Essen. Während die Politik noch diskutiert, ob Deutschland Kinder aus griechischen Flüchtlingscamps aufnimmt, sorgen Privatleute aus NRW für Hilfe.

Dass ihre Spendenaktion solche Dimensionen annimmt, haben sie nicht erwartet: Nach nur zwei Tagen standen Thomas Siepmann (53), Frank Toubartz (54) und Fred Bothen (50) vor einem Berg von Zelten, Schlafsäcken, Spielzeug und Kleidung. Mehr als zwölf Tonnen Material, gespendet von Menschen aus dem Revier für das griechische Flüchtlingscamp „Moria“ auf der Insel Lesbos. Doch der Reihe nach...

Tag 1

Zweiter Weihnachtstag. Geschenke, gutes Essen. In einer ruhigen Minute nimmt Thomas Siepmann sein Handy, öffnet Facebook: „Da habe ich zum ersten Mal dieses Bild gesehen: ein kleines Mädchen mit rosafarbenem Regencape in einem Flüchtlingscamp. Das hat etwas in mir ausgelöst – und ich hatte zehn Tage frei.“ Abends wählt Siepmann die Nummer seines Kumpels Fred Bothen. „Pass auf“, sagt er. „Wir mieten einen Lkw, machen einen Spendenaufruf, und wenn die Karre voll ist, fahren wir nach Moria.“ Fred überlegt nicht lange: „Bin dabei.“ Der nächste Anruf erreicht Frank Toubartz. Als er von der Idee seiner Freunde hört, sagt er: „Das macht Ihr nicht alleine. Ich komm mit.“

Tag 2

Team-Treffen. Das Trio, zwei Unternehmer und ein Manager, kontaktiert Hilfsorganisationen, recherchiert im Netz, hängt am Telefon. Schließlich steht der Kontakt zu einem Flüchtlingshelfer, Ali. „Was braucht Ihr am dringendsten?“, fragen die Essener. Zunächst ist Ali skeptisch. Zu oft rufen Menschen an, die helfen wollen, sich dann aber nie wieder melden. „Wie konkret ist Euer Angebot?“, fragt der Mann. „Sehr konkret!“.

Tag 3

Siepmann, Toubartz und Bothen wollen einen Lkw mieten. Sie erfahren: „Viele Leihfahrzeuge dürfen nicht durch Osteuropa. Es dauert, bis sie einen Verleiher finden. Zugleich planen sie ihre Route, organisieren Dokumente, buchen die Fähre nach Lesbos. Ihre Familien melden sich zu Wort: „Ist das überhaupt sicher, was Ihr da vorhabt?“.

Tag 4

18.28 Uhr. Die Facebook-Seite „Ein Herz für Moria“ ist online. Die drei Essener veröffentlichen ihren Spendenaufruf. Die Seite hat bald mehr als 1000 „Likes“, der Aufruf wird mehr als 450 Mal geteilt und erreicht über 100.000 Menschen.

Tag 5

Ab 12 Uhr werden Spenden angenommen – und die Menschen kommen mit großen Säcken, teils werden ganze Kofferräume geleert. „Wir dachten: Wenn das so weitergeht, wird das nicht zu beherrschen sein“, sagt Siepmann. Dann kamen die Zeitung, das Radio und das Fernsehen. „Das hat noch einmal jede Menge Menschen mobilisiert. Viele wollten einfach nur Sachen vorbeibringen – sind dann aber geblieben, um uns beim Sortieren und Packen zu helfen“, sagt Siepmann. „Und dann kam da noch dieser Mann, der spontan angeboten hat, mit uns nach Griechenland zu fahren, mit eigenem Lkw und einem Beifahrer“, sagt Siepmann. Der Mann – das war der Essener Bäcker Klaus Peter.

Tag 6

Die Spender stehen Schlange, ein Verkehrschaos droht. „Es sah aus, als hätten die Leute ganze Sportgeschäfte leergekauft“, sagt Siepmann. „Wir haben sehr viel Neuware bekommen.“ Um 14 Uhr posten die Initiatoren, dass sie keine Spenden mehr annehmen können. „Wir sind mit Sachspenden völlig überflutet worden – und es kamen immer noch Menschen.“

Tag 7

Neujahr, 2 Uhr. Abfahrt. Thomas Siepmann versucht, ein paar Stunden zu schlafen. Er liegt inmitten der Spendenberge auf der Lkw-Ladefläche. „Es war -6 Grad kalt“, sagt er, „da bekam ich eine Vorstellung davon, wie sich die Menschen in den Lagern fühlen.“ Der Lkw rollt durch Österreich, Ungarn und Serbien in Richtung Thessaloniki, dann weiter zur Hafenstadt Kavala.

