nicht mit der Straßenbahn fahren, sondern zu Fuß gehen. Vielleicht ist das die Info, die die Kinder brauchen.
Wie gelingen auch in der Krise die Beziehungen zwischen Jung und Alt?
Eine gute Beziehung zum Partner, den Kindern oder zu den Eltern besteht immer aus zwei Elementen. Das eine: Ich bin für dich da! Auch in der Krise halten wir Kontakt. Das andere: Loslassen! Ich muss dem anderen seine Eigenständigkeit ermöglichen. Beides muss im Gleichgewicht sein. Wenn wir dieses Loslassen vergessen, aus der Sorge heraus, es könnte etwas Schlimmes passieren, ist das eine verständliche Reaktion, aber das tut auf Dauer einer Beziehung nicht gut.