Bergkamen. Bei vielen Stoffen spielt Bozena Jentszcoks Haut verrückt. Jedoch nicht bei dem Klassiker Leinen. Heute hat sie ihr eigenes Mode-Label „36 Grad“.
Wenn Bozena Jentszcok früher einen Einkaufsbummel gemacht hat, glich das Shoppen dem Russischen Roulette. Wird sie die Bluse tragen können? Oder wird ihre Haut wieder verrückt spielen? Nach gut zwei Stunden Tragezeit hatte sie die Antwort: „Es hat alles gejuckt!“
Die 44-Jährige leidet an der Krankheit Mastozytose, bei der sie auf viele Stoffe, insbesondere chemisch hergestellte oder bearbeitete, allergisch reagiert. Selbst natürliche Baumwolle war keine Garantie fürs Wohlgefühl. Denn Baumwolle ist nicht immer reine Baumwolle. Und sie konnte mit fiesen Farben gefärbt sein. Wenn dann noch das Shirt mit einem Containerschiff aus Asien kam, schützte zwar oft Anti-Schimmel-Spray das Kleidungsstück, ihre Haut war aber bald wieder von Flecken übersät.
Eines Tages machte sie Urlaub in Polen, in ihrer früheren Heimat, aus der sie mit 15 Jahren nach Deutschland kam. Sie entdeckte eine Firma, die hübsche Kleidung aus Bio-Leinen herstellte. Der Stoff wurde vor dem Einzug der Baumwolle oft und gerne getragen. Heute aber macht er nur noch einen winzigen Teil der Stoff-Vielfalt aus. Für Bozena Jentszcok ging ein Traum in Erfüllung: Schöne Blusen und Hosen, die sich gut auf der Haut anfühlen. Kein Jucken, kein Kratzen.
Geradliniger Stil
Zurück in Deutschland schaute sie sich nach weiteren Leinen-Sachen um. „Ich habe nichts gefunden.“ Zumindest nichts, was ihrem geradlinigen Stil entsprach. Und so entstand die Idee: Ich mache meine Mode selber!
Eigentlich hat sie von Fashion nur so viel Ahnung wie viele Menschen, die sich Gedanken über ihr Auftreten machen. Sie hat lange Zeit als Bürokauffrau in der Versicherungsbranche gearbeitet und sich dann als Personal-Vermittlerin selbstständig gemacht.
Den Job übt sie heute noch aus. Aber 2018 fragte sie auch bei der Firma in Polen an – und die willigte ein, zusammenzuarbeiten. Bozena Jentszcok liefert die Ideen für das Label „36° Organic Line“, eine Designerin vor Ort ergänzt. Die Kleidung sei ohne Schnickschnack – und so, dass sie selbst sie tragen würde. Im selben Jahr war Bozena Jentszcok bereits mit den ersten Teilen auf der Fashion Week in Berlin.
Geregelte Arbeitszeiten
Sie könne jederzeit unangemeldet in die Firma fahren. „Die Näherinnen haben einen Acht-Stunden-Tag.“ Sie arbeiteten an uralten Nähmaschinen, die dem festen Leinenstoff gewachsen seien. „Das ist wie in den 50er-Jahren.“ Die Frauen hörten beim Nähen Radio oder würden zusammen singen. „Da sind keine Kinder – das ist sehr beruhigend.“
Welcher Stoff es sein soll, kann die Frau aus Bergkamen ebenfalls vor Ort aussuchen. Denn Leinen ist nicht gleich Leinen. Der Stoff, aus dem ihre Mode ist, sei in Polen produzierter Bio-Leinen. Der blaublühende Flachs liefert eben nicht nur Leinsamen und -öl, aus der Pflanze werden auch Fasern gewonnen.
Man kann Leinen sowohl sommerlich dünn herstellen als auch winterlich dick. Die 26-jährige freiberufliche Social-Media-Managerin Cassandra Andruszko, die 36° beim Marketing unterstützt, schlüpft in eine beigefarbene Jacke mit Kapuze (139 €). Der Stoff hat eine so genannte Waffeloptik – da sieht man keine Haut durch.
Nahezu knitterfreies Leinen
Dass Leinen immer durchsichtig ist, ist nur ein Vorurteil von vielen, mit dem Bozena Jentszcok aufräumt. Auch sehen ihre Kleider nicht gleich knuddelig aus, wenn sie sich einmal damit gesetzt hat. Denn der Stoff werde mit einer speziellen Technik, einem mehrfachen Waschen, härter gemacht. Dadurch knittere er nicht mehr so stark.
Leinen sei zwar nicht so elastisch wie manche Kunstfaser, aber sehr reißfest. Für Socken würde sich der Stoff jedoch ausnahmsweise mal nicht pur eignen. So enthalten ihre Socken auch Baumwolle und einen kleinen Anteil elastisches Lycra (Zwei Paar Socken: 10,80 €).
Der Klassiker unter der Leinen-Kleidung ist die weiße Bluse. Die hat Bozena Jentszcok ebenfalls im Programm. Etwa als bürotaugliches Hemd „Lola“. Oder mit verspielten Glockenärmeln – Bluse „Mandy“ (je 109 €). Aber Leinen muss nicht weiß sein. Auf dem Etui-Kleid mit Taschen flattern mal braune Federn oder blühen rote Blumen (119 €).
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„Das sind ökologische Farben“, sagt Bozena Jentszcok und nennt einen weiteren Vorteil von Leinen: „Leinenkleidung hält die Körpertemperatur. Es wird nicht zu warm, nicht zu kalt.“ Daher nennt sie ihr Label auch 36 Grad. „Man schwitzt in Leinen nicht.“ Daher müsse man die Textilien nicht so oft waschen. „Das ist auch gut für die Umwelt.“
Und noch etwas gefällt ihr an Leinen: Wenn Bozena Jentszcok im Urlaub am Strand ihre pustelfreie Haut zeigt, muss sie sich nicht sorgen, ob das Kleid schmutzig wird. Sie klopft es einfach ab. „Der Sand bleibt nicht daran kleben.“
>> Das Lieblingsteil
Gerade geschnitten, aber nicht zu eng, und knallrot: So sieht Bozena Jentszcoks Lieblingsteil aus. Die raffinierten Ärmel machen aus dem schlichten Kleid etwas Besonderes. Ein kreisförmiger Aufdruck zeigt das Label „Karl Lagerfeld“. Das Kleid ist aus Baumwolle. Den Naturstoff verträgt die 44-Jährige auch, wenn die Farbe keine Chemiekeule ist. Entdeckt hat sie das Kleid in einem Laden auf ihrer liebsten Insel: Fuerteventura.
>> Der Stylingtipp
„Egal, was du dir kaufst, achte darauf, dass du ein Teil zu verschiedenen Sachentragen kannst“, lautet Bozena Jentszcoks Tipp, den sie beim Einkaufen auch ihren Freundinnen gibt. Sie selbst beherzigt ihn ebenfalls. Zu einem Kleid zieht sie mal Highheels an, mal Sneaker. Eine schlichte weiße Bluse funktioniert mit Blazer sowie mit Jeansjacke oder einfach solo vor dem Bauch geknotet. So lässt sich ein Teil zu verschiedenen Anlässen tragen – und insgesamt benötigt man weniger Klamotten im Kleiderschrank.
Die Kleidung von „36° Organic Line“ gibt es online: 36-grad.com