Dortmund. Wie eine Kreissäge, die keiner abstellt, so erlebte Fred Podszus aus Dortmund das Ohrgeräusch. Doch er hat gelernt, mit dem Tinnitus zu leben.

Ein Pfeifen im Ohr, das kennt ja jeder. Auch Fred Podszus hört es vor rund 20 Jahren immer mal wieder. Es kommt und geht. „Weg da, du störst mich nur“, denkt sich der Technik-Projektleiter einer größeren Firma, wenn es mal wieder lästig piept. Aber das Geräusch lässt sich nicht verscheuchen. Im Gegenteil, es meldet sich mit voller Wucht zurück. „Wie eine Kreissäge im Kopf“, vergleicht der Dortmunder den lästigen Ton, der an seinen Nerven sägt. Und diese Kreissäge lässt sich nicht mehr abstellen.

Wenn es ganz ruhig um ihn wird, hört Fred Podszus auch heute noch den lästigen Ton. Aber er überlässt ihm nicht mehr die Führung, sondern stellt lieber das Radio ein.
Wenn es ganz ruhig um ihn wird, hört Fred Podszus auch heute noch den lästigen Ton. Aber er überlässt ihm nicht mehr die Führung, sondern stellt lieber das Radio ein. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Fred Podszus kann sich bei der Arbeit nur noch schwer konzentrieren, der Tinnitus lenkt ihn ab. „Wie ein lautes Radio, das ständig läuft und einen von der Arbeit abhält.“ Er geht zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt, bekommt Infusionen, die die Durchblutung fördern. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten nicht. „Es hat nicht geholfen“, sagt der heute 62-Jährige. Er geht zum nächsten HNO-Arzt, zum nächsten. Fred Podszus formuliert es freundlich: „Der ein oder andere hatte andere Schwerpunkte.“

Eine Ärztin, der er vertraut

Später trifft er auf eine Ärztin, bei der er endlich das Gefühl hat, angekommen zu sein. Aber auch sie kann seinen Tinnitus nicht zum Schweigen bringen. „Das stört, das muss weg“, denkt er. „Wenn ein Arm gebrochen ist, kann man ihn schienen und irgendwann ist alles wieder gut. Bei Tinnitus ist das anders.“ Es gibt keine Schiene, die den Tinnitus heilt. Und trotzdem ist Fred Podszus‘ Leben wieder gut geworden – wenn auch dieses „gut“ anders ist, als er es sich anfangs vorgestellt hat.

Einen gebrochenen Arm kann man auch Freunden und Kollegen zeigen. Ein Geräusch im Kopf nicht. Fred Podszus ist trotzdem dankbar, dass die Menschen um ihn herum Verständnis zeigen, in Konferenzen darauf achten, nicht wild durcheinander zu sprechen. Er weiß von anderen Betroffenen, die zu hören bekommen: „Stell dich nicht so an!“

In der Zeitung liest er von einer Tinnitus-Selbsthilfegruppe – und zweifelt. Mit 50 Jahren steht man doch mitten im Leben und geht nicht in eine Selbsthilfegruppe. „Heute weiß ich: Der Leidensdruck muss erst groß genug sein, um aktiv zu werden.“ Er hat es nicht bereut. Sofort fühlt er sich verstanden, ohne erklären zu müssen, was ihn quält. In der Gruppe gilt: Kein Wort verlässt den Raum. Dieses Versprechen hilft ihm, sich zu öffnen.

Anfangs verzweifelt, nie wieder Stille wahrnehmen zu können

Er sieht, dass andere den gleichen Weg gegangen sind. Anfangs verzweifelt waren, nie wieder Stille wahrzunehmen. Die aber wieder lachen können, das Leben genießen. Er lernt, nicht mehr morgens nach dem Aufwachen sofort zu suchen: Ist der Tinnitus noch da? „Da macht man sich wieder verrückt.“

Er nimmt die Tipps wie ein Schwamm auf: Warst du schon beim Neurologen, beim Orthopäden? Vielleicht hast du auch Kieferprobleme? Aber der beste Rat sei der gewesen, eine Reha zu beantragen. Über die Deutsche Tinnitus-Liga, eine Patientenorganisation, erfährt er, wie er den Antrag stellt und welche Kliniken in Frage kommen.

In der Reha-Klinik in Bad Berleburg stellt man eine leichte Schwerhörigkeit bei ihm fest. Später trägt er Hörgeräte, die ihn wieder Geräusche besser hören lassen – und damit das eigene im Kopf weniger. Die Worte der Ärzte lassen ihn anfangs schlucken: „Wer glaubt, er fährt hier ohne Tinnitus wieder nach Hause, ist hier fehl am Platz.“ Hart ist das. Und doch lernt er so schnell den richtigen Weg: Akzeptanz statt Kampf.

Bei Tinnitus hilft Akzeptanz statt Kampf

„Der Tinnitus gehört jetzt zu mir. Und ich gucke, wie ich mit ihm umgehe.“ Ablenkung heißt das Zauberwort. Er macht Nordic Walking. Nachdem er durch die Natur gewandert ist, denkt er: „Wo war denn gerade der Tinnitus?“ Er war da, er ist da, er bleibt da – aber Fred Podszus hat ihn in diesem Moment nicht mehr wahrgenommen. Dafür das Licht am Ende des Tunnels, und bald die Gewissheit: Mit Tinnitus kann man sehr gut leben.

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Das alles ist nun gut zehn Jahre her. Abends im Bett, wenn es still ist und es keine Ablenkung gibt, meldet sich das Geräusch auch heute zurück. Zum Einschlafen hört Fred Podszus daher Radio. Tagsüber geht der Rentner gerne in seinen Garten. Da zwitschern nicht nur die Vögel, da überlegt er auch, was er als nächstes pflanzt. Oder er lauscht gebannt einem spannenden Hörbuch, backt in der Küche ein Brot und konzentriert sich auf das Abmessen der Zutaten. Das sind viele Gedanken, die wenig Platz im Kopf lassen für das unliebsame Geräusch.

Heute als ehrenamtliches Mitglied der Dortmunder Selbsthilfegruppe macht er mit anderen Betroffenen, die meinen, nicht mit Tinnitus leben zu können, schon mal einen Test. Dann gibt er ihnen einen Text mit der Bitte, den Buchstaben A darin zu zählen. Die Zahl, die dabei herauskommt, ist ihm herzlich egal, erzählt er lachend. Stattdessen fragt er: „Und wo war dein Tinnitus in den letzten Minuten?“ Und die Person, die sich gerade aufs Zählen konzentriert hat, sagt erstaunt: „Ich habe ihn nicht gehört.“

Am ersten Dienstag im Monat, 19.30 – 21 Uhr, sind Gäste auch mit Hyperakusis, Geräusch-Überempfindlichkeit, oder Morbus Menière (Drehschwindel) willkommen (Wegen der Corona-Krise pausiert die Selbsthilfegruppe.) Anmeldung bitte unter: tinnitus-selbsthilfe-dortmund.de