Altena. In der Kirche in Altena-Evingsen steckt ein Schatz. Eine Turmuhr, zu ihrer Zeit revolutionär und einzigartig, die bis heute pünktlich klingelt.
Schmal und steil ist die Stiege hinauf zum Glockenturm der evangelischen Kirche in Altena-Evingsen. „Keine Sorge, hier ist alles TÜV-geprüft und sicher“, beruhigt Günter Sadowski. Der schlichte Bruchstein-Bau fußt auf einem Bethaus von 1784, dem die Erweiterung zum stattlicheren Kirchengebäude Anfang des 19. Jahrhunderts folgte. Das eigentliche Schmuckstück des Gotteshauses wurde aber dann 1888 in Betrieb genommen – eine für die damalige Zeit hochmoderne Kirchturmuhr mit Glockenschlag, der sich stets zur vollen und halben Stunde klangvoll bemerkbar macht.
Die eigentliche technische Neuerung jedoch steckte im Uhrwerk selbst, das nur einmal wöchentlich aufgezogen werden musste. Und nicht wie bis dahin üblich einmal pro Tag. Und was vor 131 Jahren so revolutionär in Evingsen eingeführt wurde, das hat bis heute an gleicher Stelle noch immer festen Bestand.
Ehrenamtliche Turmuhr-Kümmerer
In den vergangenen 18 Jahren hat sich der Feinmechaniker und Hobby-Uhrmacher Günter Sadowski ehrenamtlich mit dem wöchentlichen Aufziehen um die Kirchturmuhr und damit die ganze Gemeinde verdient gemacht. Seit neun Monaten übernimmt nun Kristian Bockermann diese Aufgabe. Natürlich ebenfalls ehrenamtlich, denn der 49-Jährige ist im Hauptberuf Koch an der Polizeischule Selm im Münsterland, eine Autostunde von Evingsen entfernt.
„Ich habe mich immer schon für Technik interessiert, und zwei linke Hände habe ich auch nicht“, erklärt der frisch gebackene Uhr-Aufzieher und weiß zugleich, dass ihm Günter Sadowski bei kniffligen Reparaturen auch künftig jederzeit zur Seite stehen würde. Doch für gewöhnlich läuft der historische Zeitmesser tadellos und fehlerfrei. „Zehn Sekunden pro Woche geht die Uhr vor oder nach, je nach Witterung“, hat Sadowski im Laufe der Jahre herausgefunden. Und bei jedem neuen Aufziehen wird das Uhrwerk entsprechend justiert.
Von Schrauben und Muttern
Dann müssen ein paar Schrauben und Muttern im richtigen Verhältnis gelöst werden – und schon tickt das komplexe Zahnradsystem wieder exakt genau. „Die Menschen rund um unsere Kirche richten sich nach wie vor an der Turmuhr“, weiß Günter Sadowski um das Vertrauen, das man auch im digitalen Zeitalter noch immer in die beiden Ehrenamtlichen und ihr so treu tickendes Kleinod setzt. Einmal aber hätte der zuverlässige Günter das Aufziehen doch fast vergessen: „Mitten in der Nacht ist es mir eingefallen, und ich bin in Pantoffeln und Schlafanzug schnell hinüber und den Turm hinauf“, erinnert er sich noch lebhaft an die ebenso dunkle wie kalte Sonderschicht.
Dabei ist die zuverlässige Uhr der Firma Weule aus dem Landkreis Hildesheim extra mit einer Laufzeitreserve von 24 Stunden ausgerüstet. Danach aber ginge nichts mehr, und wenn das Uhrwerk einmal länger still stehen würde, käme es wohl zu unabsehbaren Schäden, befürchtet Sadowski.
Das Aufziehen des Uhr- und Schlagwerks ist dabei eine wirklich mühevolle Angelegenheit. Zwei Gewichte von je 70 Kilo müssen mehrere Meter hoch durch einen Holzschacht im Turminneren per Kurbel an Seilen heraufgedreht werden. Das geht tüchtig in die Arme und erfordert buchstäblich den ganzen (kräftigen) Mann.
Bekannt durch die Acht-Tage-Uhr
Johann Friedrich Weule (1811-1897) war damals der findige Entwickler der Sieben-, bzw. sogar Acht-Tage-Uhr. Damit wurde er nicht nur in Deutschland, sondern in aller Welt bekannt.
Und bis 1966 konnte sich seine Fabrik im heutigen Niedersachsen auch noch halten; dann aber kamen neue Techniken, die die Weule-Nachfahren aus dem wirtschaftlichen Rennen warfen.
Die Umstellungen zur Winter- und Sommerzeit ist für die altehrwürdige Kirchturmuhr übrigens nicht gerade ideal. In dem einen Fall muss sie per Hand eine Stunde angehalten, im anderen mühsam um eine Stunde vorgestellt werden. Das ist aufwändig und braucht geübte Hände sowie ein Smartphone mit Digitaluhr als zeitgemäßes Hilfsmittel. Auf die Sekunde genau wird danach wieder justiert, um keine Zeit-Irritationen im Dorf aufkommen zu lassen.
Ein paar Tropfen Öl genügen
Regelmäßig braucht das Uhrwerk in den Laufbüchsen auch auf ein paar Tropfen Öl, um geschmeidig zu bleiben. „Bloß nicht zu viel“, betont Sadowski, denn wenn es tropft, kann die ganze Mechanik schnell und nachhaltig Schaden nehmen.
Erst vor wenigen Wochen haben Kristian Bockermann und Günter Sadowski ganz hinten im hölzernen Uhrenschrank die Original-Gebrauchsanleitung gefunden. Die war irgendwann einmal vom Nagel an der Wand gerutscht und galt über viele Jahrzehnte als für immer verschollen. Kristian Bockermann hat sie ins Heimatarchiv nach Altena gebracht, vorher aber noch fotokopiert: „Demnächst schreibe ich den Text fein säuberlich in hochdeutsch ab, denn auf dem alten Dokument steht noch alles in Sütterlinschrift, und das kann ja heute kaum noch jemand entziffern“, sorgt er sich.
Doch solange das geschichtsbeflissene Tandem Sadowski/Bockermann noch zuverlässig jede Woche die Kurbel dreht, muss sich wirklich niemand um die genaue Zeit in Altena-Evingsen Sorgen machen.
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