Tag 8

7 Uhr. In letzter Minute erreichen die Essener nach fast 30 Stunden das Schiff nach Lesbos. „Wir hatten drei Stunden Puffer eingeplant, doch wir wurden an der serbischen Grenze aufgehalten“, berichtet Siepmann. Angeblich seien die Papiere nicht in Ordnung, hieß es. „Hier machte sich die zehnjährige Balkan-Erfahrung von Frank bezahlt, nach zweistündiger, kreativer Verhandlung durften wir einreisen.“ Bei der Ausreise wieder Probleme: Die Grenze ist nicht besetzt. „Das hat erneut wertvolle Zeit gekostet.“

Tag 9

Aus der Luft wirkt Moria fast wie eine Ferienanlage. Geplant war das Lager für 3000 Menschen, inzwischen leben dort circa 19.000.
Aus der Luft wirkt Moria fast wie eine Ferienanlage. Geplant war das Lager für 3000 Menschen, inzwischen leben dort circa 19.000. © imago images/ITAR-TASS | Valery Sharifulin via www.imago-images.de

Die Essener Lkw sind in Mytilini auf Lesbos angekommen und parken vor der Lagerhalle der NGO „Movement on the Ground“. Freiwillige verteilen von dort aus die Spenden direkt in die Camps. Siepmann, Toubartz, Bothen und Peter überreichen rund 400 Schlafsäcke, 300 Isomatten und 100 Zelte. Außerdem Planen und Kinderkleidung. Dann fahren sie zum Lager „Kapa Tepe“. Es wird von der niederländischen Organisation „Because we Carry“ betreut. „Ein sehr ordentliches Camp“, sagt Siepmann. Die Einrichtung ist speziell für Familien mit kleinen Kindern und schwangere Frauen. Am Nachmittag geht es weiter nach Moria. „Das Lager ist mit Stacheldraht umzäunt“, sagt Siepmann. „Drumherum sind wilde Camps, die von Hilfsorganisationen betreut werden.“ Die Helfer sorgen unter anderem für Strom und Wasser. Außerdem geben sie Essen aus. „Wenn die NGOs nicht wären, hätten insbesondere die unbegleiteten Kinder kaum eine Überlebenschance in dieser unwirklichen Welt.“

Tag 10

Drei Freunde, eine Mission: Fred Bothen, Thomas Siepmann und Frank Toubartz (v.l.) laden Hilfsgüter in einen Lastwagen.
Drei Freunde, eine Mission: Fred Bothen, Thomas Siepmann und Frank Toubartz (v.l.) laden Hilfsgüter in einen Lastwagen. © dpa | Caroline Seidel

In einer provisorischen Krankenstation erleben die Essener die Hilflosigkeit der Helfer: „Wir haben hier Kinder mit 40 Grad Fieber. Wir können nur versuchen, ihr Fieber zu senken – dann müssen wir sie zurück in ihre nassen Zelte schicken“, sagt die Kinderärztin Kathrin Kandzora, die in ihrem Urlaub ehrenamtlich auf Lesbos arbeitet. Schließlich besucht das Trio auch die berüchtigte „Zone 12“. Dieser Bereich des Lagers wird auch „Dschungel“ genannt. Die Menschen vor Ort haben den Essenern abgeraten, die „Zone 12“ zu betreten – zu gefährlich. Hier wohnen die Ärmsten der Armen, darunter viele Kinder. „Es ist wirklich schlimm“, sagt Siepmann, „die Menschen sind total frustriert. Es mangelt an allem, die hygienischen Bedingungen sind miserabel. In Deutschland würden wir nicht einmal Hunde so halten.“

Tag 11

Rückreise. In Essen liegen noch etwa zehn Tonnen Spenden. Erneut bittet das Trio über Facebook um Hilfe – und die Menschen kommen. Tag für Tag sortieren Helfer die Hilfsgüter. Der Rotary-Club Essen vermittelt den Kontakt zu einem Logistikunternehmen. Dieses schickt seine Azubis und bietet an, die Spenden nach Griechenland zu bringen. Ende der vergangenen Woche sind sie dort angekommen.

„Ein Herz für Moria“ unterstützen

Sachspenden nimmt die Initiative „Ein Herz für Moria“ nicht mehr entgegen. Stattdessen ist in Zusammenarbeit mit der Caritas ein Spendenkonto eingerichtet worden. Bislang sind mehr als 30.000 Euro eingegangen. Das Geld geht zu gleichen Teilen an drei Organisationen, die sich um die Bereiche „Infrastruktur“, „Medizinische Versorgung“ und „Bildung/Freizeitangebote“ verdient machen.

Dies sind die drei Organisationen: „Movement on the Ground“ (movementontheground.com), Kitrinos Healthcare (kitrinoshealthcare.org) und „Because We Carry” (becausewecarry.org).

Spendenkonto: Caritas Flüchtlingshilfe Essen e.V., Stichwort: Ein Herz für Moria, DE45 3606 0295 0000 1026 28.