Essen. Drei Millionen Menschen in Deutschland haben chronischen Tinnitus. Ein Experte: Warum manche unter dem Ohrgeräusch leiden, andere es überhören.
Stress wird schnell verantwortlich gemacht für viele Leiden. Auch für Tinnitus. Es spielt zwar bei Ohrgeräuschen ebenfalls eine Rolle, ob man sich ständig zu viel zumutet und stark verspannt ist. Aber der Stress allein lässt noch nicht auf Dauer Piepsen oder Rauschen entstehen. Die Hauptursache für das lästige Geräusch ist laut Experte Matthias Rudolph bei den meisten Menschen eine andere: „Das ist ganz klar die Schwerhörigkeit.“
Oft würde dieser leichte Hörverlust nicht mal bemerkt. Aber er reiche aus, dass ein Mensch quasi sein Radar verstärkt, um dadurch Signale von außen besser zu hören. Zugleich werden bestimmte Nervenzellen im Gehirn besonders empfindsam – der Patient nimmt dies als Geräusch wahr.
Anfangs, wenn der akute Tinnitus auch nach ausreichend Schlaf nicht weggeht, sollte man innerhalb von 48 Stunden einen HNO-Arzt aufsuchen. Dann könnte etwa Cortison helfen. Allerdings ist das umstritten.
Ärzte sollten einfühlsamer sein
Rudolph wünscht sich von anderen Ärzten, dass sie nicht sagen: „Da kann man nichts machen.“ So etwas lasse Patienten verzweifeln. „Der erste Schritt ist Aufklärung, Information, Beruhigung.“ Denn anfangs sind die Menschen verunsichert, haben Angst, dass das Geräusch ein Symptom einer schlimmen Krankheit ist. „Solange ich denke, es ist etwas Gefährliches, kann ich es nicht ausblenden.“
Wenn die Geräusche länger als drei Monate andauern, also chronisch sind, helfe kein Medikament mehr, den Tinnitus ganz verschwinden zu lassen. Auch wenn „Dr. Google“ etwas anderes behauptet? „Das ist immer Betrug“, so das Mitglied im fachlichen Beirat der Deutschen Tinnitus-Liga.
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Rund drei Millionen Menschen in Deutschland haben chronischen Tinnitus. „Und nur ungefähr die Hälfte leidet darunter“, sagt der 53-Jährige. Unabhängig von der Art des Geräuschs oder wie laut es ist. Warum können einige damit gut leben und andere nicht? „Der Umgang mit dem Tinnitus ist ein anderer“, so der Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. „Je intensiver ich dagegen ankämpfe, umso mehr unterliege ich.“ Menschen, die mit Tinnitus gut leben, nehmen ihn kaum wahr – genauso wenig wie eine Brille auf der Nase.
Viele finden die Vorstellung, nie wieder Stille zu hören, bedrückend. „Dabei gilt nun der Grundsatz: Nicht der Tinnitus, sondern die Stille ist der Feind.“ Statt am Ohrgeräusch zu verzweifeln, lieber Schönes hören. Ein teures Tinnitusgerät sei nicht nötig. Musik oder Meeresrauschen vom Handy tun es auch. Man sollte sich bei Bedarf Hörgeräte zulegen, um andere Geräusche mehr und das eigene weniger wahrzunehmen. Das funktioniere wie ein Teelicht, das nur im abgedunkelten Raum stark scheint. „Wenn sie die Vorhänge aufziehen, bleibt der Lichtschein der Kerze, aber Sie sehen ihn nicht mehr, weil es jetzt im Raum ganz hell ist vom Sonnenlicht.“